Entweder diese Kommission wurde schnellstens ein vernünftiges Team, oder sie konnten es gleich vergessen. Also widmete er Seifert einen Blick, der ihn schlagartig in eine angemessene Sitzposition aufrichtete, ignorierte Venema und sagte freundlich zu Manuela Schönborn: »Wäre nett, wenn Sie das gleich erledigen könnten. Kollegin Wiemken sorgt dafür, dass Ihnen nichts entgeht.«
Die junge Kommissarin nickte, erhob sich und eilte aus dem Raum. Es sah nach Flucht aus.
»Reden wir über diese Frau Dressel«, sagte Stahnke, als die Tür zugefallen war. »Die Erste am Tatort, hat uns sofort informiert, sagt sie. Kein Motiv erkennbar, trotzdem, die Gelegenheit hätte sie gehabt. Behauptet, der Mord könnte irgendwie auf sie bezogen sein, ohne erklären zu können, inwiefern. Kommt heute Mittag zur Befragung. Was muss ich über sie wissen?«
»Ihre Angaben zu ihren Aktivitäten vor der Tat stimmen«, sagte Seifert. »Das Foto, weswegen sie nachmittags nach Völlen gefahren ist, steht heute im Ostfrieslandteil der Zeitung. Beschmierter Gedenkstein vor der Kirche. Zeitpunkt ihres Eintreffens beim Jachthafen des OYC wurde auch bestätigt, von mehreren älteren Klubmitgliedern, die ansonsten nichts Verdächtiges wahrgenommen haben wollen.«
»Außer Frau Dressel hätte demnach keiner das Vereinsgelände während dieser Zeit betreten?«, fragte Stahnke.
»Die Befragten sagen, sie hätten niemanden gesehen«, erwiderte Seifert. »Allerdings haben die sich nach der Inspektion der Slipanlage überwiegend im Vereinsheim am Tresen aufgehalten. Hundertprozentig sicher ist das also nicht.«
»Und was war mit diesem Ticket, das Frau Dressel kassiert haben will? Kam das von euch?«
Seifert schmunzelte. »Genau. Von mir persönlich. War schon witzig, dass ausgerechnet sie uns in die Falle getappt ist. Unter der Eisenbahnbrücke durchgehuscht, ohne das grüne Licht abzuwarten. Typisch für diese wilde Hummel.«
»Also Spottdrossel und wilde Hummel.« Stahnke zählte an den Fingern seiner linken Hand ab: »Was noch? Die Frau scheint viele Namen zu haben.«
»Zigeunerbraut«, platzte Sibylle Wiemken heraus. Erschrocken presste sie sich die flache Hand auf den Mund.
»Zigeuner?« Stahnke runzelte sie Stirn. »Ist sie von der Abstammung her Roma oder Sinti? Oder wie heißt die weibliche Form, Sinta? Das würde zu dem Buchstaben Z aus der Tätowierung des Toten passen.«
»Sintezza«, sagte Venema.
»Gesundheit!«, sagte Seifert und grinste über seinen flachen Witz.
Irritiert guckte Stahnke von einem zum anderen. »Wie war das?«
»Sintezza«, wiederholte der Oberkommissar und schaute Seifert missbilligend an. »Weibliche Form von Sinto. Sinti ist Plural.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Aber nein«, rief Sibylle Wiemken. »Ist sie gar nicht wirklich, das sagt man nur so. Weil sie doch so aussieht. Braune Lockenmähne, rassiges Gesicht, großer roter Mund, sehr weibliche Formen – eine Klischee-Carmen sozusagen. Soll auch einen entsprechenden Männerverbrauch haben.« Sie kicherte albern wie ein Teenager.
»Olé«, knurrte Stahnke. »Also keine Zigeuner-Abstammung? Überprüfen Sie das doch mal. Überhaupt könnte ich ein paar Hintergrundinformationen über die Frau gebrauchen, wie schon gesagt. Ebenso wie über unseren Toten, wie heißt er gleich – richtig, Heino Zander. Universität anfragen, Studentenwohnheim, vielleicht finden wir dort einen Ansatz. Kollege Seifert, wie sieht’s aus?«
Der Glatzkopf verzog missmutig Mund und Schnauzbart. »Die Uni ist nicht gerade meine Welt«, maulte er. »Außerdem haben wir bisher etwas Wichtiges vergessen. Nämlich das Wasser.«
»Nicht vergessen.« Stahnke schüttelte den Kopf. »Nur hintangestellt. Mir ist klar, dass der Täter auch auf dem Wasserweg zum Jachtanleger gekommen sein kann. Mitsamt seinem Opfer, über das wir dringend mehr wissen müssen. Eins nach dem anderen, Schritt für Schritt. Aber bitte, wir können die Schrittfolge auch ändern.«
»Ich bin für paralleles Vorgehen«, sagte Hauptkommissar Seifert. »Der Schleusenwärter weiß, welche Schiffe und Boote gestern bei ihm durchgekommen sind, das wird aufgezeichnet. Mit etwas Glück hat er darüber hinaus vielleicht beobachtet, was sich sonst noch im Huntebecken vor dem Schleusentor getan hat. Ich möchte ihn gerne befragen, solange die Erinnerungen frisch sind.«
»Alles klar, von mir aus«, stimmte Stahnke zu. »Und wer übernimmt die Uni samt Wohnheim?«
»Das mache ich.« Venema hob eifrig die Hand. »Ich kenne mich da ein bisschen aus, bin früher öfter dort gewesen.«
»Klar, früher, als die Uni-Feten noch wilder waren.« Seifert erhob sich. »Melde mich, wenn ich etwas habe«, sagte er und verließ den Raum, Sibylle Wiemken in seinem Kielwasser.
