Tuch entsetzt fallen. Wenig später lief er kopflos davon, mit zitternden Knien, atemlos, ohne anzuhalten an seinem Wagen vorbei bis zu der nächsten Straße. Er wanderte eine Zeit lang völlig abwesend hin und her, dann hob sich automatisch sein Arm, als ein Auto kam, und er ließ sich bis zum Ortseingang mitnehmen. Zu Fuß ging er nach Hause.
In der Nacht hatte er einen schrecklichen Albtraum. In Schweiß gebadet wachte er auf. Kaltes Entsetzen machte sich in ihm breit. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Am anderen Morgen machte er sich mit seinem Fahrrad auf den Weg, warf es in den Bulli und verließ die Stätte des Grauens.
I
Es war sehr früh und die Dunkelheit lag über der Landschaft wie ein graues Tuch, als der Hahn auf dem Hof zu krähen begann.
Blödes Vieh, dachte ich und drehte mich genervt ob der Störung auf die andere Seite. Jeden Morgen war es dasselbe, sobald der Hahn wach war, konnte auch ich nicht mehr richtig schlafen. Eine Stunde lang wälzte ich mich unruhig hin und her. Es war kaum fünf Uhr, da hielt ich es im Bett nicht mehr aus und stand auf.
Mit meinen neunundvierzig Jahren fühlte ich mich noch nicht alt, obwohl ich bereits in Pension war, zumindest war das im Ort die Erklärung dafür, dass ich meinen Beruf aufgegeben hatte. Für meine Verwandtschaft war ich als alleinstehende Frau für alle auf dem Hof die Tante Lisbeth oder Elli. Früher hatte ich meinen Namen gehasst, wer sagt hier in Westfalen schon Elisabeth? Die meisten Leute im Dorf nennen mich Lisbeth. Und vor langer Zeit hatte mich jemand Betty genannt, allerdings werde ich an denjenigen keinen Gedanken mehr verschwenden.
Brummelnd und vor mich hin murmelnd schlurfte ich ins Bad. Kurz darauf schlüpfte ich in meine alte, speckige Lederhose, zog die festen Wanderschuhe an und holte meine dunkelgraue Lodenjacke hervor. Meine halblangen Haare stopfte ich unter den alten braunen Lederhut mit der breiten Krempe, den ich von meinem Vater geerbt hatte und stapfte langsam und gemütlich über den Hof, wohl wissend, dass zu so früher Stunde kein Mensch draußen auf mich wartete.
Viele Jahre hatte ich in der Stadt gewohnt und dort am Gymnasium unterrichtet. Mein Zimmer auf dem Hof meiner Eltern wollte ich trotzdem nie aufgeben. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, jungen Leuten etwas beizubringen und zog wieder auf den Hof. Die Erbschaft einer Tante mütterlicherseits machte es mir möglich, vorzeitig aus dem Schuldienst auszuscheiden. Mein Vater hatte mir ein Wohnrecht vermacht, aber ich stellte schnell fest, dass es besser war, ein wenig Abstand von der Familie meines Bruders zu haben. Nicht, weil wir uns nicht mochten oder weil es Streit gab, nein, wir waren einfach zu verschieden und meine Interessen waren andere als die meiner Schwägerin oder meines Bruders. So kaufte ich meinem Bruder Hermann den alten, verfallenen Kotten neben dem Hof ab und verzichtete dafür auf das Wohnrecht. Ich nahm mir einen guten Architekten, und aus dem baufälligen Gebäude wurde ein schmuckes Häuschen. Den Garten habe ich selbst angelegt, er ist mein ganzer Stolz. Seit ich in meinem eigenen Haus wohnte, hatte ich häufig Gäste, nahm meiner Schwägerin hin und wieder die Einkäufe ab oder beaufsichtigte die Kinder bei den Schulaufgaben, ansonsten führte ich mein eigenes Leben. Mein Tag war immer ausgefüllt mit Lesen, Schreiben, Wandern, Theaterbesuchen, Kirchgang und von den vielen Vereinen, in denen ich mich engagiere.
Ich schlug den Weg zum Hühnermoor ein, um das sich allerhand Gruselgeschichten über einen ermordeten Abt ranken, der dort geräuschvoll herumspuken soll. Obwohl mir häufig, wenn ich meine Spaziergänge machte, die alten Geschichten in den Sinn kamen, kannte ich keine Angst und ich schritt zügig voran. Der Wind hatte nachgelassen, die ersten Vögel sangen und die Morgensonne kam hinter dem Wald hervor. Eine halbe Stunde später war ich am Moor angekommen und beobachtete ein Stockentenpärchen, das auf dem kleinen Teich seine Runden schwamm. Leichter Dunst lag über dem Wasser und ich setzte mich auf einen Baumstamm zu einer kurzen Rast.
