Sibel Schick

Hallo, hört mich jemand?


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machen, erhalten auch weniger Gymnasialempfehlung und haben später geringere Chancen auf einen akademischen Abschluss. Die logische Schlussfolgerung: Diese werden u.a. von dem Beruf als Lehrkraft ausgeschlossen – ein weiterer Teufelskreis. Der Karriereweg als Lehrkraft ist keine Ausnahme. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, werden auch in anderen Berufswegen mit Ausschlüssen konfrontiert. So wüssten zum Beispiel Jugendliche mit Migrationshintergrund wenig über die Ausbildungsmöglichkeiten und deren Bedingungen im öffentlichen Dienst, berichtete Annemie Burkhardt, ehemalige Geschäftsführerin des Berliner Qualifizierungszentrum für Migrantinnen und Migranten, im Gespräch13 mit der Heinrich-Böll-Stiftung 2014. Laut einer Studie14 des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit von 2016 müssen Frauen mit Kopftuch vier Mal mehr Bewerbungen schicken, bis sie zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden. Zudem erhöht sich die Diskriminierung, je höher die Position ist: So müsse die Bewerberin mit Kopftuch für eine Stelle in der Bilanzbuchhaltung 7,6 Mal so viele Bewerbungen verschicken als etwa Sandra Bauer, für eine Stelle als Sekretärin müsse sie nur 3,5 Mal mehr Bewerbungen schreiben. Je größer die Karrierewünsche, desto größer die Diskriminierung.

      Viele der zivilgesellschaftlichen Strukturen, die sich gegen Ausschlüsse von Minderheiten einsetzen, bemühen sich aufgrund der oben geschilderten Missstände u.a. für interkulturelle Öffnung deutscher Institutionen. Nur wenn die diskriminierenden Strukturen hinterfragt und offengelegt werden, können sie auf Dauer abgeschafft werden. Der Rassismus, der zum Ausschluss aus den Institutionen führt, ist nämlich derselbe Rassismus, der in Form von körperlicher Gewalt bis hin zu Waffengewalt vorkommen kann: Von brennenden Unterkünften für geflüchtete Menschen bis hin zu den NSU-Morden und dem Umgang damit. Die strukturelle Diskriminierung wirkt wie ein Katalysator, wenn es darum geht, Gewalt auf Minderheiten zu legitimieren.

      Während es für viele selbstverständlich ist, die Polizei zu rufen, wenn sie Unrecht erfahren, gibt es zum Beispiel die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die die NSU-Opfer bzw. ihre Angehörigen vertritt, und Morddrohungen erhält, die als „NSU 2.0“ unterschrieben und von einer Frankfurter Polizeiwache herausgeschickt werden. Die Kontinuität des rassistischen Mordens, sei es der Fall von Oury Jalloh, die NSU-Morde oder der rechtsterroristische Anschlag in Hanau, schüchtert Menschen nicht nur ein, sondern schlägt auch kollektive Wunden. Solange keine vollständige Aufklärung folgt, werden Traumata von Generation zur Generation weitergegeben.

      Bisher hat sich die Mehrheitsgesellschaft nicht ausreichend für ihr Schicksal interessiert, das hat sie über die vergangenen Jahre mehrfach bewiesen. Es ist zu wenig bis nichts passiert. Das muss sich ändern.

      20 Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte leben zurzeit in Deutschland, nur die Hälfte hat die deutsche Staatsbürgerschaft und somit das Wahlrecht. Hierbei geht es um die politischen Interessen von mehr als drei Mal so vielen Menschen, die bei der Bundestagswahl 201715 die AfD wählten. Was wäre, wenn Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft wählen dürften?

      Wenn sich die Mehrheit nicht fürs Schicksal der Minderheiten interessiert, so müssen diese ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Denn diskriminieren und gleichzeitig alle Wege nach Außen sperren, sodass sie sich nicht befreien können – so geht’s nicht. Alle, die seit mehreren Jahren in Deutschland leben und ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, verdienen das Wahlrecht und müssen wählen dürfen. Und zwar nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern auch bei den Landes- und Bundestagswahlen.

      Was wäre, wenn die Demokratie so gestaltet worden wäre, dass alle von ihr profitieren könnten? Was wäre, wenn die repräsentative Demokratie auch wirklich so gestaltet wäre, dass nicht nur manche repräsentiert werden, sondern alle? Es wäre nicht nur der frische Wind, den Deutschland so bitter nötig hat. Es wäre höchste Zeit.

       Deutschland brennt

       25.02.2020, Missy Magazine

      Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem Worte nichts mehr bedeuten.

      Ein Mann, dessen Namen ich bewusst nicht erwähnen werde, tötete am 19. Februar in Hanau zehn Menschen. Neun davon nahm er aus rassistischen Motiven das Leben.

