dass die Sonne hoch am Himmel stand, kaum eine Wolke zu sehen war und ein Blick zur Uhr sagte mir, dass es schon elf Uhr durch war. Ich schaute einem Sperber nach, der fast direkt über mir flatternd in der Luft stand und nach Beute Ausschau hielt. Plötzlich drehte er ab und flog davon.
So einen Überblick müsste man haben, von ganz da oben, und natürlich das gute Auge des Sperbers, der selbst eine Maus aus der Entfernung erkennen konnte, dachte ich und grübelte auf dem Heimweg darüber nach, wo ich schon einmal diesen dunkelroten Granatohrring gesehen hatte.
Es war am nächsten Tag um drei Uhr in der Frühe, als ich aufwachte und es mir schlagartig einfiel: Im letzten Sommer hatte ich einen Einkaufsbummel in Gütersloh gemacht und nach mehrstündigem Gang durch die Geschäfte bekam ich Lust auf ein leckeres Eis und ich setzte mich an einen Tisch vor einer Eisdiele am Dreiecksplatz. Eine Kellnerin, bekleidet mit weißer Bluse und schwarzem, langem Rock und einer ebenso schwarzen Schürze, erkundigte sich nach meinen Wünschen. Sie trug ihr blondes Haar hochgesteckt und an ihren Ohren hingen rote Ohrringe in der Form eines Tropfens. Ähnelten sie nicht dem, den ich bei dem Mordopfer am linken Ohr gesehen hatte?
Ich konnte mich nicht mehr so genau erinnern, sprang aus dem Bett, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Wie es meine Art war, hatte ich kein Licht gemacht und sah durch das Küchenfenster hinaus. Ein sternenklarer Himmel hob sich leicht von den hohen Eichen des Hofes ab, deren Wipfel sich sanft im Wind bewegten. Gemächlich ging ich mit dem Glas in der Hand durch das dunkle Haus bis zur Terrasse auf der anderen Seite, öffnete weit die Tür nach draußen und setzte mich auf die hölzerne Bank neben der Tür. Tief atmete ich die frische Nachtluft ein und überlegte, ob die Eisverkäuferin die Tote sein könnte.
Ein merkwürdig heulendes Geräusch ließ mich zusammenfahren. Einen Moment lang hielt ich den Atem an, dann vernahm ich es wieder. Es klang wie ein entfernter, lang gezogener Sirenenton, fast wie das Heulen eines Wolfes. Schlagartig fiel mir ein, dass es der Welpe von Liedmanns sein musste, dessen Mutter kürzlich von einem Auto überfahren worden war, und das Tier jaulte nach seiner Mutter. Liedmanns hatten versucht, für ihn eine Hundeamme zu finden, was allerdings bisher nicht gelungen war, und so blieb ihnen nur der Versuch, das Junge mit der Flasche aufzupäppeln. Trotzdem hatte das Tierchen Heimweh nach der Mutter, was es mit durchdringendem Gewinsel zum Ausdruck brachte.
Mein Glas war leer, ich stellte es auf dem Gartentisch ab und ging auf der steinernen Terrasse auf und ab. Nach kurzer Zeit gab ich das Grübeln auf und beschloss, am Morgen in die Stadt zu fahren und der Sache auf den Grund zu gehen. Mit diesem Gedanken ging ich zu Bett und schlief tatsächlich noch einmal fest ein.
II
Herzhaft gähnend öffnete Hauptkommissar Tann die Tür zu seinem Büro im Kommissariat an der Herzebrocker Straße und setzte als Erstes die Kaffeemaschine in Gang. Erst danach schaltete er den Computer ein und sah flüchtig die Post durch. Er war völlig übermüdet. Vor drei Tagen war seine Frau mit dem Erstgeborenen aus dem Krankenhaus zurückgekommen und seitdem gab es in seinem Hause keine ruhige Nacht mehr. Das kleine Windelbündel hatte es geschafft, seine Eltern mit seiner durchdringenden Stimme zu steter Wachsamkeit zu zwingen. Fahrig goss er sich einen Kaffee ein und studierte gerade die Bilder des Polizeifotografen von der Moorleiche, als sein Kollege Alfons Weiß hereinkam.
»Na, wie geht es der jungen Familie?«, sprudelte er schmunzelnd heraus und nahm sich ebenfalls einen Kaffee.
Tann grinste. »Hervorragend! Mutter und Sohn wohlauf, Vater k.o.«
Weiß fuhr sich durch sein struppiges, rotes Haar und stichelte freundschaftlich: »So muss das sein! Warum soll es dir besser gehen als anderen? So ein Wonneproppen macht die Nacht zum Tag.«
»Trotzdem ist es ein irres Gefühl, so einen Winzling im Arm zu halten«, lächelte Tann versonnen und schenkte sich erneut Kaffee ein.
Einen kurzen Moment war es still, bis Alfons Weiß sich nach dem neuen Fall erkundigte.
