Der Historiker Harry Waibel zählt4 zwischen 1970 und 1990 insgesamt 40 rassistische Angriffe auf Wohnheime.
Die Wende ist gerade 30 Jahre her, die ersten Integrationskurse gibt es erst seit 16 Jahren. Die Erfahrungen der sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen und ihren Nachkommen mögen sich unterscheiden, allerdings haben ihre heutigen Probleme in einem Punkt einen ähnlichen Ursprung: Sie wurden jahrelang gezwungen, unter sich zu bleiben.5 Jede Generation, die in Deutschland in die Schule ging, brach diese Isolation ein wenig, allerdings nur in einem gewissen Rahmen und nur durch eigene Bemühungen. Schüler*innen in deutschen Schulen sind bis heute überwiegend nach Herkunft segregiert.6 Minderheiten wohnen in deutschen Städten bis heute überwiegend in politisch vernachlässigten Stadtteilen unter sich und Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft schicken ihre Kinder lieber in Schulen mit niedrigem Anteil an Migrant*innen.
Wir diskutieren über eine Parallelgesellschaft, bei der man an eine Art Unterwelt mit eigenen Gesetzen und Regeln denken muss, wie in einem dystopischen Sci-Fi-Film. Wir führen gewagte Diskussionen über eine angeblich gescheiterte Integration jener Gruppen, die doch gerade nicht integriert werden sollten oder durften. Diese Diskussionen über Integration sind gewagt, weil jene, die sich darüber beschweren, teilweise diejenigen sind, die für das Problem an erster Stelle verantwortlich sind. Gewagt, weil in dieser Diskussion die Ursache der angeblich gescheiterten Integration ausbleibt, nicht erwähnt wird, und betroffene Menschen selbst für die Missstände, unter denen sie leiden, verantwortlich gemacht werden.
In Deutschland leben circa 10 Millionen7 Menschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft. Das macht ungefähr ein Achtel der gesamten Gesellschaft aus. Davon haben 4,7 Millionen8 die Staatsbürgerschaft eines EU-Staates und 5,3 Millionen sind Bürger*innen eines sogenannten Drittstaates (außerhalb der EU).
Nach dem Vertrag von Maastricht (1992) haben die Staatsbürger*innen der EU-Länder ein EU-weites Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Das heißt sie dürfen in Deutschland an den Kommunalwahlen teilnehmen, solange sie ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. Allerdings gilt dieses Wahlrecht nicht für die Bundestagswahlen.
Die restlichen 5,3 Millionen Menschen aus Drittstaaten werden von demokratischen Verfahren komplett ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, ihre Steuern zahlen, ihre Kinder hier die Schule besuchen und wie lange sie schon hier leben. Sie haben kein Recht, das System, von dem sie betroffen sind, mitzugestalten. So wird ein Recht plötzlich zum Privileg.
Bei der Bundestagswahl 2017 wählten knapp sechs Millionen Deutsche die AfD. In einem Deutschland, in dem eine in Teilen rechtsradikale Partei im Bundestag und allen Landtagen vertreten ist und ihre Ergebnisse bei fast jeder Wahl verbessert, vermittelt der Ausschluss jener Menschen, die von der Politik ebenjener Partei betroffen sind, eine klare Botschaft: Ihr seid egal. Ihr seid nicht Teil dieser Gesellschaft.
Die Wähler*innen einer Partei, die menschenfeindliche Positionen vertritt, die die Nazizeit auf einen Vogelschiss reduziert und ebenjene Zugewanderte als Gesindel bezeichnet, die also in Teilen ganz klar faschistisch ist, werden als „besorgte Bürger“ und „Protestwähler“ verharmlost. Die Tatsache, dass AfD-Wähler*innen ihre Macht bewusst dafür einsetzen, eine undemokratische Partei zu wählen und damit anderen, insbesondere Minderheiten, Schaden zufügen, wird in dieser Diskussion nicht berücksichtigt. Ihre undemokratischen Interessen werden vor derer gestellt, die kein Wahlrecht haben und deren Treue zu europäischen Werten immer wieder infrage gestellt wird. Dadurch wird deutlich, dass es eben nicht um irgendwelche Werte geht, sondern vor allem um Herkunft. Nur diejenigen dürfen bestimmen, die nach Blut und Boden zu Europa gehören: Bei Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte wird es als Recht per Geburt eingesehen, eine undemokratische Partei mit den Mitteln der Demokratie zu legitimieren.
Was ist schon Integration, wenn nicht die Ermöglichung der Teilhabe? Und wenn diese Integration gescheitert sein soll, was können die Betroffene dafür, außer zu versuchen auf die Missstände hinzuweisen? Wem keine Teilhabe ermöglicht wird, kann nicht mitgestalten. Wer nicht mitgestalten darf, kann für sich keine Teilhabe ermöglichen. Es ist ein Teufelskreis.
