allerdings war ihre These nicht von der Hand zu weisen, außerdem hatte ich ohnehin eigene Vorstellungen vom Täter und der arbeitete nicht in einem Eiscafé.
Die Tage vergingen schnell. Es war schon wieder Dienstag und der Nachhilfeunterricht stand an. Edvina Schneeberg kam etwas später und ich widmete mich inzwischen zwei anderen Schülern, die gerade erst angefangen hatten, bis sie eine Entschuldigung murmelnd, hereinkam und ihre Utensilien ausbreitete.
Sie reichte mir ihr Heft zur Korrektur. Alle Schüler erhielten nach dem Unterricht von mir eine kleine Aufgabe, die sie möglichst selbstständig erledigen sollten. Sie sah mich gespannt an. Es war eine Zusammenfassung über ihren Tagesablauf, ähnlich einem Tagebuch in Englisch. Edvina hatte sich Mühe gegeben und ich hatte wenig auszusetzen. Mit ihrer schönen, klaren Schrift hatte sie einen fehlerfreien Text zu Papier gebracht, der bei einer Klassenarbeit mit Sicherheit eine gute Note bekommen hätte. Zwar war die Ausdrucksweise manchmal nicht ganz korrekt, aber ich war begeistert, wie sich meine Schülerin verbessert hatte.
»Das Abitur dürfte für dich kein Problem sein, Edvina«, lobte ich und erklärte ihr einige Feinheiten.
»Papa hat auch gesagt, es ist gut«, verriet sie fröhlich und warf ihr Haar zurück, sodass der rote Ohrring hin und her schwang.
»Du hast wunderschöne Ohrringe«, wechselte ich das Thema.
Edvina lächelte stolz. »Es ist nur einer, Frau Landner. Papa war in dieser Woche zwei Tage zu Hause. Gestern Abend musste er leider weg und heute Morgen, als ich die Zeitung geholt habe, lag ein Umschlag im Briefkasten, da war der Ohrring drin.«
Ich starrte sie an, wollte etwas antworten, überlegte es mir anders und besprach mit ihr stattdessen ihren Text. Sie bemerkte meine Unruhe.
»Ist etwas nicht in Ordnung? Sie sind so blass?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Meine Migräne macht mir momentan zu schaffen. Es ist nicht so wichtig.«
»Sie sollten sich unbedingt untersuchen lassen. Meine Mutti hatte ständig Kopfschmerzen, und dann fanden die Ärzte heraus, dass es es ein Tumor war.«
Sie sah mich bei diesen Worten traurig an und ich stellte ihr die Frage, die mich seit Langem interessierte: »Wie alt warst du, als deine Mutter starb?«
»Dreizehn, aber sie fehlt mir bis heute.« Die direkte Antwort brachte mich in Verlegenheit, doch Edvina lächelte schon wieder. »In der ersten Zeit nach ihrem Tod bin ich jeden Tag zum Friedhof gegangen und habe ihr erzählt, was ich gemacht habe, wenn Papa nicht zu Hause war.«
Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen und mir wurde zum ersten Mal schmerzlich bewusst, dass es nie ein Kind geben würde, das so von mir sprach.
»Deinen Vater hat es sicher genauso schwer getroffen.«
Sie nickte nur schweigend und vertiefte sich nun intensiv in den Text, den ich ihr zum Durcharbeiten gegeben hatte.
An diesem Tag ging ich nach der Unterrichtsstunde einkaufen und kam spät heim. Mein Anrufbeantworter hatte eine Nachricht von Kirsten Vollmann gespeichert. Ich rief sie sofort an und erfuhr, dass die tote junge Frau, die ich im letzten Jahr im Eiscafé gesehen hatte, im Frühling im Stadtcafé bedient hatte.
»Man konnte sie nach dem Praktikum in der Stadtverwaltung nicht übernehmen. Sie hat dann kurzfristig bei ihren Eltern in Bad Oeynhausen gelebt. Im Frühling ist sie mit einem Freund zusammengezogen, der in Harsewinkel wohnt und hat dort bis zu ihrem Tod als Bedienung im Stadtcafé gearbeitet«, berichtete Kerstin.
»Merkwürdig, ich war erst vor einigen Wochen da, habe sie aber nicht gesehen«, murmelte ich nachdenklich.
»Vielleicht hatte sie Urlaub oder gerade ihren freien Tag, als du da warst«, meinte Kirsten. »Du könntest dich ein wenig umhören.« Ich versprach es. »Elli, ich muss jetzt leider auflegen, im Büro ist momentan der Teufel los!«, verabschiedete sie sich hektisch von mir.
Schade, denn ich wollte ihr von Edvinas Ohrring erzählen. Ich musste wohl oder übel auf einen günstigeren Zeitpunkt warten.