»Morgen bekomme ich den Bericht der Rechtsmedizin. Die Leiche lag einige Tage im Moor, das ist sicher«, sagte Tann, fischte aus seinem Ablagekörbchen ein Schreiben und reichte es Weiß.
»Was ist mit dieser Lehrerin, die die Leiche gefunden hat?«, hakte Weiß nach, nachdem er den Text gelesen hatte.
»Eine merkwürdige Person, behauptet, schon zwei Tage vorher das Bündel gefunden zu haben. Anstatt die Polizei zu rufen, hat sie erst abgewartet, dadurch sind uns sicher wichtige Spuren verloren gegangen«, ärgerte sich Tann.
»Hast du sie überprüfen lassen?«
Tann nickte. »Keine Auffälligkeiten. Neunundvierzig Jahre alt, früh pensioniert, eine von diesen alten Schachteln, die immer alles besser wissen, aber ansonsten harmlos sind.«
»Alte Schachtel? Mit neunundvierzig? Das solltest du mal meiner Schwester erzählen, sie würde dich lynchen«, lachte Weiß. »Gibt es sonstige Anhaltspunkte zu der Getöteten, Freunde, Familie?«
Tann stand auf, ging ans Fenster, öffnete es weit und sah hinaus. »Die Familie wohnt in Bad Oeynhausen, die Vernehmung wird dort vor Ort gemacht. Sie wohnte zusammen mit ihrem Freund in Harsewinkel in einer gemeinsamen Wohnung. Sein Alibi ist absolut wasserdicht. Die Kleine war Kellnerin im Stadtcafé. Vielleicht können wir dort etwas erfahren.«
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, kündigte Weiß an, ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und schlug grinsend vor: »Mach heute früher Schluss, frisch gebackene Väter werden zu Hause gebraucht!«
Tann seufzte tief und dachte etwas wehmütig, aber voller Stolz an seinen Sohn, der mit Inbrunst nach seiner Mutter schrie, bis sie ihn an die Brust nahm und seinen Hunger stillte.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich erwachte. Es war bereits neun Uhr und vom Hof her hallten die Geräusche des laufenden Traktors. Schnell sprang ich aus dem Bett und eine Stunde später saß ich im Wagen, fuhr am Flughafen vorbei in Richtung Gütersloh.
Mein erster Weg führte vom Parkplatz neben dem Wasserturm zum Eiscafé am Dreiecksplatz. Ich bestellte einen Kaffee und musterte die drei Kellnerinnen. Die hatten dunkles Haar. Nach einiger Zeit erkundigte ich nach ihrer Kollegin mit den blonden Haaren, die vor einem Jahr hier bedient hatte. Die Serviererin vor mir klimperte mit ihrer Geldtasche und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Blond? Wir haben keine Blonde, wir sind alle brünett«, entgegnete sie mit leichtem Akzent und schaute dabei ratlos zu ihrer Kollegin hinüber, die hinter der Theke gerade Spaghetti-Eis presste und es mit rotem Erdbeersaft und Kokosflocken verzierte. Kurz darauf gesellte sich diese zu uns und ich wiederholte meine Frage nach der Blondine.
»Bestimmt eine Aushilfe«, sinnierte sie, hob den Kopf in den Nacken, als schaue sie den Tauben nach, die über den Platz hinwegflogen, und nach einigem Nachdenken fuhr sie fort: »Ich weiß jetzt, wen Sie meinen könnten. Es war bestimmt Manuela. Sie ging noch zur Schule, hatte so rote Hänger in den Ohren.« Sie stieß ihre Kollegin an und beide bemühten sich, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Unter Prusten und Kichern erzählten sie mir dann, dass ein blondes Mädchen ausgeholfen habe und plötzlich ein Gast einen ihrer Ohrringe im Eis entdeckt habe. Nach seiner Beschwerde habe der Chef Manuela sofort gekündigt.
»Können Sie mir den Ohrring beschreiben?«
Sie nickte. »Rot war er, wie ein Tropfen, der an einer kleinen Kette baumelte. Ich glaube, es war ein Granat.«
In diesem Augenblick rief jemand und die beiden Mädchen schwirrten kichernd davon, um neue Gäste zu bedienen. Ich rührte gedankenverloren in meinem Kaffee und betrachtete dabei einen Gärtner, der dem Rasen auf dem Dreiecksplatz einen neuen Schnitt verpasste. In der Annahme, mehr zu erfahren, zahlte ich an der Kasse und erkundigte mich bei einem Herrn, der seine schwarzen, dichten Haare modisch mit hellen Strähnen aufgepeppt hatte und allem Anschein nach der Chef war, ob die blonde Kellnerin, die in den Sommerferien bedient hatte, gerade Urlaub machte.
»Blond?« Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und blockte ab: »Eine Blondine haben wir hier nicht beschäftigt.«