werden. Er tut mir bis heute leid.
Dass Dreistigkeit gewinnt, musste ich früh lernen. Ich war vielleicht zehn oder so und spielte mit meiner ungefähr gleichaltrigen Cousine in der Wohnung eines älteren Cousins. Ich habe halt viele Cousinen und Cousins. Als die Frau meines Cousins uns fragte, ob sie uns Pizzen aufbacken solle, lehnte ich ab, obwohl ich Lust hatte. Meine Cousine sagte dreist ja und bekam eine Pizza. Ich durfte ihr dann beim Essen zugucken. Ab dann wusste ich: wenn du etwas haben möchtest, musst du es halt sagen.
Die Tweets und Blogartikel trugen 2016 endlich Früchte. Ich erhielt eine Nachricht von der taz-Redakteurin Fatma Aydemir, die ich bis dato nicht persönlich kannte, deren Arbeit ich aber sehr schätzte. Sie bot mir eine freie Mitarbeit bei der taz an. Ich konnte es nicht fassen, weil es einfach zu schön war, um wahr zu sein. Im selben Jahr veröffentlichte ich dort meinen ersten Text. Das war das erste Mal, dass ich für einen Artikel bezahlt wurde.
Als Aktivistin ist es so gut wie unmöglich, in der deutschen Medienlandschaft ernstgenommen zu werden. Das Wort „Aktivist*in“ wird sogar ausgrenzend verwendet: „Wir sind doch keine Aktivisten – wir sind Journalisten!“ sagen viele in den Redaktionen. Das soll bedeuten, dass Aktivist*innen nicht objektiv sein und dadurch nicht berichterstatten können, Journalist*innen hingegen schon. Das ist natürlich Unsinn. Kein Mensch kann objektiv sein.
Als Nicht-Muttersprachlerin ist es auch sehr schwierig, als Autorin Fuß zu fassen. Die Arbeit dauert einfach länger und dir wird die Fähigkeit, in deiner zweiten oder dritten Sprache Texte verfassen zu können, ständig abgesprochen. Aber es gibt auch wunderbare solidarische Menschen wie Fatma Aydemir und viele andere, die nicht nur reinkommen und hinter sich die Türe schließen, sondern diese aufhalten und anderen dabei helfen, auch reinzukommen.
In Deutschland ist es also nicht für alle gleich leicht (oder gleich schwer), Gehör zu finden. Es ist vor allem dann schwer, wenn du hier fremd bist, kein Netzwerk hast und Themen behandelst, die zwar ständig Teil deines Lebens sind, aber von der weißen Mehrheitsgesellschaft, die in den Medienhäusern überwiegend vertreten ist, als nebensächlich angesehen werden. Also ich dachte immer: ich muss ganz laut schreien. Ich muss unangenehm sein. Ich muss provozieren. Ich muss auffallen. Ich habe keine Wahl. Ich werde sonst nicht gehört. Weil sich niemand interessiert.
Mein erster Text auf Deutsch ist jetzt also sechs Jahre alt. Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört zu schreiben (und zu schreien). Manche meiner Texte waren nicht gut genug, veröffentlicht zu werden und wurden abgelehnt, andere wurden veröffentlicht. Nicht alle haben es in dieses Buch geschafft.
Im Laufe der Zeit habe ich meinen Plan, nach Dalmatien zu ziehen, um dort meinen eigenen Laden aufzumachen, fast schon vergessen. Heute ist dieser Plan nichts Weiteres als eine diffuse Erinnerung.
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In „Hallo, hört mich jemand?“ findet ihr Kolumnen und Kommentare, die bisher bereits veröffentlicht worden sind, mit einer Ausnahme („Für immer verpeilt“ wurde nicht veröffentlicht, sondern für eine Bewerbung geschrieben.) Außerdem habe ich drei Folgen von meinem Podcast „Scharf mit alles“ mit aufgenommen. Alle Texte habe ich für dieses Buch überarbeitet, mal hier einen Kontext hinzugefügt, mal da einen neuentdeckten Grammatikfehler korrigiert. Die Texte in diesem Buch sind teilweise über tagesaktuelle Themen, die bei der Veröffentlichung des Buches nicht mehr so aktuell sein dürften. Andere sind sehr persönlich und autobiografisch. Manche sind selbstironisch, manche wütend, manche sind moderater, andere wollen nur pöbeln. Alle sind direkt. Alle sind ehrlich.
Ich nutze ein Gendersternchen. Weil Geschlechter über Mann und Frau hinausgehen. Wo das nicht möglich ist, versuche ich durchzukommen, indem ich geschlechtsneutrale Begriffe verwende. Ich habe versucht, die Texte thematisch klar zu trennen und zu sortieren, aber es gelang mir nicht. Themen, die ich in meinen Texten behandele, also Rassismus, Sexismus, Klassismus und virtuelle Gewalt, greifen in der Regel ineinander und sind daher nicht immer gut zu trennen. Oft erwähne und problematisiere ich mehrere Aspekte gleichzeitig. Ich entschied mich trotzdem, sie in getrennten Kapiteln unterzuordnen.
