und auch entlang der Feldsäume entdeckt der Reisende eine Menge noch recht junger Baumreihen, die ein wenig Struktur in die Monotonie bringen. Auch hören wir den Kuckuck rufen. Im heimischen Siebengebirge ist der Brutparasit seit etwa zehn Jahren, wie so viele andere Vogelarten, verstummt, obwohl unsere Landschaft entlang der Rheinschiene viel reicher strukturiert ist. Trotz Kuckucksruf ist die dünnbesiedelte, brandenburgische Wildnis aber eine agrarische und forstliche Wüstenei. Das Anwesen unserer Freunde gleicht daher einer kleinen Oase, in der die Kinder zwischen Hühnern, Bienenstöcken, Obstbäumen und Gemüsekulturen herumtollen dürfen. Mit dem Auto unternehmen wir Streifzüge durch den Fläming und bekommen sehr eindringlich einen der ökologischen Schwachpunkte der Kiefernforste vor Augen geführt: Sie brennen sehr gut. In der Nähe von Jüterborg sind 2019, im zweiten Jahr der großen Dürre, rund 750 Hektar Kiefernforst den Flammen zum Opfer gefallen. Verkohlte Stümpfe, wohin das Auge blickt. Die meisten Stämme sind mit schwerem Gerät bereits entfernt worden. Ich frage mich, was aus ihnen geworden ist und stoße bei meinen Recherchen zu dem Thema auf ein Dokument der Deutschen Energie-Agentur (dena):
»Zusammenfassend bietet die Mitverbrennung holzartiger Biomasse in Kohlekraftwerken eine Option, relativ schnell den Anteil erneuerbarer Energien im Energiesystem zu erhöhen, international nachhaltige Biomassemärkte und dafür erforderliche Infrastrukturen zu etablieren sowie einen zusätzlichen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.«3
Im November 2016 titelte die Süddeutsche Zeitung zum Thema Erneuerbare Energie: »Kohlekraftwerke gieren nach Holz.« Mir wird klar, dass der mühsam gelöschte Waldbrand von Jüterborg höchstwahrscheinlich in den Feuerräumen der Lausitzer Braunkohlekraftwerke zu Ende gebracht wurde und man den Menschen diesen Wahnsinn auch noch als »Klimaschutz« verkauft. – Zynismus pur, der die Forstleute aber nicht anficht. Sie haben bereits begonnen, munter neue Kiefern auf die abgefackelten Gebiete zu pflanzen. Zurück auf dem Anwesen unserer Freunde, sind wir uns einig in unserem Entsetzen über die deutsche Forstwirtschaft, die ideenarmer kaum sein könnte. Das Problem der artenarmen Fichtenmonokulturen hingegen, die bis vor Kurzem noch rund ein Viertel unserer gesamtdeutschen Waldfläche bedeckten, erledigt sich dank Dürre und Borkenkäfer ja gerade von selbst.
Auch der Paradiesgarten unserer Freunde war, als sie ihn übernahmen, in Teilen ein finsterer Tann. Zu DDR-Zeiten – »Ostzeiten«, wie man hier sagt – schien der Vorbesitzer des Grundstücks billig oder umsonst an eine größere Anzahl von Fichtensetzlingen gekommen zu sein, die er allesamt dicht an dicht rund um sein Haus auspflanzte. Mit der Motorsäge hatten unsere Freunde bereits für ein wenig Licht gesorgt. Dennoch standen die meisten der Bäume noch immer dicht an dicht, als ich sie 2018 besuchte. Jetzt, zwei Jahre später, stehen die etwa fünf oder sechs Meter hohen Stämmchen zwar immer noch an Ort und Stelle, sind aber samt und sonders abgestorben. Apfelbäume, die vorher von den aufrecht gestorbenen Soldaten der Fichtenarmee um ein Haar erdrückt worden wären, stehen hingegen, kaum dass sie wieder Licht bekommen, in schönster Blüte.
Diese Obstblüte inmitten dürrer Stämme, die nur noch für den Kamin taugen, empfand ich als Sinnbild der Hoffnung: Genau so etwas brauchen wir, und zwar flächendeckend. Durch den Tod der Nadelholzmonokulturen bietet sich die einmalige Chance, die ersten offenen, reichstrukturierten Wälder anzulegen. In denen soll eine Weidehaltung wieder stattfinden können, und dort sollten vor allem viele hochwertige Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Beeren, Kastanien und Nüsse gedeihen, als Nahrungsgrundlage für Mensch, Vieh und Wildtier. Die Flächen dafür, den Anfang zu wagen, liegen öd und leer vor uns. Wir müssen nur zugreifen. Dann können wir die Paradiese der Zukunft Wirklichkeit werden lassen. Viel von dem, was heute ein leergeräumter Kahlschlag ist, befindet sich in öffentlicher Hand und ist augenscheinlich erbärmlich verwaltet. Denn tatsächlich verlieren wir Steuerzahler viel Geld durch diese Rodungen. Die Preise für Fichtenholz sind derart im Keller, dass der Einschlag mehr kostet, als der Verkauf der Holzmassen an Ertrag abwirft. Es liegt also an jedem Einzelnen von uns, bei Politik und Verwaltung ein vielfältigeres Verständnis einzufordern, von dem was Wald ist und was Wald für uns und unsere Mitgeschöpfe leisten soll. In einem zweiten Schritt muss es darum gehen, die extrem artenarmen Agrarsteppen umzunutzen. Wir benötigen Lebensmittel aus stabilen Ökosystemen, die zuverlässig funktionieren und Pestizide oder Antibiotika einfach nicht nötig haben.
