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Unterrichtswelten – Dialoge im Deutschunterricht


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Komplexität, gegliedert und lassen sich damit unter anderem unterschiedlichen Schularten zuordnen oder auch in einem binnendifferenzierten Unterricht einsetzen.

      In dem Ansatz Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung: aus der Verdichtung ins Gedicht führt José Oliver die Arbeiten fort, die er bereits in den drei vorangehenden Materialbänden ausgearbeitet und gut illustriert hat. Hier auch wieder illustriert mit einer fast unzählbaren Fülle von Originaltexten und Zitaten (viele von weiteren Chamisso-Autorinnen und -Autoren) und systematisch ausgeführt in Bezug auf den Entstehungsprozess lyrischer Texte und eine Darstellung und Bearbeitung ihrer wesentlichen Strukturmerkmale (Gestaltung, Inhalt und Form, Erzählperspektive, Reim, Textlänge, lyrisches Ich, Variation), versehen mit Schreiblockerungsübungen und Arbeitsblättern als Vermittlungsinstrumente und -begleiter, schon fast ein Lyrik-Grundkurs für die Schule und eine Schreibwerkstatt für angehende Poeten.

      „Ohne Abschied kein Neuanfang“

      Literarische Schreibwerkstatt – Am Beispiel der Bedingungen des Menschlichen

      Senthuran Varatharajah

      Annäherung (I)

      Es gibt kein Leben ohne Abschied – ohne Verabschiedung. Das ist der Fall: Jeder Mensch ist – ob wir wollen oder nicht – mit verschiedenen Formen des Abschieds konfrontiert; mit unterschiedlichen Handlungen, und manchmal auch Ritualen des Verabschiedens. Diese existentielle Situation – wir könnten auch von einer prinzipiellen Unausweichlichkeit sprechen; wir alle haben uns bereits verabschiedet, und wir werden uns weiterhin verabschieden, bis wir verabschiedet werden – begründet auch das literarische Interesse am Abschied. Wir verabschieden uns jeden Tag: von Dingen, von Menschen. Das ist der Fall.

      Ein Abschied ist allerdings nicht einfach ein Abschied: Es gibt ein Register des Abschieds – einen Umfang von Varietäten von Verabschiedungen. Wenn wir von Abschied sprechen, meinen wir entweder einen Augenblick der Trennung oder einen längeren Prozess; man könnte sagen: je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden – ein Ding, ein Mensch. Ein Abschied kann aktiv vollzogen werden – wir verabschieden uns an der Tür von Freund*innen – oder in die Ordnung unseres Lebens einbrechen – d.h.: als ein unerwartetes Ereignis, als ein Widerfahrnis, wie der Tod eines Menschen, der uns nahesteht, nahestand. Wir verabschieden uns mit einem Handschlag, mit einer Umarmung, mit einer Trauerfeier. Es gibt kein Leben ohne Abschied.

      Annäherung (II)

      Abschied. Ein biographisches Beispiel: Meine Familie kennt den Abschied. Ich wurde 1984 in Jaffna, im Norden Sri Lankas, in einen Krieg geboren. 80 000 bis 100 000 Menschen wurden – offiziellen Schätzungen zufolge – in den 26 Jahren, die dieser Krieg dauerte, getötet. Als ich vier Monate alt war, konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir über Colombo, Moskau und Ost-Berlin nach West-Berlin fliehen. Die ersten sieben Jahre wohnten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen: in West-Berlin, Frankfurt am Main, Nürnberg, Coburg und in einer bayerischen Kleinstadt, in der ich auch bis zum Studium lebte.

      Meine Familie kennt den Abschied: Den Abschied von dem Haus, in dem meine Eltern aufgewachsen sind, den Abschied von ihren Freund*innen, von ihrer Familie, von ihrer Heimatstadt, die sie verlassen mussten, von dem Land, in dem sie, bis zum Zeitpunkt ihrer Flucht, ihr ganzes Leben verbracht hatten, von der Sprache, in der sie jeden Tag gesprochen haben, von den Asylbewerberheimen, in denen wir die ersten sieben Jahre hier in Deutschland gelebt hatten. Als ich in der zweiten Klasse war, wollten meine Eltern Deutschland verlassen und nach Kanada auswandern. Meine beiden Brüder und ich gingen auf den Spielplatz und begannen, Abschied zu nehmen, von unseren Freund*innen, und auch von den Dingen, auf denen wir gespielt hatten: von der Holzbrücke, von den Betonröhren, vom Sandkasten. Je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden.

