heißt Anna-Lena Thumsen«, meinte Jan. »Studentin. 21 Jahre alt. Studiert in Hamburg Betriebswirtschaftslehre. Viertes Semester.«
Eggestein nickte. »Das ist doch schon mal was.« Er blickte einen Kollegen an. Der zog einen Notizblock und begann mitzuschreiben.
»Und Sie sind sich sicher?«, fragte Eggestein mit einem Nicken in Richtung der Toten.
Jan ging auf die Knie, um das Gesicht der jungen Frau besser sehen zu können. Der Videoprint, der von einem im Internet kursierenden Film stammte, hatte ihn bis in ein Studentenwohnheim in Hamburg geführt. Zwischen Stadtpark und den Alsterkanälen gelegen, war es eine gute Wohnlage, auch wenn die Zimmer etwas klein geraten waren. Maria Fernandez, Anna-Lenas Zimmernachbarin, hatte Jan nach mehrfachem Klingeln in den Flur des vierten Stockwerks gelassen.
Da Frauen und Männer auf den Fluren des Wohnheims gemischt wohnten, war es kein Problem, dass sie Jan mit in den Gemeinschaftsraum nahm. Ein paar Sofas waren um einen niedrigen Tisch gruppiert. An der Wand hing ein großer Fernseher.
»Sie arbeitet viel, Geld fürs Studium. Aber sonst ist sie oft da auf dem Sofa«, sagte Maria mit spanischem Akzent. Sie hatte kastanienbraune Haare, war kaum größer als einen Meter 50 und schien selten zu lächeln. Obwohl es äußerlich keinerlei Übereinstimmungen gab, fühlte Jan sich an Charlotte erinnert.
»Hier, das ist sie!« Maria zeigte auf ein Gruppenfoto über dem Sofa, auf dem sich alle Bewohner des Flurs und deren Freunde und Freundinnen anlässlich einer Weihnachtsparty um eine Feuerzangenbowle geschart hatten. 14 Flurbewohner und sechs Freunde. Das ergab auf dem Bild ein ziemliches Gedränge. Trotzdem war Anna-Lena auf dem Foto gut zu erkennen. »Die da. Du hast sie leider verpasst. Sie ist gestern weggefahren.«
»Länger?«
»Vielleicht eine Woche? Ich weiß es nicht genau.«
»Auch nicht, wohin?«
»Was? – Ach, doch. Nach Sylt. Du kennst die Insel?«
»Klar.«
»Nordsee. Nicht Ostsee. Richtig? Ich kann mir das nie richtig merken.«
»Ja, Nordsee. Reist sie allein?«
»Nein. Bestimmt nicht. Die Männer mögen sie. Weißt du. Das ist ja auch nicht schwer. Aber sie mag auch die Männer.«
»Was heißt das?«
Maria sah Jan kurz an, drehte den Blick dann weg. »Gar nichts. Ich bin katholisch. Aber sie kann machen, was sie will.«
»Also lässt sie sich öfter mit Männern ein? Mit unterschiedlichen Männern?«
»Sie mag Männer. Das ist alles.«
»Und deshalb ist sie auch mit Männern nach Sylt gefahren.«
»Ich glaube schon.«
»Zwei Männer?«
»Ich glaube. Sie hat sich manchmal mit zwei Männern getroffen.«
Jan nickte. Marias Worte stimmten mit dem überein, was er bisher über Anna-Lena herausgefunden hatte. Es war ein Glücksfall, dass er in einem Restaurant in Uninähe gleich jemanden gefunden hatte, der das Mädchen vom Screenshot des Videos erkannt und ihm die Wohnheimadresse gegeben hatte. Anna-Lena jobbte in dem Laden als Bedienung. Viel bekam sie dafür vermutlich nicht bezahlt. Aber wenn sie bei den Gästen so gut ankam, wie es schien, stimmte vielleicht zumindest das Trinkgeld.
»Kann ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Jan die Spanierin. Aber Maria schüttelte den Kopf.
»Du hast keinen Ersatzschlüssel? Falls sie ihren mal verliert oder so?«
»Ich … Das geht nicht.«
Jan legte den Kopf schief. Ein passender Hinweis aus dem Zimmer hätte eine Suche auf Sylt erheblich erleichtert. Aber Maria ging selbst auf eine direkte Bitte, das Zimmer ansehen zu dürfen, nicht ein. Und da nicht gesagt war, ob er darin überhaupt etwas über Anna-Lenas Aufenthaltsort gefunden hätte, bedrängte er Maria nicht weiter.
