Stimulate Collaboration – Förderung von Kollaboration – Herausforderungen für die Umsetzung
Joachim E. Fischer
Zusammenfassung
Zentrale Aspekte einer modernen Integrativen Gesundheitsversorgung sind Teamarbeit, Multiprofessionalität und Patientenzentrierung. Dies steht dem bisherigen Modell der primärärztlichen Versorgung in der hausärztlichen Einzelpraxis entgegen. Der immer aktueller werdende Hausarztmangel gerade auf dem Land eröffnet die Chance, neue Versorgungstrukturen zu etablieren, die Gesundheitsförderung und Behandlung auf die Schultern vieler gut ausgebildeter Fachkräfte verteilen, darunter auch angestellte Ärzte. Die Versorgungsnot im ländlichen Raum ermöglicht Lösungen, die sich an den Prinzipien der Patientenzentrierten Medizin orientieren. Die Chancen ergeben sich aus einer Neustrukturierung von Prozessen, Kompetenzerweiterung nicht-ärztlicher Fachpersonen durch entsprechende Weiterbildung, bessere horizontale Vernetzung in der Kommune und sinnvolle Nutzung von digitalen Lösungen unter anderem zur vertikalen Integration von Primärversorgung mit Spezialisten und Forschung. Das Kapitel reflektiert ein aktuell in einer ländlichen Region in Baden-Württemberg zur Umsetzung anstehendes Vorhaben auf dem Hintergrund der Geneva Declaration der Konsensus-Konferenz des International College of Person-Centered Medicine (ICPCM).
Summary
Teamwork, collaboration in multiprofessional networks, and a patient-centered approach characterize modern, integrative healthcare. This is in stark contrast to the current model of healthcare provision by GPs in single practices. The growing lack of GPs, particularly in rural areas, presents the opportunity to establish new supply structures in which many well-educated skilled employees, including salaried physicians, share the tasks of health promotion and treatment. The acute shortage of healthcare in rural areas encourages us to find solutions that are based on the principles of patient-centered medicine. The relevant opportunities arise from restructuring processes, increasing the skills of non-medical professional staff by providing additional education, improving horizontal integration within municipalities, and applying digital solutions to, inter-alia, vertically integrating primary care providers with specialists and research. This chapter presents a project currently implemented in a rural setting in the federal state of Baden-Württemberg based on the Geneva Declaration from the consensus conference of the International College of Person-Centred Medicine (ICPCM).
7.1 Die Versorgung im Spannungsfeld von Akutmedizin und Unterstützungsbedarf bei älteren Patienten
Anna Zimmer lebt allein in einem großen Haus in einem Dorf unweit eines größeren Zentrums in Baden-Württemberg. Sie ist 91. Ihr Mann ist nach langer Pflege vor 5 Jahren gestorben. Es ist Samstag nach Ostern. Sie fährt – weil die Beine nicht mehr so gut tragen – noch immer selbst mit dem Auto zum Einkaufen, auch weil der ÖPNV auf dem Land nicht so gut ausgebaut ist. Heute fällt es ihr noch schwerer, die Einkaufstasche ins Haus zu tragen. „Das Japsen ist schlimmer“, wie sie sagt. Sie legt sich ins Bett. Das Handblutdruckmessgerät, das oft merkwürdige Werte anzeigt, behauptet: Blutdruck 70 zu 40, Puls 144. Sie ruft ihre Freundin, eine Nachbarin an. Diese findet Frau Zimmer kränkelnd und blass. Ihr Hausarzt ist in Osterferien. Der ärztliche Notdienst wird gerufen. Dieser lässt auf sich warten, muss dreimal gebeten werden. Schließlich wird Anna Zimmer ins nächstgelegene Kreiskrankenhaus eingewiesen.
Stunden später, inzwischen ist es früher Abend: Frau Zimmer liegt auf der Intensivstation mit Verdacht auf Lungenembolie, manifestes prärenales Nierenversagen und kardiogenen Schock. Ihr mittlerer arterieller Blutdruck beträgt 60 mmHg, sie hat eine schwere Laktatazidose. Die Patientenverfügung besagt: keine Intensivtherapie. Frau Zimmer spricht mit schwacher Stimme am Telefon mit ihren Söhnen, verabschiedet sich.
