zimperlich. Verrohte Sitten. Aus Worten werden irgendwann Taten.« Sie nickte zu dem Toten hinüber. »Wenn ich wüsste, wer das da ist, könnte ich Ihnen vielleicht etwas Konkreteres sagen.«
Der Abtransport verzögerte sich, weil zuerst die Felge vom Hals des Toten entfernt werden musste und sich das Drahtseil als unerwartet stabil erwies. Einer der Kriminaltechniker wurde nach einem Bolzenschneider geschickt. Der Schwimmsteg dröhnte unter seinen eiligen Schritten.
»Herr Stahnke«, ließ sich Mergner vernehmen. »Wie es aussieht, haben wir noch etwas Interessantes.« Er wies auf den rechten Unterarm des Toten, der während des Gezerres an der Stahlfelge seine Position verändert hatte. »Eine Tätowierung. Scheint eine Nummer zu sein. Eine fünfstellige Zahl.« Er rückte seine Brille mit den flaschenbodendicken Gläsern zurecht und schaute genauer hin: »Nein, eine vierstellige. Das davor ist ein Buchstabe. Ein Z, wie es aussieht. Z 3030.«
Der Hauptkommissar hatte währenddessen Olivia Dressel im Auge behalten; sie ließ professionelle Neugier erkennen, sonst nichts. Erst jetzt drehte er sich um und hockte sich neben den Gerichtsmediziner. Der Anblick der tätowierten Zahl auf der Innenseite des totenbleichen Unterarms war ein Schock, so vertraut wirkte er. Vertraut von alten Fotos und aus Filmdokumenten. Dokumenten des deutschen Versagens. KZ-Insassen hatten solche Nummern getragen. Ganz wenige Überlebende trugen sie heute noch.
Stahnke schaute erneut in das Gesicht des Toten. Wie alt müssten KZ-Überlebende inzwischen sein, überlegte er, 80 Jahre? Wohl eher 90 oder mehr. So alt war dieser Mann auf keinen Fall. »Das kommt nicht hin«, murmelte Stahnke.
»Nein, das tut es nicht. In mehrfacher Hinsicht.« Doktor Mergner war in seinen Überlegungen schon weiter. »Nicht nur der Tote ist zu jung für eine solche Nummer, die Tätowierung ist es auch. Wobei mir das eher geritzt aussieht als fachkundig tätowiert. In die Haut geritzt und dann etwas in die Wunden gerieben, Ruß vielleicht. Ziemlich frisch, höchstens ein paar Tage alt. Und der Buchstabe Z passt auch nicht für mich.«
»Z für Zigeuner?«, riet der Hauptkommissar. Ausschlussverfahren. Sicher wusste er nur von den farbigen Winkeln, mit denen die verschiedenen Gruppen von Gefangenen in den Konzentrationslagern der Nazis markiert worden waren – gelb, rot, grün, lila, blau, schwarz und rosa, auch in Kombination und mit verschiedenen Zusätzen. Die Winkel aber befanden sich an der Kleidung. Von einem tätowierten Z hörte er zum ersten Mal.