An diesem Abend blieb ich bis nach Mitternacht auf und schlief dementsprechend bis zum Morgen durch, unternahm einen weiten Spaziergang und kam zu Mittag zurück. Nach dem Essen las ich die Zeitung, schrieb einige längst fällige Briefe, duschte und kleidete mich sorgfältig an. Am Nachmittag wollte ich mich einmal richtig verwöhnen und machte mich gegen vier Uhr auf ins Stadtcafé. Mitten im Zentrum der Stadt in einer kleinen Sackgasse, berankt mit Weinlaub, lag das Café. Seele und Besitzerin war Karin Mann, eine reizende, etwas rundliche Mittfünfzigerin, mit freundlichen braunen Augen und einem umwerfenden Lächeln.
Als ich den gemütlichen Raum betrat, wählte ich den Tisch in der Fensterecke und bestellte Karins berühmte Preiselbeertorte. Während ich Kaffee und Kuchen genoss, beobachtete ich verstohlen die anderen Gäste. Zwei Herren mittleren Alters unterhielten sich angeregt. Die beiden Frauen, die an verschiedenen Tischen an ihrem Kaffee nippten, hatten sich in die Tagespresse vertieft und ein wenig abseits saßen vier ältere Damen, deren munteres Geplauder immer wieder durch ein Lachen unterbrochen wurde.
Die Kellnerin, eine dunkelhaarige Frau Mitte dreißig, klapperte mit dem Geschirr, als erwarte sie Heerscharen von Gästen. Leise Musik überdeckte sanft alle anderen Geräusche, wenn nicht gerade das helle Lachen vom Kaffeekränzchen herüberschallte.
Fast eine Stunde lang saß ich in meiner Ecke, rief dann die Bedienung und zahlte. Sie räumte mein Geschirr auf ein Tablett und ich schlüpfte in meine Jacke, als plötzlich Karin Mann auftauchte und mich herzlich begrüßte. Wir hatten uns lange nicht gesehen und ich begleitete sie in die Küche.
Als ich mich bei ihr nach der blonden Serviererin erkundigte, wurde sie ärgerlich und schimpfte: »Das sind die jungen Dinger! Erst betteln sie, dass man sie einstellt und wenn es darauf ankommt, bleiben sie einfach weg!«
Ich verriet ihr nicht, dass ihre Kellnerin tot war, das würde sie früh genug von der Polizei erfahren, und sagte nur: »Vielleicht gibt es nachvollziehbare Gründe, warum sie nicht zurückgekommen ist. Hast du nicht bei ihr angerufen?«
»Anrufen? Ich?«, empörte sie sich. »So weit kommt das noch! Ich habe die Papiere fertig gemacht und sie ihr zugeschickt. Hier will ich sie nicht mehr sehen. In letzter Zeit habe ich ohnehin nur Scherereien mit dem Personal!«
»Wieso? Hat das Mädchen etwas angestellt?«
Sie winkte entrüstet ab. »Unpünktlich war sie und eine Lügnerin obendrein! So etwas kann ich nicht gebrauchen! Ich erwarte von einer Arbeitskraft korrektes, ordentliches Verhalten.«
»Lügnerin, wieso?«
Karin machte eine abwertende Handbewegung. »Immer dasselbe. Kaum fangen sie an, wollen sie gleich einen freien Tag oder etwas eher gehen. Sie erzählte mir, sie habe einen Zahnarzttermin. Wenn du das Auto gesehen hättest, mit dem sie abgeholt wurde, wüsstest du, dass sie etwas anderes vorhatte.«
»Was war es denn für ein Wagen?«, hakte ich nach.
»So ein aufgeputzter Schickimicki-Schlitten, die Marke kenne ich nicht.«
»Vielleicht hat ihr Freund so einen Wagen«, warf ich ein.
»Auf keinen Fall«, hielt sie dagegen. »Der hat sie einmal vorbeigebracht, der machte einen vernünftigen Eindruck.«
»Und wie sah der Mann aus, der sie abgeholt hat?«
»Keine Ahnung, ich habe nur das Auto gesehen. Zum Zahnarzt sind die bestimmt nicht gefahren!«, ließ sie sich von ihrer Meinung nicht abbringen.
Zu Hause dachte ich noch einmal über ihre Worte nach und musste ihr recht geben. Sie lebte von den Gästen und kam nicht umhin, darauf zu achten, dass ihre Bedienung dem gehobenen Anspruch ihres Hauses gerecht wurde. Trotzdem wollte ich versuchen, mehr zu erfahren. Besonders interessierte mich, wer ihr Freund und wer die Person war, die sie vom Café abgeholt hatte.
Kirsten Vollmann hatte mir eine Adresse genannt und weil ich eine begeisterte Radfahrerin bin, machte ich mich abends auf den Weg, über den