      Annäherung (III)

      Abschied. Ein literarisches Beispiel: Die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion erzählt in ihrem 2005 in den USA veröffentlichten autobiographischen Roman Das Jahr des magischen Denkens von einem anderen Abschied: vom Tod ihres Mannes. Der Roman beginnt mit einer Notiz, die die naheliegenden Themen des Romans zusammenfasst:

       Das Leben ändert sich schnell.

       Das Leben ändert sich in einem Augenblick.

       Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.

       Die Frage des Selbstmitleids.

      Diese Themen, die diese Notiz versammelt, beziehen sich in Das Jahr des magischen Denkens nicht nur auf Didions Mann, den Schriftsteller John Gregory Dunne, mit dem sie 40 Jahre verheiratet war, sondern auch auf ein anderes Unglück, auf eine parallele Trauer – auf einen doppelten Abschied: ihre gemeinsame Tochter Quintana lag im Koma, als ihr Vater an einem Herzinfarkt starb; über den Tod von Quintana, die zwei Jahre nach ihrem Vater an den Folgen einer Gehirnblutung stirbt, wird Didion in ihrem darauffolgenden, sechs Jahre später veröffentlichten Roman, Blaue Stunden schreiben. Beide Romane, Das Jahr des magischen Denkens wie auch Blaue Stunden, erzählen vom Abschied und dem Abschiednehmen als einer existentiellen Erfahrung, als einer prinzipiellen Unausweichlichkeit: davon, wie der Tod in die Ordnung ihres Lebens einbrach, und dieses Leben von Grund auf veränderte. Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Und von diesem Punkt an wird es kein Zurück mehr geben.

      Didion weiß: Es gibt kein Leben ohne Abschied. Ohne Verabschiedung. Auch, wenn sie darüber schreibt, unter anderem unter Bezugnahme auf medizinische Quellen, bleiben diese Ereignisse unbegreiflich. Sie – der Tod, die Trauer, der Abschied – entziehen sich dem Verständnis, auch wenn wir wissen, auch wenn wir verstanden haben, dass es kein Leben ohne Tod, ohne Trauer und ohne Abschied gibt. Didions Romane versuchen diese existentielle Grausamkeit zu verstehen. Aber auch Literatur kann der Sinnlosigkeit dieser Ereignisse keinen Sinn abringen – aber sie kann ihre Sinnlosigkeit darstellen; von ihr erzählen. Und von diesem Punkt an kann es kein Zurück mehr geben.

      Schreibaufgaben

      Das Thema Abschied kann im Unterricht starke emotionale Reaktionen bei den Schüler*innen hervorrufen. Es ist wichtig, es allen Schüler*innen selbst zu überlassen, ob sie den Text, den sie geschrieben haben, vor der Klasse vorlesen wollen oder nicht. Eine alternative Methode könnte darin bestehen, alle Texte zu sammeln, zu mischen und in der Klasse zu verteilen, sodass kein*e Schüler*in den eigenen, womöglich sehr persönlichen Text vorlesen muss, aber dennoch alle Texte vorgelesen werden.

      Aufgabenstellung I

       (30 Minuten)

      Die Schüler*innen sollen ein Gedicht schreiben, das aus 30 je einsilbigen Wörtern besteht, über einen persönlichen Moment des Abschieds. Die formale Vorgabe dient dazu, den Moment von Sprachlosigkeit darzustellen: das Suchen von Wörtern, das Fehlen von Wörtern, ihre Kargheit angesichts eines Ereignisses, das uns die Sprache verschlagen hat.

      Aufgabenstellung II

       (45 Minuten)

      Die Schüler*innen sollen ihre*n Banknachbar*in fragen, was der letzte Abschied war, den sie erlebt haben, und von ihnen auch dazu befragt werden. Über diesen Abschied sollen die Schüler*innen dann jeweils eine Erzählung aus der Ich-Perspektive schreiben und diese im Anschluss ihrem Banknachbarn/ ihrer Banknachbarin vorlesen, von dem oder der sie nur das Thema des Abschieds erfahren haben, aber keine Details.

      Aufgabenstellung III

       (60 Minuten)