In diesem Buch findet ihr fünf Kapitel. Als erstes sind Texte über Rassismus in Deutschland dran, im zweiten findet ihr welche, die sich mit Sexismus beschäftigen. Diese werden gefolgt vom dritten Kapitel über virtuelle und mediale Gewalt, und dem vierten Kapitel über Klassismus. Im fünften und letzten Kapitel sind persönliche Texte über Sprache, Heimat und mein Leben zu lesen.
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Mein taz-Artikel „Hallo, hört mich jemand?“ gab diesem Buch seinen Titel. Und dem Artikel gab der taz-Redakteur Peter Weissenburger die Überschrift. An dieser Stelle also: Danke, Peter! Außerdem bedanke ich mich bei dem Verlag edition assemblage für diese Veröffentlichung, meiner lieben Freundin Tabea Ćubelić für die hervorragende Covergestaltung, meiner Freundin Fatma Aydemir, weil alles mit ihr begann, meiner guten Freundin Asal Dardan für die Ankündigungstexte und das Lektorat, meinem Freund Ingmar für seine Solidarität. Dieses Buch ist unser gemeinsames Produkt.
Das Wahlrecht darf kein Privileg sein
06.03.2020, was wäre wenn-Magazin
„Erst als ich nach Italien zog, verstand ich, dass ich Deutsche bin“ sagte mir jemand einst. Gemeint waren die Erfahrungen, die man als Fremde macht, wenn man in ein anderes Land zieht. Aber Migration ist nicht gleich Migration. Nicht alle Gruppen haben dieselben Probleme und Bedürfnisse. Die Erfahrungen können sich drastisch unterscheiden. Allerdings lässt sich mit genügend politischen Maßnahmen überall in der Welt gut leben.
Bei politischen Maßnahmen in Deutschland, die dafür sorgen sollten, dass es allen – auch Zugewanderten und ihren Nachkommen – gut geht, ist noch Luft nach oben. In einer postmigrantischen Demokratie wäre die Migration ein natürlicher Teil des Lebens, in dem alle mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenleben können. Die Realität ist anders. Deutsche, die seit drei Generationen hier leben, werden bis heute migrantisiert und aus dem Deutschsein ausgeschlossen. Grundlegende Rechte wie der Schutz vor Ausschlüssen, Diskriminierung und Gewalt werden bei Minderheiten oft zum Luxusproblem erklärt. Die Bestrebungen nach Gleichberechtigung kommen zu langsam voran, weil diese in der Regel von Betroffenen ausgehen, die es immer noch schwer haben, Gehör zu finden, obwohl Migration längst zur gesellschaftlichen Realität gehört. Deutschland wird nicht nur durch Migration geprägt, sondern profitiert auch von ihr. Ausländische Arbeitskräfte waren massiv daran beteiligt, dass das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde und sich zu einer Wohlstandsgesellschaft entwickelte. Dennoch ist es so, dass bei allen denkbaren Anlässen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte Dankbarkeit erwartet wird.
Dieselbe Mehrheitsgesellschaft, die für das bloße Existenzrecht der Minderheiten Dankbarkeit erwartet, ist nicht in der Lage, selber Dankbarkeit zu zeigen, wenn sie durch die Arbeit der Minderheiten2 reich wurde, weil sich diese jahrelang kaputtschufteten.3 Nicht dass der Wert eines Menschen davon abhängig wäre, wie viel er leistet – das ist er nicht. Hier geht es nur um einen Doppelstandard.
In der BRD wie auch der DDR war man zwar auf ausländische Arbeiter*innen angewiesen, dennoch war Deutschland für diese Menschen nie ein Ort, der sie willkommen geheißen hat. Ihre Arbeit wurde ihnen nicht gedankt, sie selbst waren kaum mehr als lästig. Es gab kaum bis gar keine politischen Maßnahmen, die Arbeiter*innen vor rassistischen Übergriffen zu schützen oder sie als gleichberechtigter Teil der Bevölkerung aufzunehmen.
Sowohl die sogenannten Gast- als auch die Vertragsarbeiter*innen wohnten in Stadtteilen, Nachbarschaften und gar Wohnheimen, die eigens für sie bestimmt waren. Entweder war der Kontakt zu der Mehrheitsbevölkerung strikt verboten (wie in der DDR), oder sie waren durch ihren Wohnort oder die Natur ihrer Arbeit isoliert.
Von den sogenannten Vertragsarbeiter*innen der DDR hielten sich nicht alle an die Verbote und die strikten Regeln, und gingen trotz Sperrstunde abends aus dem Wohnheim. Allerdings bedeutete dies für sie Lebensgefahr. In den 40 Jahren SED-Diktatur wurden 8.600 rechtsradikale bzw. antisemitische