Dann konnte man Anna-Lena sehen. Jedenfalls einen Teil von ihr. Ein Turnschuh sprang großformatig ins Bild.
Schnitt auf eine zweite, erhöhte Kamera. Totale vom menschenleeren Platz. Das Mädchen presste sich an eine Häuserecke, guckte darum herum, schien zu überlegen.
Obwohl nicht viel passierte, lag eine unaussprechliche Spannung in der Luft.
Plötzlich rannte Anna-Lena los, schlug ein paar Haken, rannte weiter. Sie trug nur die Turnschuhe, eine unfassbar kurze Hose und einen Sport-BH.
Plötzlich schlug neben ihr etwas auf dem Boden ein. Ein Geschoss. Blaue Farbe spritzte über die Pflastersteine. Anna-Lena hüpfte zur Seite, legte einen Zickzackkurs ein. Wieder wurde auf sie geschossen.
Jan hatte das Video schon zigmal gesehen. Trotzdem biss er sich auf die Unterlippe. Er wünschte sich, dass Anna-Lena entkam, wusste aber, dass eines der nächsten Geschosse treffen würde.
Als es so weit war, klappte Jan das Notebook zu, ohne es vorher auszuschalten. Seine Hand zitterte. Der Schachspieler, so nannte Jan seinen unbekannten Informanten wegen der App, über die sie kommunizierten, hatte mit seiner Befürchtung recht behalten.
Aber warum hatte er sich überhaupt Sorgen gemacht? Das Spiel, auf das Anna-Lena sich eingelassen hatte, war geschmacklos, aber gefährlich schien es nicht zu sein. Woher kam diese Vorahnung?
Wieder in Hamburg würde Jan versuchen, mehr über den Schachspieler herauszufinden. Doch vorher waren die Produzenten der Videos dran. Sie waren mit ziemlicher Sicherheit noch auf der Insel. Und wenn sie hier waren, würde Jan sie auch finden.
8
Jan hob den Blick und sah zu einem kleinen Wandbord auf, das in dem Campingwagen oberhalb einer Sitzecke verlief. Es war eine Ablagefläche für Bücher und andere Sachen. Weil Charlotte gerne Tee trank und alle Arten von Kräuteraufgüssen, die sich ebenfalls Tee nannten, obwohl sie nicht von der Teepflanze stammten, liebte, hatte Jan ihr in einem kleinen Teeladen eine besondere Spezialität gekauft. Da war er mit dem Screenshot noch auf der Suche nach Anna-Lena gewesen. Um die Videoproduzenten zu finden, würde er sich etwas Neues einfallen lassen müssen.
Kandierte Ingwerstückchen.
Mit heißem Wasser aufgegossen, sollte das Gebräu nach Aussage des Verkäufers süß schmecken, ohne den Geschmack des Ingwers zu verlieren, und wahre Wunder bei Erkältungen, Bauchschmerzen und allgemeiner Schlappheit bewirken. Jan wusste, dass er Charlotte damit eine Freude machen würde.
Charlotte fehlt ihm. Sie war für ihr Buchprojekt nach Mallorca gereist. Vor über zwei Monaten. Wann genau sie zurückkommen würde, wusste sie bei ihrer Abreise noch nicht. Jan hatte das akzeptiert. Er freute sich sogar für sie. Aber natürlich vermisste er sie auch. Er vermisste ihr Lachen, er vermisste ihre Begeisterung, wenn sie über Sachen sprach, die ihr neu waren und gut gefielen, und er vermisste den Sex mit ihr.
Er schlief gerne neben Charlotte ein und wachte gerne am nächsten Morgen neben ihr auf. Manchmal in seiner neuen Wohnung, meistens bei ihr. Aber was würde es bringen, wenn er sie jetzt anriefe, um ihr das zu sagen? Er würde ihr nur die Reise vermiesen. Sie sollte kein schlechtes Gewissen bekommen. Und auf keinen Fall sollte sie die Reise nur für ihn vorzeitig abbrechen.
Bisher hatten sie sich hauptsächlich Kurznachrichten geschickt, und das auch nur sehr unregelmäßig. Sie war sicherlich mit anderen Dingen beschäftigt, und er wollte ihr nicht das Gefühl geben, an ihr zu kleben.
Doch plötzlich wurde in Jan das Verlangen übermächtig, Charlottes Stimme zu hören. Er wusste, dass es mit seiner Trauer um Anna-Lena zu tun hatte. Trotzdem stand er auf, um das Telefon aus seiner Jacke zu holen. Er würde Charlotte anrufen. Jetzt.
Doch gerade als er die Taschen abtastete, begann das Handy zu klingeln. Als er es endlich fand, war das Klingeln schon wieder verstummt.