      Als die Eilmeldung zu Hanau eintraf, suchte ich in den Nachrichten nach einem Hinweis zum Täter. Ein Angriff auf Shisha-Bars, in Deutschland stigmatisierte Orte, beunruhigte mich. Bekanntermaßen stehen Hinweise zum Äußeren oder der vermeintlichen Herkunft der Täter*innen in Presse- und Polizeimeldungen nur, wenn diese nicht weiß sind – à la „südländischen“ oder „nordafrikanischen Typs“. Als ich keine Hinweise fand, war klar: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um einen rechtsextremen Angriff handelt. Weitere Nachrichten bestätigten dies.

      Der mutmaßliche Täter war ein Rassist mit Erlaubnis zum Waffenbesitz, weil er Mitglied in einem Schützenverein war. Wie konnte es so weit kommen, fragt sich die deutsche Öffentlichkeit. Eine der Antworten ist: Rassistische Äußerungen von weißen Deutschen bleiben in der Regel ohne Konsequenzen. Der Mann, der im Juli 2019 in Wächtersbach einen jungen Mann aus Eritrea anschoss, hatte seinen Plan beispielsweise offen und groß angekündigt. Das interessierte nur absolut keinen und niemand informierte die Polizei. Er konnte seinen Plan ungestört umsetzen.

      „Das war die Tat eines psychisch Kranken! Er war verwirrt, hatte Wahnvorstellungen!“, sagt die deutsche Öffentlichkeit und atmet auf. Sie ist erleichtert, denn sobald Rassismus zur Krankheit erklärt wird, kann man sich zum einen sauber davon distanzieren, zum anderen hat man eine einfache Lösung gefunden, ohne sich anzustrengen. Doch so einfach ist es nicht. Rassismus in Deutschland ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und keine psychische Erkrankung.

      Vor einer Weile traf ich mich mit Freundinnen in einer Bar. In unserem Gespräch ging es irgendwann um Shisha-Bars und eine der Freundinnen bezeichnete diese wiederholt als „Fotzenbars“. Dieses Wort verletzte mich sehr, denn damit hat sie Shisha-Bar-Besucherinnen gleichzeitig rassistisch und misogyn abgewertet. Jede Freund*innenschaft, die Menschen, die von Rassismus betroffen sind, mit weißen Menschen schließen, ist ein Risiko, Diskriminierungserfahrungen zu machen oder zumindest verletzt zu werden. Seitdem kam mir jeden Tag dieses Wort in den Sinn und schmerzte. Aber nach dem Anschlag in Hanau verwandelte sich mein Schmerz in Wut.

      Hanau stellt Deutschland vor eine Prüfung und zwar nicht aufgrund der Dimension dieses Horrors, sondern auch, weil es so kurz vor Karneval passiert ist. Bereits kurz darauf kamen die ersten Karnevalsbilder an, auf Social Media und in Chatgruppen. Ganze deutsche Städte feierten so, als sei nichts passiert. Als hätte nicht gerade erst ein Nazi aus der Mitte der Mehrheitsgesellschaft neun Menschen ermordet. Als würden die alltägliche Abwertung und das Stigma von Shisha-Bars nicht damit zusammenhängen, dass diese zur Bühne von Bluttaten gemacht wurden.

      Markus Söder sagte zwar seinen Faschingsempfang ab und die Stadt München folgte mit Absagen zu großen Karnevalssitzungen. Unter den Meldungen darüber regten sich jedoch viele auf: Eine Schweigeminute hätte gereicht, hieß es da unter anderem. Die Stadt München kündigte daraufhin an, dass die Feierlichkeiten doch noch stattfinden. Köln und Düsseldorf verkündeten, dass es in den Umzügen „Hanau-Wagen“ geben werde. Deutsche lassen sich ihren Karneval nicht nehmen, egal, wie viele eben erst durch einen rechtsterroristischen Anschlag ermordet worden sind. Angehörige der Opfer müssen sich mit Karnevalswagen und Clowns oben drauf zufriedengeben.

      Auch in Hamburg reichte eine Schweigeminute aus. Am Freitag, also eine Woche nach dem Anschlag, nahmen dort laut Polizeiangaben 20.000 Menschen an der Fridays-for-Future-Demonstration teil, zur Demo am Samstag in Hanau waren es nur 6.000. Natürlich beschäftigten sich die Redner*innen in Hamburg auch mit Hanau, allerdings nebenbei. Denn das ist ein rassistischer Anschlag in Deutschland: ein Nischenthema. Welch ein Zeichen wäre gesetzt worden, wenn die Hamburger FFF-Demo sich an die in Hanau angeschlossen hätte! Aber Priorität war offenbar zu zeigen, dass FFF anders als von Kommentator*innen behauptet doch nicht stirbt. Menschen, die betroffen sind, können sich allerdings ihre Prioritäten nicht aussuchen. Bei ihnen geht es ums dringende Überleben. Deutschland brennt. Die Bestandaufnahme der letzten zehn Monate zeichnet ein klares Bild: Ein Mann tötet Walter Lübcke, der Tatverdächtige ist ein bekannter Nazi. In Halle greift