Thorsten Venema blieb noch sitzen, Stahnke gegenüber, an der entfernten Schmalseite des Tisches. Der Hauptkommissar hob den Blick: »Ja, Kollege, was gibt es noch?« Er hatte das diffuse Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, wusste aber nicht, wofür.
»Ich wollte noch …« Venema schluckte. »Ich wollte noch gratulieren. Erster Hauptkommissar, das ist schon etwas. Wirklich verdient nach all den Jahren. Was man so gehört hat, die vielen erfolgreichen Ermittlungen …« Der Oberkommissar schien auf eine Erwiderung zu warten, aber Stahnke ließ ihn zappeln. Endlich stieß Venema hervor: »War das der Grund für Ihre Rückkehr? Der Karrieresprung nach all den Jahren?«
Stahnke fixierte ihn mit seinen wasserblauen Augen, und es schien ewig zu dauern, ehe er antwortete: »Bleiben wir doch bei der Anrede Hauptkommissar, wie gestern schon gesagt, in Ordnung? Ansonsten bin ich wieder hier, das ist alles, was ich dazu sage. Höchstens noch, dass Ihre Fragetechnik lausig ist. Daran werden wir arbeiten. Aber vor allem haben wir einen Fall zu lösen.«
Leise ächzend erhob er sich aus seinem Stuhl. Als er sich anschickte, den Raum zu verlassen, war Thorsten Venema schon draußen auf dem Gang.
6.
Heute
Dienstbeginn anderthalb Stunden später, das hatte sie sich ausbedungen nach ihrer außerplanmäßigen Sonderschicht gestern Abend. Wenigstens schön ausschlafen! Von wegen. Ihre innere Uhr hatte sie zur üblichen Zeit aus dem Reich der unruhigen Träume geholt. Dort war sie übrigens von einem Froschmann bedrängt worden und hatte vergebens nach einem scharfen Messer gesucht. Solch eine innere Uhr hatte also auch ihr Gutes.
Jetzt stand sind in ihrem Garten, die bloßen Füße im taunassen Gras und einen dampfenden Kaffeebecher in der Hand, und blinzelte in die Morgensonne. Schön war das, so ganz allein und in Ruhe. Klar, ein Frühstück in fröhlicher Runde war auch etwas Schönes, das kannte sie aber nur aus Skiurlauben in Norwegen. Sie war ziemlich sicher, dass sie so etwas jeden Tag gar nicht ertragen würde. Und selbst wenn, der Preis dafür hieß Familie oder Wohngemeinschaft und war bei Weitem zu hoch. Jedenfalls ließ sie keine Gelegenheit aus, sich das einzureden.
Bei den Kiffernachbarn war noch kein Lebenszeichen wahrzunehmen. Lagen wohl noch im Betäubungsschlaf. Oder sie schoben ein morgendliches Nümmerchen. Olivia schüttelte sich bei dem Gedanken an die schmuddelige männerähnliche Hälfte des Pärchens. Oh bitte, so nötig konnte sie es gar nicht haben! Außerdem waren genügend akzeptable Exemplare auf dem Markt. Und frei verfügbar, vor allem, wenn man es nicht auf langfristige Vertragsbindung anlegte. Mit ihrem Marktwert konnte sie sehr zufrieden sein. Mit ihrer Rolle als Jägerin auch.
Auf die Dauer war das feuchte Gras doch etwas kühl an den Füßen; sie spürte Gänsehaut an den Armen, und dass sie unter ihrem T-Shirt nichts anhatte, konnte jetzt auch jeder sehen. Olivia scherte sie nicht darum. Sie wurde den Gedanken an diesen Froschmann nicht los.
»Moin! Und prost Kaffee!«, tönte es jenseits der sauber gestutzten Hecke. Albert Schulte stand dort, winkend und grinsend. Dieser alte Molch, dachte Olivia, wie lange steht der wohl schon da?
»Hast du eine Minute?«, fragte Schulte. »Möchte dir etwas zeigen.« Er wies mit dem Daumen auf die Terrassentür hinter sich: »Frischen Kaffee hab’ ich auch.«