Man könnte jetzt denken, dass man sich ohne Wahlrecht auch anderweitig einbringen kann. Zum Beispiel bei einem lokalen Verein. Allerdings kämpfen viele gemeinnützige Vereine, Verbände, Organisationen und Projekte ums Überleben. 2019 wurden Organisationen wie Attac, Campact und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten die Gemeinnützigkeit entzogen. Für betroffene bedeutet das vor allem eine finanzielle Katastrophe, die sich bis hin zur Insolvenz strecken kann. Aber auch, dass sie zum Beispiel kein Mitglied von Dach- und Fachverbänden mehr werden dürfen und sich nur begrenzt organisieren können. So ist auch die politische Arbeit für Menschenrechte und Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit in Deutschland voller Hürden.
Seit Anfang des Jahres werden bundesweit zwei Dritteln der bis 2019 geförderten Demokratisierungsprojekte nicht mehr finanziert. Es geht um ca. 200 Projekte, die sich beispielsweise gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Transfeindlichkeit, Homofeindlichkeit und andere Formen der Menschenfeindlichkeit einsetzen. In vielen dieser Strukturen arbeiten auch Menschen, die selber betroffen sind, und sich teilweise gegen ihre eigene Margina-lisierung wehren. Beruflich. Teilweise Vollzeit. Sie studieren, bilden sich zu Expert*innen aus und kämpfen. Während Menschen, die nicht marginalisiert sind, ihren Neigungen und Wünschen entsprechend einen Berufsweg wählen können, gehen viele Betroffene einen teils schmerzhaften, kräftezerrenden Weg für eine Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt sein sollen – nicht nur theoretisch, sondern auch in Wirklichkeit. Viele dieser Menschen stehen jetzt seit Anfang des Jahres ohne Arbeit da, weil die Strukturen, in denen sie tätig waren, nicht mehr gefördert werden.
Die Arbeit gegen Menschenfeindlichkeit in Deutschland ist eine Frage des Überlebens. Es ist kein Hobby.
Der Ausschluss aus politischer Teilhabe ist die eine Seite der aktuellen Lage. Der Hass, der den Menschen, die sich einen Weg in die Strukturen erkämpfen, entgegenschlägt, eine andere. Sener Sahin aus dem bayrischen Wallerstein sah sich sogar genötigt, seine Kandidatur für die CSU als Bürgermeister zurückzuziehen, weil ihm als Muslim die nötige Unterstützung verwehrt wurde.
Der Ausschluss funktioniert allerdings auch nach der Ankunft in den Strukturen. Als Belit Onay 2019 zum ersten Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt mit einer Migrationsgeschichte gewählt wurde, wurde er über die sozialen Netzwerke mit einer rassistischen Hasswelle konfrontiert. In einem Interview mit Der Spiegel9 sagte Onay, dass es Menschen mit Migrationsgeschichte schwerfalle, in deutschen Parteien Fuß zu fassen, weil ihnen die Netzwerke fehlen, die sie innerhalb der Parteien benötigen. Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte würden oft über ihre Familie in diesen Netzwerken landen. Zudem fehle es an Interesse, weil es kaum Vorbilder in der deutschen Politik gebe. Dass die Repräsentation eine entscheidende Rolle bei der Berufsentscheidung spielt, ist bereits im Zusammenhang mit der Frauenquote ausgiebig diskutiert und belegt worden.
Es geht aber um mehr als Quoten: Am 15. Januar gab es Schüsse auf das Bürgerbüro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle. Der in Senegal geborene Politiker zog 1986 nach Deutschland und schaffte es trotz aller Hürden in den Bundestag. Im Gespräch mit Zeit Online10 erklärte er die vermehrten Angriffe auf Politiker*innen und Einschüchterungsversuche der Minderheiten und Andersdenkenden damit, dass innerhalb der letzten zwei Jahre die Aggression zunehme – nicht nur im Netz, sondern auch in der Politik: „In den Debatten werden Abneigungen deutlicher zum Ausdruck gebracht als früher, etwa gegen Minderheiten. Und das kann dann dazu führen, dass der ein oder andere Mensch, der vielleicht isoliert lebt und Zugang zu Waffen hat, zur Tat schreitet.“
Wer also im Bundestag oder den Landtagen sitzt und was dort gesagt wird, hat einen direkten Einfluss darauf, was auf der Straße passiert.
Als 2018 das Hashtag #MeTwo ins Laufen gebracht wurde, haben viele betroffene Menschen von traumatischen Rassismuserfahrungen in der Schule durch Lehrkräfte berichtet. Dass rassistische Diskriminierung in deutschen Schulen systematisch ist, belegt eine Studie11 der Universität Mannheim: Kinder mit anders klingenden Namen werden bei gleichen Leistungen schlechter bewertet. Während jede*r dritte