Die Frau diktierte Jansen die Kontaktdaten, die Polizisten bedankten sich bei Leon, der mit großen Ohren neben seiner Mutter stehen geblieben war. Der Stolz des Jungen war nicht zu übersehen. Aufrecht und gemessenen Schrittes ging er in Richtung Haustür, wo ihn seine kleinen Brüder neugierig erwarteten.
Kapitel IV
Die Kaffeearomen waren überwältigend. Vicky hatte mit der Bestellung auf Mia warten wollen, doch wie immer kam ihre Mutter nicht pünktlich. Und so saß sie nun allein in der Rösterei vor ihrem kunstvoll dekorierten Milchkaffee, löffelte genüsslich von dem sahnigen Schaum und sah hinaus auf die Hüxstraße.
Freitags hatte sie keinen Dienst in dem Café des sozialen Projekts, wo sie im Rahmen ihrer Ausbildung Menschen mit Behinderung begleitete, die den Laden so eigenständig wie möglich betrieben. Eigentlich aber hatte sie den freien Tag nutzen und für ihre Prüfung lernen wollen. Als Mia frühmorgens angerufen hatte, war Vicky aber schon am Klang der Stimme klar, dass ihre Mutter sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befand. Und ebenso klar war, dass ihr Idiot von Ehemann ihr nicht helfen konnte. Wahrscheinlich bekam er es nicht einmal mit. Also hatte sich Vicky notgedrungen mit ihrer Mutter für den späten Vormittag verabredet. Eine kleine Pause würde ihr beim Lernen vielleicht auch gut tun.
Inzwischen hatte sie ihren Kaffee schon halb ausgetrunken, als Mia auf dem Gehsteig gegenüber auftauchte. Mit ihrem geröteten Gesicht sah sie abgehetzt aus, von Fröhlichkeit keine Spur. Doch kaum entdeckte Mia ihre Tochter im Café, winkte sie ihr munter zu und setzte die vergnügte Miene auf, die alle Leute denken ließ, sie sei so ein wahnsinnig lustiger, unkomplizierter Mensch.
»Grüß dich, Vicky. Prima, dass du Zeit hast.«
»Hallo, Mia.«
Mia schälte sich aus ihrer Jacke, wickelte den lebhaft bunten Schal vom Hals und setzte sich ihr gegenüber, strahlend. Während sie sich neugierig in dem in einer liebevollen Mischung aus Alt und Neu eingerichteten Kaffeehaus umsah, tätschelte sie Vickys Hand.
»Ich find das richtig schön, nur wir zwei Hübschen in einem schicken Café! Du bist natürlich eingeladen.«
Sie griff nach der Karte.
»Was nehme ich denn mal? Weißt du schon, was du möchtest?«
Was war ihre Mutter doch für eine schlechte Schauspielerin. Es war so typisch, dass sie erst einmal auf eitel Sonnenschein machte – vielleicht merkte ja keiner, wie es in Wahrheit um sie stand.
»Ich möchte eines von den Panini, das mit Ziegenkäse und Gemüse«, verkündete Vicky, »und noch einen Milchkaffee.«
Mia winkte die Kellnerin heran, gab das Panino in Auftrag und bestellte für sich ein Croissant und einen handgefilterten Kaffee.
»Ich habe ja heute früh schon mit Ralf gefrühstückt und außerdem …«, sie tätschelte die kleine Wölbung ihres Bauchs und verzog das Gesicht. Ja, dachte Vicky, sie hat über den Winter wohl wieder zugenommen. Mia war eine begeisterte Köchin und Bäckerin, liebte aber mindestens ebenso das Essen und Genießen. In Vickys Erinnerung kämpfte ihre Mutter schon immer gegen zu viele Pfunde, versuchte die abartigsten Diäten mit wechselndem Erfolg, war total glücklich, wenn sie endlich ein paar Kilos verloren hatte, begann, wieder ihre Lieblingsspeisen zu kochen und zu essen, und alles ging wieder von vorne los.
»Na, wie geht’s dir, mein Kind?«
»Gut.«
»Ach, Vicky, erzähl doch mal ein bisschen. Was treibst du so?« »Im Moment lerne ich vor allem für meine Prüfung, hab ich doch neulich schon gesagt.«
Mia nahm normalerweise keinen großen Anteil an Vickys Leben, im Gegensatz zu dem ihrer anderen Tochter. Früher hatte Vicky darunter gelitten. Inzwischen war es ihr egal. Ihre Mutter vergötterte Karoline, und die behandelte sie wie ihre Haushälterin, was Mia nicht zu stören schien. Wenn sie aber Probleme oder Sorgen hatte, meldete die Mutter sich bei Vicky.
