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Uli Zeller
Frau Krause
macht Pause
Andachten zum Vorlesen
für Menschen mit Demenz
Bibeltexte zitiert aus der Lutherbibel, revidierter Text 1984,
durchgesehene Ausgabe, © Deutsche Bibelgesellschaft
© 2015 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de Lektorat: Eva-Maria Busch Umschlagmotiv: istockphoto.com Umschlaggestaltung: Eva Joneleit/Daniela Sprenger Satz: DTP Brunnen ISBN 978-3-7655-7406-1
Frau B. hat Demenz – was ist das eigentlich?
„Wo geht’s denn in mein Zimmer?“, fragt Helene B. im breiten südbadischen Dialekt. Schelmisch blinzeln die klaren blauen Augen der 88-Jährigen über die kupferroten Ränder ihrer ovalen Brillengläser. Zum zehnten oder elften Mal an diesem Mittag die gleiche Frage: „Wo geht’s denn in mein Zimmer?“ Und sie wird heute wohl noch öfter nachhaken.
Es war in einer Nacht. Vor etwa zwei Jahren. Da klingelte das Telefon bei ihrem Sohn. Die Mutter Helene war dran: „Robert. Essen ist fertig. Kommt ihr?“
„Aber Mutter, es ist mitten in der Nacht“, gähnte Robert.
Im Laufe der Zeit wurde Helene B. dann im Alltag unsicherer – immer häufiger stürzte sie. Als die Hilfe von Angehörigen und ambulanter Pflege nicht mehr ausreichte, musste sie ihre Wohnung aufgeben. Sie lebt jetzt in einem Altenheim.
„Hilfst du mir?“, fragt sie mit ihrem verschmitzten Lächeln, das zum Mitlachen ansteckt.
Frau B. ist eine von mehr als einer Million Menschen in Deutschland mit Demenz. Wie kann man sich eine Demenz vorstellen? Im Laufe des Lebens wird ein Mensch reicher an Wissen, Worten, Fähigkeiten, Erinnerungen und inneren Bildern. Schätze stapeln sich wie ein Haufen Geldscheine auf. Von unten nach oben. Fegt die Demenz wie ein Wind über ein Leben hinweg, räumt sie diesen Stapel ab: von oben nach unten. Schein für Schein verschwindet. Zuerst hat Helene B. vergessen, was sie gerade eben gegessen hat. Dabei war es ihr Leibgericht: Fisch vom Bodensee.
Die dynamische, lebenslustige 88-Jährige hat viele solcher Scheine angehäuft, die nun fortgewirbelt werden: abenteuerliche Campingurlaube und rasante Fahrten auf dem Motorroller. Spritzige Wasserskifahrten und beschwingtes Segeln auf dem Bodensee. Ganze Erlebniswelten – fort! Gestohlen, geraubt, abhandengekommen. Einfach nicht mehr abrufbar.
Helene B. hält sich heute noch lachend den Bauch, wenn man sie an Szenen aus Filmen wie „Witwer mit fünf Töchtern“ mit Heinz Erhard erinnert. Schließlich arbeitete sie Ende der 1950er-Jahre als Platzanweiserin in einem Kino. Heute ist sie selbst darauf angewiesen, dass ihr jemand ihren Platz zeigt. Der Motorroller steht nun abseits. Die Fahrten waren zuletzt eher rasant statt amüsant. Früher blühte Frau B. auf, wenn sie an den Bodensee kam. Heute zieht ein Ausflug auf die Mainau fast spurlos an ihr vorbei. Die ehemalige Wasserratte sitzt auf dem Trockenen.
Wer Menschen mit Demenz etwas vorliest, berührt damit Altbekanntes. Geschichten wecken Erinnerungen an früher. Andachten, Rätsel, Gedichte, Redensarten und Gebete wollen an christliche Überbleibsel im Altgedächtnis andocken. Die unteren Scheine des Stapels sollen dadurch noch eine Weile erhalten bleiben. So sollen sich Menschen mit Demenz – nicht nur an frühere religiöse Erfahrungen erinnern. Vielmehr sollen sie auch jetzt – trotz Demenz – alte Erfahrungen erneuern können. Alltagsgeschichten können bei Menschen, die bisher dem Glauben gegenüber eher distanziert waren, auch noch in einer Demenz neu den Wunsch nach einer Gottesbegegnung wecken.
Helene B. sitzt nun in ihrem Rollstuhl und fragt mit ihrem unbeholfenen und zugleich charmanten Lachen: „Hilfst du mir?“ Vielleicht findet sich ja jemand, der Helene etwas vorliest, mit ihr rätselt oder betet.
Uli Zeller
Tipps, wie das Vorlesen besser ankommt
Vorlesen ist nicht nur eine prima Unterhaltung für Menschen mit und ohne Demenz. Gemeinsames Lesen stärkt die Beziehung. Die gemeinsame Zeit wird sinnvoll erfahren.