Es hatte viel geregnet in letzter Zeit und überall hatten sich mehr oder weniger große Pfützen gebildet. Das Moorgras war kaum zu sehen, nur einige alte Baumstämme und bemooste Zweige ragten gespenstisch aus dem morgendlichen Nebel.
Es dauerte einige Zeit, bis sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, dann sah ich auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Erlen ein helles Fahrzeug. Ich stand auf und fixierte den Wagen, konnte das Modell aber nicht genau erkennen. Verärgert, dass jemand das Naturschutzgebiet als Parkfläche benutzte, stapfte ich rund um das Moor, um das Objekt näher in Augenschein zu nehmen. Ich versuchte möglichst leise zu sein, denn ich war sicher, dass dort, wie so häufig, Müll entsorgt wurde. Es war ein Bulli, der dicht hinter einem Gebüsch stand. Er war vom Weg her schwer auszumachen. Ohne auf die Zweige zu achten, die mein Gesicht zerkratzten, umrundete ich das Gefährt und stellte fest, dass es sich um einen relativ neuen, silberfarbenen Wagen ohne Kennzeichen handelte.
Kopfschüttelnd trat ich auf den Weg zurück, nahm den Hut vom Kopf, befreite ihn von Blättern und Zweigen, stülpte ihn erneut auf und schimpfte leise vor mich hin: »Bestimmt gestohlen! Ich muss unbedingt zur Polizei!«
Augenblicklich marschierte ich zum Hof zurück. Unterwegs überlegte ich es mir anders. Zuerst wollte ich Bauer Liedmann befragen, vielleicht wusste er, wem das Fahrzeug gehörte. Zu Hause angekommen, erzählte ich Ralf, meinem Neffen, davon und wurde gleich darüber aufgeklärt, dass er einen solchen Wagen, allerdings mit rotem Nummernschild, auf Liedmanns Hof gesehen habe. Sicher hatte ein Bekannter von Liedmann ihn dort abgestellt. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Gab es nicht Scheunen genug in der Umgebung, um ein Fahrzeug unterzustellen?
In der darauffolgenden Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Ein starker Wind war aufgekommen und dunkle Wolken schoben sich in schnellem Wechsel über den Halbmond. Ich stand am Fenster meines Schlafzimmers und ließ die frische Luft hereinwehen. In letzter Zeit passierte es mir oft, dass ich in der Nacht erwachte und mich vollkommen ausgeschlafen fühlte. Nach kurzem Überlegen entschloss ich mich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Ich ließ das Licht in der Diele brennen und war schon um den Garten herumgegangen, als mir mein Handy einfiel, das ich vergessen hatte. Schnell ging ich zurück, holte es und schloss sorgfältig die Haustür hinter mir ab.
Der tobende Sturm war genau die richtige Untermalung für all die Gruselgeschichten, die von dem armen Abt berichten, dessen Sarg bei einem stürmischen Gewitter Anfang des achtzehnten Jahrhunderts im Hühnermoor mitsamt der Kutsche und dem Kutscher in dem kleinen Teich untergegangen sein soll. Ängstliche Gemüter glauben, dass er noch heute im Moor herumwandert. Sollte mir der Geist einmal begegnen, würde es ihn sicher schnell vertreiben, wenn ich mein Handy benutzte.
»Lisbeth ist wieder auf Wanderung, in ihrer Diele brennt Licht«, sagte Hermann Landner zu seiner Frau, die sich ebenso wie er unruhig in ihrem Bett wälzte.
Gerda Landner zog die Decke weit über den Kopf und murmelte: »Keine zehn Pferde brächten mich bei diesem Sturm hinaus.«
»Du hast ja auch mich«, lächelte er in die Dunkelheit und strich seiner Frau sanft übers Haar.
Gerda seufzte. »Warum hat Elisabeth damals den Alfred nicht geheiratet? Dann wäre sie heute nicht allein.«
Ihr Mann rückte näher zu ihr und sie kuschelte sich an ihn. »Vielleicht hat sie ihn nicht geliebt«, flüsterte er nachdenklich.
Gerda lachte auf. »Quatsch, er hat sich so sehr um sie bemüht. Zudem war er ein recht fescher Kerl. Die beiden passten hervorragend zusammen.«
»Ich wüsste gerne, was aus ihm geworden ist. Seit damals habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Gerda richtete sich im Bett auf und Hermann konnte ihre Umrisse im schwachen Licht, das durch die Rollläden drang, deutlich erkennen.
»Der lässt sich hier nicht mehr blicken. Deine Schwester hat sich aufgeführt wie eine Furie und hat ihn hinausgeworfen. Keiner weiß warum, und ich verstehe es bis heute nicht. So ein netter Mensch und bestimmt aus gutem Hause, so höflich wie er war!«
»Die Elisabeth hat halt ihren eigenen Kopf. Es nützt nichts, nach so langer Zeit darüber zu spekulieren.« Hermann gähnte. »Lass uns noch ein wenig schlafen.«
Der Bulli war nicht mehr da und nur die tiefen