»Was bist du für ein fleißiges Kind!«
Mehr hatte Mia dazu nicht zu sagen, keine Fragen nach Vickys Arbeit, ob sie damit zufrieden war, was sie sich wohl von ihrer Ausbildung versprach.
»Stell dir vor, gestern hat mich Frau Behrens angerufen«, erzählte sie stattdessen. Frau Behrens war die Besitzerin des Cafés am See, für das Mia während der Saison arbeitete, köstliche Torten und anderes buk und manchmal auch im Service aushalf.
»Frau Behrens möchte sich zurückziehen, sie wird 70 und findet, sie hat genug gearbeitet. Und jetzt hat sie mich gefragt, ob ich das Café übernehmen will!«
»Und, willst du?«
Vielleicht würde es Mia ja guttun, Verantwortung zu tragen, vor allem auch, um wieder mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, überlegte Vicky.
»Ja, ich hätte große Lust dazu. Natürlich müsste das mit der Finanzierung geklärt werden, aber Frau Behrens hat mir ein sehr günstiges Angebot gemacht. Ich könnte den Preis sogar in Raten zahlen …«, Mia stockte kurz, »aber Ralf ist dagegen.«
»Das hätte ich mir ja denken können«, murmelte Vicky erbost, »und nun machst du es nicht?«
»Wahrscheinlich nicht. Wenn Ralf recht behält und irgendwas dabei schiefgeht …«
Dieser Mann schaffte es, Mia schon im Vorhinein sämtlichen Mut und Elan zu nehmen, sodass sie sich gar nichts mehr zutraute.
»Na ja, ich hab ja noch Zeit, darüber nachzudenken.«
»Ja, mach das. Wenn das finanziell irgendwie zu stemmen ist, fände ich das ganz toll für dich.«
Das zustimmende Nicken ihrer Mutter fiel nicht sehr überzeugt aus. Eine Kellnerin servierte ihre Bestellungen. Mia schnüffelte anerkennend an ihrem Filterkaffee.
»Oh, der duftet aber gut!«
Und wechselte das Thema.
»Hat sich deine Schwester inzwischen bei dir gemeldet?«
Hatte Vicky es doch gewusst. Karolines Ausbleiben war der eigentliche Anlass für dieses Treffen.
»Bei mir? Bei mir meldet sie sich doch nie.«
»Mein Gott, aber ich hab auch noch nichts von ihr gehört«, seufzte Mia, »ich mach mir solche Sorgen!«
»Eigentlich müsstest du inzwischen wissen, wie Karoline ist. Das ist doch schon öfter vorgekommen, vor allem seit sie mehr unterwegs ist für ihr Modezeugs«, erklärte Vicky leicht gereizt und nicht zum ersten Mal. Es wäre ja auch zu schön gewesen, sie hätten mal nicht über ihre Schwester gesprochen. Mia kramte ein Taschentuch heraus. Sie schien den Tränen nahe. Als Vicky das bemerkte, begann sie, den Arm ihrer Mutter zu streicheln.
»Die kommt schon wieder, bestimmt«, versuchte sie zu trösten. Im Grunde hasste sie diese Rolle. Eigentlich müsste es umgekehrt sein, die Mutter tröstet das Kind. Doch das hatte Vicky fast nie erlebt. Sie war zwar die Jüngere, aber Mias ganze Zuwendung hatte stets Karoline gegolten. Vicky musste immer um Aufmerksamkeit kämpfen, durfte vernünftig sein, unterstützen, trösten, einfach, weil alle sie für so stark hielten.
Ihre Mutter schluckte ein paar Mal, dann sagte sie:
»Ich erzähle dir jetzt was, aber du musst mir versprechen, dass deine Schwester nicht erfährt, dass ich mit dir darüber gesprochen habe!«
»Ich schwöre.«
»Karoline geht es in letzter Zeit nicht so gut. Das hat Hardy neulich auch gesagt. Ich glaube, ihr bekommt das Alleinleben nicht.«
So ein Quatsch, dachte Vicky sofort und kaute an einem Bissen von ihrem Panino. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie Karoline letzte Weihnachten geschwärmt hatte, wie froh sie war, sich getrennt zu haben, und wie sehr sie seither das Alleinleben genieße, erst recht, seit sie in die neue Wohnung gezogen war.
»Also, soweit ich das weiß, hat Karoline doch damals selbst ihren Freund aus der Wohnung geschmissen«, stellte Vicky fest, »ich