Der Einstieg in die Fallvignette zeigt, wie rasch sich aus einer gesundheitsförderlich orientierten hausärztlichen Versorgung mit leitliniengerechter Behandlung einer alten Dame eine auf den ersten Blick zwingend pathogenetisch orientierte Versorgung eines medizinischen Notfalls entwickelt. Dem erfahrenen Intensivmediziner ist die Situation klar: Aus einer unbemerkt entstandenen tiefen Beinvenenthrombose hat sich ein Thrombus gelöst und einen bedeutsamen Teil des Lungengefäßbettes verlegt. Weil die Herzklappen der alten Dame allesamt nicht mehr richtig schließen, ist die rechte Herzkammer überfordert. Damit strömt gerade noch genug Blut durch die Lunge zurück zur linken Herzkammer, um das Gehirn zu versorgen und auch das Herz, aber schon nicht mehr die Nieren. Pathogenetisch ist klar, was zu tun ist: den Thrombus möglichst schnell auflösen, das Herz intensivmedizinisch per Katecholamin-Dauerinfusion vorübergehend anzupeitschen und so, fein dosiert und engmaschig kontrolliert, den Kreislauf der Patientin und die Blutversorgung lebenswichtiger Organe wieder zu stabilisieren.
Aber schon in diesem Stadium stellen sich dem behandelnden Intensivmediziner eher salutogenetische Fragen: Wird sich die Niere erholen? Wie wird sich die Niere erholen? Wird sich das Herz erholen? Was kann die Erholung maximal unterstützen? Wird sich die alte Dame insgesamt wieder erholen? Wird sie noch einmal nach Hause gehen können? Wird sie ein Pflegefall? Was wünscht die alte Dame? Ist die Patientenverfügung, „keine intensivmedizinischen Maßnahmen“, strikt einzuhalten? Sie war sich bewusst, dass sie im jetzigen Zustand nur noch Stunden zu leben hätte und verabschiedete sich am Telefon von ihren Kindern. Ist das unbedingt zu respektieren, oder ist nicht ein Versuch, den Kreislauf mit begrenzter Intensivmedizin zu stabilisieren, gerechtfertigt? Wer autorisiert das Vorgehen? Und welche Risiken einer Verschlimmerung und Schwächung Selbstheilungskräfte der 91-Jährigen würde die rein pathogenetisch folgerichtige Behandlung in sich bergen? Angenommen, es gelänge, die alte Dame zu stabilisieren: Wer kümmert sich um sie? Wie ginge es nach der Entlassung weiter? All diese Fragen schwirrten dem Intensivmediziner an diesem Abend durch den Kopf, während er mit den Söhnen der alten Dame, einer davon zufällig aus einem Gesundheitsberuf, telefonierte. Wie oft in solchen Situationen hatte der behandelnde Intensivmediziner außer der Patientenverfügung und der aktuellen Sachlage keine weitere Information zur Entscheidungsfindung über die weitere Behandlung. Lediglich den Medikamentenplan, den die alte Dame mitgebracht hatte und eine Kopie eines Arztberichts vom kardiologischen Kollegen aus dem Vorjahr, die der Patientenverfügung beilag.
Integrative Medizin als Gesundheitsversorgung der Zukunft tritt mit dem Leistungsversprechen an, auch in solchen Situationen Orientierung und bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen zu erleichtern (Esch u. Brinkhaus 2020; Mezzich 2014). Sie stellt die Salutogenese, also das Wissen um die Gesundheit fördernde oder erhaltende Prozesse gleichberechtigt neben die Pathogenese (Lindstrom u. Eriksson 2005). Letztere beschreibt das Wissen um die Ursachen von Krankheiten, die Risikofaktoren für Ursachen und die Möglichkeiten, solche Risiken früh zu erkennen und das Entstehen von Krankheit risikogeleitet zu vermeiden. Integrative Medizin bezieht sich in ihrem Ansatz auf die Bewegung der Patientenzentrierten Medizin und deren Grundannahmen (Davies 2008; Klancnik Gruden et al. 2020; Machta et al. 2019). In einer Konsensus-Konferenz stellte das International College of Person-Centered Medicine (ICPCM) im Mai 2014 Grundprinzipien auf und forderte, damit es nicht bei Absichtserklärungen bleibt, konkrete Aktion in 10 Handlungsfeldern (Mezzich 2014).
Das Kapitel beschreibt darum in aller Kürze zuerst die Ausgangssituation der Gesundheitsversorgung auf dem Land sowie die zu erwartenden und damit die Rahmenbedingungen setzenden, kontextuellen und gesellschaftlichen Makrotrends. Das Kapitel geht dann kurz ein auf ein vom Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg und dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördertes Modellvorhaben zur Sicherung der hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum in Baden-Württemberg. Es zeigt auf, wie dieses neue Versorgungskonzept unter Würdigung der entsprechenden Rahmenbedingungen auf die erwähnten Grundprinzipien und die 10 Handlungsfelder der Patientenzentrierten Medizin eingeht.
Das Dorf der alten Dame liegt in der Region Nordschwarzwald. Auf der Landkarte sieht das nicht besonders abgeschieden aus: nicht weit von Stuttgart, im Norden die Großstadt Pforzheim, im Osten die Universitätsstadt Tübingen, im Süden ein Zentrum für Medizintechnik, Tuttlingen, im Westen die Rheinebene von Karlsruhe bis Freiburg, alles verkehrstechnisch gut angebunden über den von Stuttgart