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Das 1x1 der Baumkontrolle


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sein. Es ist darüber hinaus auch wichtig, dass die empfohlenen Maßnahmen baumbiologisch sinnvoll sind und die Vorgaben des Natur- und Artenschutzes berücksichtigt werden. Die mit der Kontrolltätigkeit betrauten Personen sollten besonnen und gewissenhaft sein und müssen ein fundiertes Fachwissen über Bäume und mögliche Gefahrenmerkmale haben – sie sollten aber auch in der Lage sein, erforderliche bzw. sinnvolle Maßnahmen zur Pflege bzw. zur Förderung der Baumentwicklung zu erkennen und zu empfehlen. Gerade solche pflegenden oder fördernden Maßnahmen können ebenso einer negativen Entwicklung der künftigen Bruch- und Standsicherheit entgegenwirken und sind so auch für den Erhalt von langfristig verkehrssicheren Bäumen von großer Bedeutung.

      Gefahren durch Bäume

      Bäume passen sich während ihres Lebens an die jeweiligen Einflüsse ihres Standorts gut an (so beispielsweise auch an regelmäßig auftretende Stürme). Sie sind im Vergleich zu anderen Organismengruppen besonders anpassungsfähig (Roloff 2004). Dies trifft auch für die Stabilität gegenüber dem Wurf- oder Bruchversagen zu. Vitale Bäume überstehen all die Umwelteinflüsse an ihrem Standort (Klimaschwankungen, Jahreszeiten, Stürme, Krankheiten, Wassermangel und -überschuss, Beschattung usw.) und sind beim Einwirken „normaler“ Kräfte bruch- und standsicher. Mit ihrer hohen Anpassungsfähigkeit können Bäume durch Wachstumsprozesse auf bestimmte Belastungssituationen reagieren und so ihre Stabilität mittel- und langfristig sogar erhöhen oder Defekte „reparieren“.

      In den meisten Fällen sind es außergewöhnliche, externe Belastungen wie extrem hohe Windgeschwindigkeit oder besonders starke Eis- und Schneelast, bei denen auch gesunde Bäume in der Krone (durch Ast- und Stämmlingsbruch), am Stamm (durch Stammbruch) oder an der Wurzel (Baumwurf) wegen zu großer angreifender Kräfte mechanisch versagen (Bild 1). Eine Überlastung durch die Gewichtskraft (Eigenmasse der Äste) tritt nur sehr selten auf (Phänomen des Sommer-/Grünastbruchs).

      Versagen beim Einwirken „normaler“ Kräfte tritt meist dann auf, wenn Ereignisse oder Prozesse zuvor zum Verlust der statischen Funktion von einzelnen Elementen der biologischen Tragwerkskonstruktion Baum geführt haben, z. B.:

der normale, individuelle Alterungsprozess (Absterben von Baumteilen, Totholz) oder
unerwartete (insbesondere plötzliche) äußere Einflüsse, wie mechanisch verursachte Beschädigungen mit der Folge eines Defekts
holzabbauende Tätigkeit von Mikroorganismen oder
plötzliche Veränderungen im Baumumfeld (z. B. durch Wegfall eines Windschutzes, Freistellung)

      Weil Bäume oft beträchtliche Höhen erreichen und Äste, Kronenteile oder gar der gesamte oberirdische Teil je nach artspezifischer Holzdichte eine große Masse haben, können sie im Falle des Versagens Sachgegenstände beschädigen oder sogar Personen verletzten. Für die Beurteilung des Gefahrenpotenzials ist neben den Fragen nach wann und warum Bäume oder Teile von ihnen versagen, auch die Sicherheitserwartung im Baumumfeld in die Entscheidung für den Untersuchungsaufwand oder für baumpflegerische Maßnahmen mit einzubeziehen (Bild 1).

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      Bild 1: Gefahren durch Bäume aus statischer Sicht (Quelle: H. Weiß)

      Baumkontrollrichtlinien – Regelwerke für die Praxis

      Trotz der bereits sehr langen „rechtlichen Tradition“ im Zusammenhang mit der Verkehrssicherungspflicht bei Bäumen (vgl. z. B. Grundsatzurteil des BGH vom 21.01.1965) bestand hinsichtlich der konkreten praktischen Umsetzung von Baumkontrollen und ihrer Organisation (Umfang, Häufigkeit, Dokumentation usw.) in der Praxis längere Zeit eine große Verunsicherung. Für die Kontrollen zur Verkehrssicherheit bei Bäumen wurden sehr unterschiedliche Begriffe verwendet, so wurde u. a. von Sichtkontrolle, Baumkontrolle, Baumschau, fachlich qualifizierter Inaugenscheinnahme, Baumdiagnose oder Baumuntersuchung u. v. m. gesprochen. Für die einzelnen Begriffe existierten keine oder unzureichende Definitionen, und für den Außenstehenden war es schwer, den Umfang gegeneinander abzugrenzen (Dujesiefken et al. 2004).