In der Schöpfungsgeschichte vertreibt Gott Eva und Adam, die ersten Menschen aus dem Paradies, weil Eva – von der Schlange verleitet – in die Frucht der Erkenntnis beißt. Theologen gehen heute davon aus, dass der entsprechende Text aus der Genesis bereits um 600 vor unserer Zeitrechnung entstanden sein könnte. Gut 2 500 Jahre später brauchen wir die Schlange wieder, um dazu verleitet zu werden, ein zweites Mal herzhaft in diesen besonderen Apfel zu beißen. Wir werden die Erkenntnis erlangen, dass eine Rückkehr ins Paradies möglich ist.
Apfelbäume
Zu Beginn der 1980er-Jahre erwarb mein Vater in seinem Sehnsuchtsland Irland ein Stück Land, das direkt an der rauen Atlantikküste liegt. Dort grast eine kleine Herde Rinder, und außerdem kann man hier sehr gut fischen. Vor einiger Zeit habe ich begonnen, dort Apfelbäume zu pflanzen. Der Ort ist sehr windig. Windgeschwindigkeiten der Stärke sechs bis sieben auf der Beaufortskala sind alltäglich, Orkanstärken keine Seltenheit. Bäume sind selten und haben es hier schwer. In der Nachbarschaft steht die Ruine eines steinernen Hauses, in deren Nähe eine alte Ulme wegen des ewigen Sturms komplett horizontal gewachsen ist. Windschur nennt man das. Auch meine Apfelbäume haben ein schweres Leben. Durch die Nähe zum Meer hat die Luft einen hohen Salzgehalt. Der lässt nicht nur sämtliches Metall schnell korrodieren, sondern sorgt auch dafür, dass die Blätter und jungen Triebspitzen austrocknen und absterben. Auch der Apfelkrebs macht den Bäumen zu schaffen. Das ist eine Pilzkrankheit, die im feuchten Seeklima besonders leichtes Spiel hat. Anfangs brachte ich Apfelbäume aus Deutschland nach Irland. Später setzte ich auf irische Sorten, die besser an das Klima angepasst sind. Ich kaufte die Bäumchen entweder auf dem Wochenmarkt, der jeden Samstagmorgen im nächsten Städtchen stattfindet, oder fuhr den langen Weg nach Kealkill zu einer Baumschule mit dem schönen Namen »Future Forests«, die von enthusiastischen Hippies geführt wird und sich durch eine der größten Sammlungen verschiedener Apfelbaumsorten Irlands auszeichnet – ein Pfund, mit dem sie wuchern kann. Sie haben lustige Namen, wie »Irish Peach« (Irischer Pfirsich) oder »Bloody Butcher« (Blutiger Schlächter).
Der Boden auf unserem Land ist karg und felsig. Für mich ist es mühsam, dort Pflanzlöcher zu graben und für die Apfelbäume dort Wurzeln zu schlagen. Ohne den Windschutz von Felsen, Hecken oder dem Farmhaus haben die Bäume keine Chance. In manchen Jahren erfriert die Blüte, dann wieder reißt ein Orkan die unreifen Früchte von den Trieben. Wenn es das nicht ist, sind es die Krähen, die sich über die Früchte hermachen und manchmal wohl auch liebe Mitmenschen, die sich selbst zur Ernte einladen, wenn die Farm verlassen daliegt, weil gerade keiner aus unserer Familie dort Urlaub macht. Dennoch, manchmal komme ich in den Genuss, in einen dieser Äpfel zu beißen, und dann ist das für mich der leckerste Apfel der Welt.
Der Apfelbaum zählt zu den Rosengewächsen und stammt ursprünglich aus dem Tian-Shan-Gebirge in Zentralasien. In Kasachstan etwa existieren noch rund 11 000 Hektar Apfelurwälder. Die Wildäpfel finden in dieser Gegend auf einer Höhe zwischen 700 und 1 500 Metern über dem Meeresspiegel ideale Wachstumsbedingungen und weisen die weltweit höchste genetische Vielfalt auf. Almaty, mit rund zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt Kasachstans, hieß früher Alma-Ata, was aus dem Kasachischen übersetzt »Vater der Äpfel« bedeutet. Die unglaublich artenreichen Obsturwälder, in denen auch wilde Pflaumen, Kirschen, Birnen, Aprikosen und Walnüsse wachsen, sind in ihrem Bestand bedroht. Während der Ära der Sowjetunion ließ Stalin bereits die Axt an die wilden Apfelbäume legen, um die Wälder durch Plantagen zu ersetzen. Heute ist Überweidung ein Problem. Durch die chronischen Versorgungsengpässe zu Sowjetzeiten begünstigt, hat sich in der ländlichen Bevölkerung eine subsistente Nutzung der Obstwälder etabliert. Zur Erntezeit nimmt man das Vieh mit auf die Waldweide, was zur Folge hat, dass es die jungen Apfelsetzlinge frisst und damit die natürliche Verjüngung der Wälder behindert. Hieraus lässt sich die Lehre ziehen, dass man den Obstwald nur zyklisch als Weide nutzen sollte,