Kurz entschlossen war er stattdessen noch am selben Tag nach Sylt gereist. Er rangierte seinen Wagen auf den Autozug, der mit seiner Fracht gemütlich über den Hindenburgdamm zuckelte. Am Bahnhof von Westerland setzte Jan seine Suche fort, indem er einigen Taxifahrern Anna-Lenas Foto zeigte. Es war Winter. Deshalb stellte er es sich nicht so schwierig vor, die hübsche Asiatin auf der Insel zu finden. Ein Irrtum.
Seine Suche hatte zu lange gedauert.
Die junge Frau, die mit zerschmetterten Knochen vor Jan auf dem Strand lag, war zweifellos Anna-Lena Thumsen. Jan musste an Maria Fernandez denken. Die Spanierin würde sehr bald erfahren, dass ihre Zimmernachbarin nicht mehr ins Wohnheim zurückkehrte. Stattdessen würde das Zimmer spätestens zum Ende des Semesters ausgeräumt und neu belegt werden.
Langsam richtete Jan sich wieder auf. »Ich würde sagen, sie ist es.«
»Würde ich auch«, meinte Eggestein. »Wie viele Asiatinnen laufen hier im Winter schon halbnackt rum? Darüber sollten wir uns übrigens mal näher unterhalten. Was meinen Sie?«
Jan wusste, dass er nicht darum herum kommen würde. »Vielleicht irgendwo, wo es wärmer ist?«
Kommissar Eggestein zuckte mit den Schultern. Ihm schien der Wind nichts auszumachen. »Meinetwegen. Bei Smutje sollten wir ein ruhiges Eckchen finden. Gleich oben auf dem Kliff. Oder ziehen Sie das Präsidium in Westerland vor?«
»Was wird aus ihr?«, wollte Jan wissen, ohne direkt zu antworten. Beide blickten die tote Frau an.
»Ein paar Kollegen passen auf, bis die Kriminaltechniker eintreffen. Wird eine Weile dauern. Die kommen aus Flensburg. Aber so ist das eben, wenn man auf einer Insel lebt.«
»Sie wird bewacht?«
»Natürlich. Sie glauben ja nicht, was den Leuten sonst alles einfallen würde. Seit es diese Smartphones gibt, drehen die komplett durch. Die fotografieren und filmen alles. Absolut alles.«
»Ich weiß«, entgegnete Jan.
»Außerdem müssen wir die Möwen auf Abstand halten. Das sind nämlich die Aasgeier der Meere.«
Jan erwiderte nichts.
»Im Ernst.« Eggestein runzelte die Stirn. »Verdammte Viecher. Hacken einem Schiffbrüchigen glatt die Augen aus, während der noch lebt. Was meinen Sie, was die mit der Kleinen anstellen würden …«
»Ich denke lieber nicht darüber nach«, entgegnete Jan.
Auf dem schmalen Weg, der vom Strand zurück aufs Kliff führte, begegneten die beiden ein paar Männern der freiwilligen Feuerwehr. Zwei Mann trugen einen Generator, andere die Bauteile eines Lichtmastes. Offenbar ging man davon aus, dass die Kriminaltechniker bis zur Dämmerung und darüber hinaus mit Anna-Lena beschäftigt sein würden.
4
Schlicht Smutje prangte in magentafarbenen Leuchtbuchstaben auf dem Dach. Das Restaurant stand kaum 20 Meter von der Abbruchkante des Kliffs entfernt. Es bestand fast ausschließlich aus Holz und Glas. Der Wind zerrte an fest vertäuten Planen, die zeltähnlich über eine Außenterrasse und Teile eines Wintergartens gespannt waren. Sonnenschutz, dachte Jan. Durch das Knarren und Ächzen, mit denen sich die Halteseile gegen den Wind stemmten, fühlte Jan sich an Segelschiffe erinnert und irgendwie auch an die Verhüllungsaktion vom Reichstag in Berlin durch Christo und Jeanne-Claude. Ein befestigter Weg führte quer durch eine Grünfläche auf das ungewöhnliche Gebäude zu. Die Fenster waren beleuchtet, was besonders einladend aussah.
Im Gastraum des Smutje saßen bereits einige Gäste. Trotzdem war zur Mittagsstunde bei Weitem nicht so viel los wie abends. Eggestein führte Jan in den Wintergarten, der als Erweiterungsraum für das Lokal diente. Hier waren die Tische und Bänke etwas rustikaler als im Hauptgebäude.
Die Heizpilze, die Jan bereits am Vorabend gesehen hatte, veranlassten Eggestein, den Reißverschluss seines Parkas aufzuziehen. Jan tat es ihm mit seiner neuen Jacke gleich. Sie hatten sich gerade erst gesetzt,