      Daneben ist nicht immer sofort klar, welche Bäume im Verantwortungsbereich eines Grundstückseigentümers oder eines Straßenbaulastträgers ggf. der Verkehrssicherungspflicht unterliegen. Die Festlegung des kontrollpflichtigen Baumbestands ist eine der zentralen Fragen für die Organisation von Baumkontrollen im urbanen Raum. Innerhalb der freien Landschaft und im Wald fern von öffentlichen Straßen haftet der Eigentümer nicht für Schäden durch waldtypische Gefahren (BGH 2012). Deshalb sind hier auch keine regelmäßigen Kontrollen zur Überprüfung von Bruch- und Wurfgefahr erforderlich.

      Aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht müssen aber z. B. Bäume an Straßen, Wegen, Plätzen, Wohnanlagen, Spiel- und Sportanlagen, in Grün-, Freizeit- und Erholungsanlagen, auf Friedhöfen, an Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen kontrolliert werden. Auf solche Bäume erstreckt sich deshalb der Geltungsbereich der im Jahr 2004 erstmalig erschienenen FLL-Baumkontrollrichtlinie. Mit dem Regelwerk, das 2010 und zuletzt 2020 umfassend überarbeitet und an die neuen fachlichen Erkenntnisse angepasst wurde (FLL 2020), liegt ein einheitlicher Leitfaden für die Überprüfung der Verkehrssicherheit von Bäumen im besiedelten Raum vor.

      Natürlich kann sich jeder Baumeigentümer eine eigene Vorgehensweise für die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht ausdenken, im Schadensfall wird das organisatorische und fachliche Vorgehen aber sicher an den Kriterien der FLL-Baumkontrollrichtlinien überprüft werden, da diese in weiten Teilen der Fachwelt als Konsens angesehen werden und auch in der aktuellen Rechtsprechung als Regeln auf dem aktuellen Stand der Technik zunehmend Anerkennung finden. Wenn die allgemeinen Formulierungen nicht zu sehr den Spezifika eines größeren kommunalen Baumbestands widersprechen, sollte das Regelwerk der FLL-Baumkontrollrichtlinie mit ihren beiden Teilen Baumkontrollrichtlinien (FLL 2020) und Baumuntersuchungsrichtlinien (FLL 2013) konsequent angewendet werden.

      Stufen der Baumkontrolle {Baumkontrolle, Stufen der}

      Prioritäres Ziel einer Baumkontrolle im Rahmen der Verkehrssicherungspflichterfüllung ist das Erkennen von Anzeichen für Gefahren und die Beantwortung der Frage: „Ist die Verkehrssicherheit des beurteilten Baums gegeben?“ Bei Feststellen von Gefahrenanzeichen ist die Frage zu verneinen, und es besteht dann selbstverständlich Handlungsbedarf. Baumkontrolle und Baumpflege müssen dabei als funktionelle Einheit begriffen und aufeinander abgestimmt werden.

      Nach FLL-Baumkontrollrichtlinien erfolgt die Organisation der Baumkontrolle abgestuft.

      Das nachfolgende Schema (Bild 2) verdeutlicht die Abfolge der Erfassungs-, Kontroll- und Untersuchungstätigkeiten sowie der ggf. erforderlichen Maßnahmen zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht in Anlehnung an das Ablaufschema nach den FLL-Richtlinien (FLL 2013, 2020). Zusätzlich grün hervorgehoben sind die Schritte zur längerfristigen Förderung der Baumentwicklung.

      Baum-Grunderfassung

      Zur Überprüfung größerer Baumbestände ist es vor der eigentlichen Kontrolltätigkeit zunächst sinnvoll, den kontrollpflichtigen Baumbestand während einer Grunderfassung {Grunderfassung} (Ersterfassung) genau zu definieren. Hierzu gehören Recherchen zu Grundstücksgrenzen, Verantwortlichkeiten (z. B. bei Straßenbäumen) oder die mögliche Zugehörigkeit zu Wald und sonstigen z. B. nicht öffentlich zugängigen Flächen. Gegebenenfalls unterliegen Teile des Baumbestands nicht der Verkehrssicherungspflicht, jemand anderes ist verantwortlich oder Bäume stehen auf anderen Grundstücken.

      Regelkontrolle {Regelkontrolle}

      Zentrales Element und damit auch für die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht von wesentlicher Bedeutung ist eine regelmäßige Sichtkontrolle (Regelkontrolle). Diese erfolgt als qualifizierte Inaugenscheinnahme (vom Boden aus, ohne Aufgraben der Wurzeln). Bei dieser Kontrolle wird der gesamte Baum von allen Seiten (soweit vom Boden aus möglich) intensiv nach solchen Symptomen untersucht und beurteilt, die Anzeichen für eine Wurf- und/oder Bruchgefahr oder sonst für eine eingeschränkte Verkehrssicherheit