Sibel Schick

Hallo, hört mich jemand?


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Eine Antwort auf Cigdem Toprak

       Scham, Schmerz, Wände, Wurzeln

       Endnoten

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       Vorwort

      Die Mehrheit interessiert sich nicht für das, was Minderheiten zu erzählen haben, es ist lästig, es ist unbequem, es betrifft sie nicht. Deshalb müssen die Minderheiten in Deutschland so laut schreien, wie sie nur können, um überhaupt Gehör zu finden. Das Problem: sobald sie schreien, werden sie als aggressiv abgestempelt. Das diskreditiert sie natürlich und nullt den Inhalt ihres Schreis. Es geht dann nur noch um den Ton und nicht mehr darum, was gesagt wird. Deutsche nennen das „der Ton macht die Musik.“ Aber hätte die Mehrheitsgesellschaft von Anfang an zugehört, hätte niemand schreien müssen. Was wiederum als Ausrede genutzt wird, Menschen und ihre Positionen zu delegitimieren. Hauptsache, man kann immer weiter weghören.

      Hass ist in Deutschland allgegenwärtig, aber nur Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft dürfen hassen. Jene, die gehasst werden, weil sie beispielsweise von Rassismus betroffen oder transgeschlechtlich sind, müssen um das Überleben kämpfen, sich zu Expert*innen ausbilden, um ihre eigene Marginalisierung zu bekämpfen. Damit sie ihre Probleme sichtbar machen können, kämpfen sie um einen Platz in der deutschen Öffentlichkeit. Währenddessen werden Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft für ihre durchschnittlichen Werke und halbgaren Thesen mit Geld und Ruhm beworfen. Das liegt nicht daran, dass Journalist*innen und Autor*innen der Mehrheitsgesellschaft inkompetent seien. Für sie ist mehr Platz und gleichzeitig wird von ihnen schlicht weniger erwartet. Sie werden schneller beachtet und bekommen mehr Anerkennung für weniger Arbeit. Daher müssen sie sich nicht so anstrengen wie eine Person, die einer Minderheit angehört.

      Ich habe nicht immer geschrien. Meine Politisierung begann circa 2006, als ich ein PETA-Video von einer Pelzfarm sah. Ich wurde zuerst Vegetarierin, ein paar Jahre später eine überzeugte Veganerin. Eine, die sich allen anderen moralisch überlegen fühlt. Ich war unerträglich. Wenn jemand in meiner Umgebung etwas Tierisches aß, gab ich mir große Mühe, alles in meiner Macht zu tun, dass diese Person es nicht genießen würde. Ich war frustriert, dass ich nicht alles essen konnte, was ich essen wollte. Ich träumte vom Hühnerfleisch, aber ich konnte es nicht essen, weil ich sofort an meine Katze Wilma denken musste, die wirklich genauso aussah wie ein Huhn. Ich stellte mir vor, wie meine süße, unschuldige, flauschige Wilma an den Beinen aufgehängt wird und hilflos versucht, sich zu befreien, um gleich getötet, zerstückelt und verpackt zu werden. Wie kann man da denn noch Fleisch essen? Das hätte ich der Wilma niemals im Leben antun können. Deshalb hatte ich nur eine Option: es allen anderen genauso schwer machen, wie ich es selber hatte. Einerseits. Andererseits hatte ich gesehen und erfahren, was der Konsum von Fleisch oder anderen tierischen Produkten für die Tiere und die Umwelt bedeutet. Diese Erfahrung kann man nicht rückgängig machen, dachte ich. Ich lag richtig. Aber das schlechte Gewissen tief zu vergraben, ist Menschen immer möglich. Heute esse ich Fleisch.

      Mein politisches Bewusstsein nahm also tatsächlich mit einem PETA-Video seinen Anfang, aber es war Deutschland, das mich radikalisierte. Mein Wissen und mein Verständnis in dem Bereich der Tierrechte konnte ich zuerst auf den Feminismus und später auf die Rassismuskritik anwenden. Das mag relativierend klingen. Bestimmte Machtverhältnisse zu verstehen hilft aber dabei, andere einzuordnen, auch wenn die Unterdrückungsmechanismen nicht gleich sind.

      Bis 2014 wusste ich genau, was ich vom Leben wollte: ein kleines Café am Strand in Dalmatien. Ich kellnerte damals in Köln und irgendwann wollte ich meinen eigenen Laden eröffnen mit hausgemachten Leckereien und gutem Wein. Ich stellte mir vor, in einem kleinen alten Haus zu wohnen und im Erdgeschoss meinen Laden zu haben. Ich sah mich im Treppenhaus früh morgens, ich lief runter in meinen Laden, um zu backen. Es sollte ein Leben ohne große Sorge und Unsicherheit sein. Ich stellte mir vor, abends früh zu schließen und nach Feierabend meine Füße in den warmen Sand zu stecken. Ich hörte die Möwen, die über meinem Kopf herumflogen und schrien. Ich roch den salzigen Geruch des Meeres und fühlte die warme Brise in meinem Haar. Unter einem blauen Himmel, in der Hitze, die man selbst auf den Augenliedern spürt. Diese Bilder habe ich aus der Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Ich projizierte sie auf diesen Ort namens Dalmatien, den ich kaum kannte. Dalmatien sollte Antalya ersetzen. Irgendwie musste ich ja dem Heimweh, das ich in Deutschland empfand, entgegenwirken. Das war also mein Plan. Und dann fand mich der Feminismus.

