hätte ich das Ganze besser verarbeiten können, aber er kam weder in der Tatnacht noch in der darauffolgenden Nacht. Nachdem ich zwei Tage lang ohne jegliche Nachricht von ihm oder seinen Eltern geblieben war, reiste ich mit Einwilligung der Behörden ab.
Zu Hause entschuldigte ich Alfred damit, dass er für einige Zeit bei seinen Eltern unabkömmlich sei. Über den Mord in dem Ferienhaus sprach ich nicht. Ich grübelte darüber nach, wer wohl der Mörder war und warum Alfred ausgerechnet an diesem Tag nicht zurückgekommen war. Außerdem war mir schleierhaft, warum die Tür zum Häuschen abgeschlossen war. Die Polizeibeamten erklärten mir, dass in allen Mordfällen die Zimmertüren verschlossen gewesen waren. Der Mörder musste über einen ganzen Satz passender Schlüssel verfügen oder er war in der Lage, Schlösser zu öffnen ohne jegliche Spuren zu hinterlassen.
Ich war seit zwei Tagen zu Hause, als Alfred kam. Die Familie war gerade beim Abendessen, meine Mutter ging hinaus und begrüßte ihn herzlich. Liebenswürdig wie immer und ohne sich das Geringste anmerken zu lassen, kam er in die Küche, in der wir an dem großen Tisch saßen.
Mein Vater schob ihm freundlich einen Stuhl hin. »Setz dich zu uns, Alfred. Ist bei deinen Eltern alles in Ordnung?«
Alfred nickte lächelnd. »Danke, sie sind etwas im Stress, aber zur Hochzeit kommen sie auf jeden Fall.«
Er beugte sich zu mir hinunter, gab mir einen Kuss und setzte sich, während meine Mutter eilfertig einen weiteren Teller und Besteck holte.
Ich sah Alfred an und sprang auf. »Dass du dich überhaupt noch hertraust!«, zischte ich ihn an. »Mich einfach so allein zu lassen, ohne jegliche Nachricht!«
»Liebes, ich habe dir gesagt, ich fahre zu meinen Eltern!«
»Sicher hast du das gesagt!«, bemühte ich mich einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Du hast auch gesagt, du bist in zwei Tagen zurück, stattdessen bist du nicht gekommen. Gibt es bei deinen Eltern kein Telefon?«
»Elisabeth!« Mutter schüttelte tadelnd den Kopf.
»Ich erkläre es dir nachher, ja?!« Alfred lächelte mich bittend an und ich setzte mich schmollend wieder an den Tisch.
Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang. Alfred erzählte von seinen Eltern und ihren geschäftlichen Schwierigkeiten und kam zum Schluss mit der Tatsache heraus, dass seine Eltern unmöglich der Hochzeit beiwohnen könnten.
»Was hat unsere Hochzeit mit geschäftlichen Schwierigkeiten zu tun? Deine Eltern müssen nichts bezahlen, ich möchte sie nur dabeihaben«, empörte ich mich.
Alfred hörte geduldig zu und beschwichtigte: »Wir reisen hin, sobald sie alles geregelt haben.«
Anfangs schmollte ich, ließ mich aber besänftigen, schließlich wollte ich Alfred und nicht seine Eltern heiraten. Dann berichtigte ich ihm von dem Mordfall im Hotel.
»Das tut mir leid, ich konnte nicht ahnen, dass so etwas passiert!« Er nahm mich in die Arme und küsste mich und endlich, nach Tagen des Zorns, fühlte ich mich getröstet und beruhigte mich langsam. Mit Alfred sprach ich nicht mehr über seine Eltern, denn ich hatte gespürt, wie sehr es ihn bedrückte, dass sie nicht kommen konnten.
Drei Tage später war er für seine Firma unterwegs nach Norddeutschland und ich machte mich auf den Weg nach Heidelberg.
Ich wusste nur den Straßennamen, doch Alfred hatte von einem großen Haus mit Garten erzählt, von einem Dienstmädchen und einer Köchin; da würde es sicher kein Problem sein, seine Eltern zu finden. Mit klopfendem Herzen ging ich die Straße entlang. Es war eine vornehme Villengegend mit imposanten Häusern.
War ich seinen Eltern nicht gut genug? Oder hatte sich Alfred geschämt, mich ihnen vorzustellen? Ich kam mir klein und schäbig vor angesichts des Reichtums in dieser Straße, obwohl der Bauernhof meiner Eltern durchaus nicht armselig zu nennen war.
Aufmerksam betrachtete ich die Klingelanlagen an den Toren, fand aber nirgends den Namen Derfeld, da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein Postbote fuhr von Haus zu Haus, ich ging auf ihn zu und fragte ihn.