Jan rief das Anrufprotokoll auf. Die Nummer, die als Letztes angezeigt wurde, kannte er nicht.
»Sie haben gerade bei mir angerufen«, sagte Jan, als sich eine männliche Stimme auf seinen Rückruf gemeldet hatte. Behrens, wiederholte Jan den genannten Namen im Kopf. Aber er sagte ihm nichts.
»Jan Fischer?«, fragte die Stimme. »Sie haben mich vorgestern nach einem Mädchen gefragt. Das Foto, wissen Sie noch?«
»Sie sind noch mal wer?«
»Der Taxifahrer. Sie haben mich am Bahnhof angequatscht.«
Sofort hatte Jan ein paar Bilder vor Augen. Bahnhof Westerland. Skulpturen, die sich auf dem Vorplatz mit wehenden Haaren gegen den Wind stellten. Und ein mürrischer Kerl in einem Taxi.
»Wie hieß die Kleine noch mal?«, wollte die Stimme wissen. »Ich habe den Namen vergessen, den Sie gesagt haben.«
Jan antwortete nicht, also sprach die Stimme weiter. »Sie wissen, was mit dem Mädchen passiert ist?«
»Wissen Sie es?«, entgegnete Jan.
»Ist ja nicht so schwer«, meinte der Taxifahrer. »Der Spion hat vor einer Stunde darüber berichtet.«
»Der Spion?«
»Ja. Der Sylter Spion. Kennen Sie nicht?« Jan konnte hören, wie der Mann die Nase hochzog. »Ist eine Internetseite hier auf Sylt. Wird von ’nem jungen Burschen gemacht. Die Seite heißt so, und deshalb nennen alle den Jungen auch den Spion.«
»Okay, verstanden. Und was berichtet der Spion?«
»Na, er hat ein Foto von der Kleinen, wie sie am Strand liegt. Tot. Sanis sind auch schon da. Aber da soll nichts mehr zu machen gewesen sein. Sie ist von der Klippe gefallen. Dachte, Sie sollten das wissen. Na, weil Sie ja nach ihr suchen.«
Jan nickte. »Danke. Das ist nett von Ihnen. Aber tatsächlich wusste ich es schon.«
»Dann ist es ja gut. Hoffe, Sie sind nicht selber betroffen. Oder war das ’ne Verwandte von Ihnen?«
Nun begriff Jan, was den Mann zu seinem Anruf veranlasst hatte. Offensichtlich wollte er Informationen aus Jan herausholen. Erst die Frage nach dem Namen der Toten und nun, ob Jan ein Angehöriger sei. Vermutlich hatte der Mann vor seinen Kollegen am Taxistand damit angegeben, dass er mehr über die Sache wisse als der Spion. Mit Sicherheit zeigte er die Visitenkarte rum, die Jan ihm am Bahnhof gegeben hatte. Und als die anderen ihn anstachelten, rief er die Nummer an, um zu sehen, ob er von Jan noch mehr über das Mädchen erfahren konnte und darüber, was sie auf der Insel gemacht hatte.
»Wir waren nicht verwandt«, sagte Jan nach einem Augenblick des gespannten Schweigens. »Wie Sie selbst bei unserem ersten Gespräch festgestellt haben, bin ich von der Presse.«
»Aber Sie haben auch gesagt, es geht um was Privates.«
»Stimmt. Das habe ich. Aber das geht Sie eigentlich nichts an.« Jan war geneigt, das Gespräch möglichst schnell zu beenden.
»Nee, ich weiß. Habe auch nur so gefragt. Und weil ich wollte, dass Sie es wissen. Also, was mit ihr passiert ist.«
»Danke.«
»Schon okay. Wissen Sie, ich habe mit den Kollegen darüber gesprochen. Denen tut es natürlich auch leid, was passiert ist.«
Darauf entgegnete Jan nichts.
»Das Bild, das Sie mir gezeigt haben, das konnte ich denen natürlich nicht zeigen.«
Jan sagte nichts.
»Vielleicht könnten Sie es mir noch mal zuschicken? Auf die Nummer, die bei Ihnen angezeigt wird.«
Ein Kloß ballte sich in Jans Magen zusammen. »Wozu?«
»Zur Bestätigung«, antwortete der Mann. Und bevor Jan die Verbindung wütend trennen konnte, fügte er hinzu: »Eine Kollegin glaubt nämlich, dass sie das Mädchen gefahren hat, als es letzte Woche hier angekommen ist.«
Sofort hob Jan das Kinn und drückte das Telefon wieder fester ans Ohr.
»Na ja, aber sie ist sich nicht sicher. Das Foto beim