      Eine Freundin, die eine überzeugte Feministin ist, fragte mich, ob ich gemeinsam mit ihr eine antisexistische Plattform auf Türkisch für Menschen in der Türkei gründen möchte. Sie wohnte in Paris, ich in Köln. Ich sagte zuerst nein, weil ich mir das nicht zutraute. Sie hat mich ermutigt und überzeugt.

      Nach einiger Zeit als Online-Aktivistin lernte ich, wie wirksam es sein kann, die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien auf bestimmte Themen zu lenken. Ich lernte auch, dass man politischen Aktivismus genauso gut online wie offline machen kann, dass auch diese Art von Aktivismus eine Gesellschaft nachhaltig verändern kann.

      Meinen ersten Text auf Deutsch schrieb ich im Jahr 2015, weil ich mich über den berüchtigten Text „Warum mich der Feminismus anekelt“ von Ronja von Rönne aufregte. Ich setzte mich hin und schrieb ihr eine Antwort, ganz so als würde das Ronja von Rönne überhaupt interessieren. Und dann hatte ich diesen Text in meiner Hand, der überhaupt nicht lesbar war, weil meine Deutschkenntnisse einfach nicht ausreichten, um einen politischen Text auf Deutsch zu verfassen. Mein Ex und ich setzten uns dann zusammen und schrieben den Text erneut. Er musste mich nach jeder These, nach jedem Ausdruck fragen, weil er nicht verstand, was ich meinte. So schlecht war er geschrieben.

      Als wir endlich fertig waren, kam das nächste Problem auf: ich wusste nicht, wohin damit. Bisher hatte ich noch nie für ein deutschsprachiges Medium geschrieben (für türkischsprachige auch kaum mehr als gebloggt, um ehrlich zu sein). Ich hatte auch keine Verbindungen, die mir dabei hätten helfen können, den Text irgendwo einzureichen. Also registrierte ich mich bei Blogspot. Wenn ich mich nicht falsch erinnere, generierte der Text ganze vier Klicks1. Einer davon war von Ronja von Rönne selbst, weil ich ihr den Link per Facebook sendete. Daraufhin schrieb sie mir u.a.: „auch du als feministin profitierst ja letzten endes davon, wenn die debatte mal wieder laut im raum steht und sich jeder neu verorten muss bzw. nochmal darüber nachdenkt.“ [sic]

      Durch mein Engagement als feministische Aktivistin auf der oben genannten türkischen Plattform erktolia.org, die sich gegen Sexismus und Diskriminierung von LGBTIQ+ stellt, lernte ich, wie man in den sozialen Netzwerken viele Menschen erreichen kann. Gleichzeitig wendete ich diese Erkenntnisse in Deutschland an und baute mir über Jahre hinweg meine eigene Reichweite auf Twitter auf. Ich ging auf politische Veranstaltungen, twitterte vor Ort, markierte Referent*innen in meinen Tweets, damit sie mich retweeten. Manchmal klappte es, oft wurde ich ignoriert. Ich ritt bei Hashtags zu politischen Themen mit und veröffentlichte Blogtexte auf meiner eigenen Website, die ich mir in der Zwischenzeit zugelegt hatte.

      Einige Kolleginnen, mit denen ich für die antisexistische Plattform zusammenarbeitete, hatten bereits eine gewisse Reichweite. Ich fragte sie nach Tipps, ließ mir Ratschläge geben und setzte sie dann um, auch wenn ich sie manchmal falsch verstand. Als ich einen migrantischen Publizisten in Deutschland fragte, wo ich anfangen soll, wenn ich in deutschen Zeitungen Texte veröffentlichen möchte, sagte er mir, ich solle es zuerst bei kleinen linken Redaktionen probieren. Ich schrieb dann einer kleineren linken Zeitung und bot einen Text an, allerdings gleich dem Chefredakteur. Als er sich nicht zurückmeldete, was ja auch klar war, schrieb ich nochmal eine Mail. Wie dreist, oder? Ich hätte euch so gern gesagt, dass ich es heute natürlich geschickter machen würde, aber Geschicktheit zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Am Ende geschah ein Wunder und er meldete sich zurück. Er wollte den Text tatsächlich haben. In dieser