»Derfeld? Nein, in dieser Straße gibt es niemanden, der so heißt.«
»Es muss hier sein!«, beteuerte ich.
Der Postler schüttelte den Kopf. »In dieser ganzen Siedlung gibt es einen derartigen Namen nicht, da bin ganz sicher! Sie müssen sich irren.« Er hob seine Hand zum Gruß an die Mütze und fuhr davon.
Anfangs war ich ratlos, dann ging ich zum Einwohnermeldeamt und erkundigte mich dort. Auf dem Amt kannte man nur den Namen Alfred Derfeld. Die Anschrift gab man mir nicht, aber ich forschte im Telefonbuch und wurde fündig. Seine Wohnung war in einem Hochhaus im dritten Stock. Ich fuhr zu dieser Adresse, hastete die Stufen hinauf und klingelte. Nach mehrmaligen Versuchen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Eine alte Dame mit Lockenwicklern auf dem Kopf und einem geblümten Kittel sprach mich an: »Herr Derfeld ist nicht da. Ist beruflich unterwegs.«
»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, hakte ich nach.
Die Alte wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Er war erst letzte Woche ein paar Tage da. Soll ich ihm etwas bestellen?«
Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und fuhr davon. Auf dem Weg nach Hause zermarterte ich mir das Hirn, warum er mir so viele Lügen aufgetischt hatte. Kam noch etwas dazu? Waren Stellung und Beruf ebenfalls erfunden? Ich kam mir ausgenommen und verraten vor. Ich wusste nichts von ihm, außer dem, was er mir erzählt hatte. Wo war er in der Zeit, als der Mord im Wochenendhaus geschah? In seiner Wohnung, wie es die Nachbarin gesagt hatte? Vielleicht mit einer anderen Frau? Oder hatte er etwas mit dem Mord zu tun? Die ganze Fahrt über grübelte ich. Zu Hause sprach ich allerdings mit niemandem darüber.
Eine Woche später kam Alfred zurück, gut gelaunt und liebenswürdig wie eh und je. Er hatte in den letzten Wochen immer unser Gästezimmer benutzt und war gerade auf dem Weg dorthin.
Ich ging ihm entgegen und zischte: »Du kannst deine Sachen packen! Wir sind geschiedene Leute!«
Ungläubig starrte er mich an. »Was soll das heißen? Kannst du mir das zumindest erklären?«
»Hauptstraße 97, dritter Stock«, fauchte ich ihn an.
Er wurde blass und stotterte: »Du weißt…?«
Ich nickte. »Lügner sind in diesem Haus nicht willkommen. Pack deine Sachen und lass dich hier niemals mehr blicken!«
Ich hatte mir vorgenommen, ruhig zu bleiben, stattdessen hörte ich meine eigene keifende Stimme im Haus widerhallen und augenblicklich öffnete sich die Küchentür und meine Schwägerin stand mit aufgerissenen Augen im Türrahmen.
»Was ist denn hier los?«, ging sie dazwischen.
Ich wurde rot vor Wut, ohne dass ich es wollte, klatschte meine Hand auf seine Wange und hinterließ dort deutliche Spuren, dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief mit wehendem Rock und tränenüberströmtem Gesicht davon.
Alfred Derfeld stand einen Moment verdutzt da, schüttelte sich, ging in das Gästezimmer, packte seine Sachen und verschwand vom Hof. Gerda wollte ihn zurückhalten, aber er eilte stumm an ihr vorbei, stieg in seinen Wagen und wurde nie wieder in unserer Gegend gesehen.
Ohne Kommentar ertrug ich die Empörung meiner Familie über mein unmögliches Benehmen und die Frage nach den Gründen unseres Streites. Niemandem verriet ich, was vorgefallen war. Ich verschloss mich jeder Frage und Anteilnahme, bewarb mich um eine Stelle in Süddeutschland und ließ mich für Jahre nach Singen am Hohentwiel versetzen, woraus dann zehn Jahre wurden, bis ich nach Ostwestfalen zurückkam. Danach arbeitete ich bis zu meiner Frühpensionierung am Gymnasium der Kreisstadt.
Von Singen aus forschte ich allerdings gründlich nach der Familie Derfeld. Viel kam nicht dabei heraus, außer dass die Derfelds einst relativ wohlhabend waren. Jahre bevor ich Alfred kennenlernte, gerieten sie in eine finanzielle Krise und verloren Haus und Firma. Alfreds Vater nahm sich das Leben, kurze Zeit später ebenfalls die Mutter. Nach seinem zwölften Lebensjahr wurde Alfred in einem Heim untergebracht, danach verlor sich jede Spur von ihm.