Nachfolgend einige Ratschläge, die sich in der Praxis bewährt haben. Setzen Sie sich dabei nicht unter Druck. Keiner wird alle Tipps auf einmal umsetzen können. Probieren Sie zunächst am besten nur einen dieser Ratschläge aus. Erst wenn Sie diesen Punkt eingeübt haben, wenden Sie sich dem nächsten Tipp zu.
• Lesen Sie deutlich vor. Brüllen Sie Menschen mit Demenz nicht an. Versuchen Sie besser, deutlich und langsam zu sprechen. Sprechen Sie eher zu tief als zu hoch. Wiederholen Sie wichtige Worte oder einzelne Sätze.
• Suchen Sie immer wieder Blickkontakt. Es ist wichtig, dabei das richtige Maß zu finden. Wer zu lange fixiert wird, wird nervös. Findet kein Blickkontakt statt, kann das Vorlesen unpersönlich werden. Menschen mit Demenz sollten nicht überrumpelt werden. Das überfordert sie. Nähern Sie sich ihnen am besten innerhalb ihres Gesichtsfeldes.
• Kündigen Sie an, was Sie vorhaben: „Ich möchte Ihnen gerne eine besinnliche Geschichte vorlesen.“ Oder: „Darf ich Ihnen eine Andacht vorlesen?“
• Feste Rituale geben weitere Sicherheit. So kann es helfen, jeweils abends eine Gute-Nacht-Andacht vorzulesen.
• Gegenstände können bei Ablenkungen helfen, leichter zur Andacht zurückzufinden. Beispielsweise, wenn Sie zur Geschichte „Gott sucht keine Socken“ tatsächlich einen Korb voller Strümpfe mitbringen. Wenn der Zuhörer das Bedürfnis hat, über ein anderes Thema zu reden, hören Sie zu und gehen Sie auf ihn ein. Danach können Sie den Gegenstand, der mit der Geschichte zu tun hat, einbeziehen (z. B. die Socken). So kommen Sie natürlich und einladend zur Andacht zurück.
• Erinnerungen fördern Sie durch Gespräche über früher, Bilder, Musik oder unterschiedliche Gegenstände. Dies kann den Betroffenen helfen, sich in einer Geschichte oder Andacht geborgen zu fühlen.
• Pausen tun gut. So können Sie Veränderungen beim Zuhörer bemerken: Ist er müde, gelangweilt, unruhig, emotional berührt, aufmerksam, zufrieden, dankbar? Aber auch für Ihren Zuhörer sind Pausen hilfreich. Ihr letzter ausgesprochener Satz hängt noch in der Luft, klingt nach – und wirkt nach. Viel stärker, als wenn pausenlos weitergelesen wird.
• Berührungen sind etwas sehr Persönliches. In der Regel schätzen es Zuhörer, wenn man ihnen gelegentlich die Hand hält oder auf eine beiläufige und natürliche Art die Hände auf die Schultern legt. Allerdings ist hier etwas Gespür erforderlich. Im Zweifelsfall berühren Sie lieber zu wenig als zu viel.
• Achten Sie darauf, dass Sie beim Vorlesen nicht unter Zeitdruck stehen. Menschen mit Demenz merken, ob jemand Zeit für sie hat oder nicht. Lesen ohne Zeit ist aber wie eine Rose ohne Duft.
• Alle Texte in diesem Buch beziehen sich auf einen oder mehrere Bibeltexte. Diese sind jeweils unter der Andacht angegeben. So können Sie als Vorleser nachschlagen, was dazu in der Bibel steht. Wenn es Ihrem Zuhörer gefällt, können Sie ihm auch einige Verse davon vorlesen. Gut bewährt sind die Lutherübersetzung von 1984 und die Einheitsübersetzung.
• Manchmal ist weniger mehr. Liest man zu viele Andachten hintereinander vor, rauschen sie am Zuhörer nur noch vorbei. Beobachten Sie Ihren Zuhörer daher genau. Lesen Sie keine weitere Andacht mehr vor, wenn Sie erkennen, dass Ihr Gegenüber sich langweilt. Versuchen Sie stattdessen lieber eines der Rätsel aus diesem Buch oder singen Sie zusammen ein Lied. Machen Sie gemeinsam Gymnastik oder Atemübungen.
• Fast alle Gedichte in diesem Buch sind als schlichte Paarreime verfasst. Das heißt, jeweils das Ende einer Zeile reimt sich auf das Ende der nächsten Zeile. Gut ist es, wenn Sie jeweils das letzte Wort der ersten Zeile betont vorlesen und vor dem sich reimenden Wort am Ende der zweiten Zeile eine kleine Pause machen. So kann Ihr Zuhörer