Mergner nickte. »Genau. So wurden die Insassen des Zigeunerlagers in Auschwitz tätowiert. Sagen Sie selbst, sieht dieser Mann für Sie aus wie ein Angehöriger der Volksgruppe der Sinti und Roma?«
»Sehen alle Zigeuner wie Zigeuner aus?«, fragte Stahnke zurück. »Und alle Juden wie Juden? Ephraim Kishon war hochgewachsen und blond, das hat ihm damals das Leben gerettet, weil alle dachten, so sieht doch ein Jude nicht aus.«
»Und Sally Perel ging als Volksdeutscher durch, obwohl er auffallend klein und knubbelig war.« Mergner seufzte theatralisch. »Lieber Herr Hauptkommissar, wir beide kennen unsere Schriftsteller, und wir kennen uns auch mit Ausnahmen aus. Aber bleiben wir ausnahmsweise bei der Regel, ja? Dieser Tote ist geschätzt 1,90 Meter groß, seine Haut ist extrem pigmentarm, seine Haare waren mal blond. Nordisch-keltischer Typus. Solche Männer haben seinerzeit im Zigeunerlager Auschwitz bewaffnet auf den Wachtürmen gestanden, nicht stramm vor den Baracken.« Der Mediziner hob die Hand: »Und ehe Sie sich daran festbeißen – auch dafür ist er deutlich zu jung.«
»Und seine Tätowierung sowieso.« Stahnke nickte. »Da will uns einer ein Rätsel aufgeben.« Er wandte sich der Frau auf dem Boot zu: »Oder vielleicht Ihnen?«
Olivia Dressel hatte ihre Haltung nicht verändert, nur den Hals gereckt. »Einen Moment lang dachte ich das«, antwortete sie. »Letztes Jahr habe ich eine Serie veröffentlicht im Oldenburger Lokalteil. Besondere Bauten und ihre Geschichte. Dabei bin ich auf allerhand vertuschte Arisierungen gestoßen. Sie wissen schon, Häuser, die früher mal Juden gehört und zwischen 1933 und 1938 den Besitzer gewechselt haben. Meist unter dubiosen Umständen, und jedes Mal hat sich irgendwer dabei eine goldene Nase verdient. Ich glaubte schon, die KZ-Nummer könnte ein Hinweis auf einen dieser Fälle sein. Aber das Z vor der Zahl passt da nicht hinein. In meinen Berichten ging es ausnahmslos um Juden.«
Erneut bebten die Planken des Stegs; diesmal war es tatsächlich der Polizeifotograf, ein Glatzkopf von den Ausmaßen eines Sumoringers. Gleichzeitig fuhren am Ufer zwei Streifenwagen auf, und mehrere Uniformierte begannen, den Bereich mit Blick auf den Tatort abzusperren, so gut es ging. Mehrere Leute knipsten sie dabei, darunter die beiden Journalisten, die Venema des Stegs verwiesen hatte. So lässig, wie die sich gaben, hatten sie ihre Pflichtaufnahmen bestimmt längst im Kasten.
Apropos. »Sie haben doch hoffentlich keine Tatortfotos gemacht, Frau Redakteurin?«, fragte er Olivia Dressel.
»Wo werde ich denn«, erwiderte die Frau. »Ist doch mein freier Nachmittag. Außerdem habe ich überhaupt keine Kamera dabei, nicht einmal ein Smartphone.« Zum Beweis hob sie beide Arme und drehte ihren Oberkörper hin und her.
»Ich seh’s, vielen Dank«, sagte Stahnke ungerührt. »Ich hätte Sie morgen gerne in der Polizeidirektion gesprochen. Wer weiß, vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Wann passt es Ihnen am besten?«
Olivia Dressel senkte ihre Arme und kreuzte sie unter der Brust. »Mittags«, antwortete sie. »Morgens ist immer Konferenz, dann werden die Themen vergeben und Kontakte angeleiert. Nachmittags ist Produktion, abends Umbruch. Mittags passt am besten. 14 Uhr?«
14 Uhr war für Stahnke schon Nachmittag, aber er wollte nicht kleinlich sein und nickte. Dann schloss er sich dem kleinen Zug an, der hinter der Bahre mit der Leiche hertrottete.
Olivia Dressel wartete, bis der Hauptkommissar außer Sicht war. Dann schwang sie sich ins Cockpit ihres Bootes. Im Sichtschutz des Steuerstandes zog sie ihr Smartphone aus dem Schaft ihres rechten Motorradstiefels und aktivierte die Kurzwahl ihrer Redaktion.
3.
Heute
Es war schon spät, aber immer noch hell, als Olivia an diesem Abend zu Hause eintraf. Leise ächzend, stellte sie ihr Motorrad ab, riss sich den Helm vom Kopf und schüttelte ihre Mähne. Von wegen freier Nachmittag! Ein echter Maloche-Tag war das noch geworden. Aber immerhin hatte sie morgen mal wieder die Seite eins. Mord im Jachthafen, mit Augenzeugenbericht und Tatortfotos aus nächster Nähe! Natürlich mit Pixeln und Balken an den kritischen Stellen. Die Regionale Rundschau gab sich immer noch gerne als das seriöse Chronistenblatt, das sie vor vielen Jahren einmal gewesen war. Aber alle in der Redaktion wussten, dass die Zukunft auf dem Boulevard lag und ohne bluttriefende Schlagzeilen gar nicht erst stattfand. Die Konkurrenz der Blasen-Blogger und Verschwörungs-Fabulierer aus dem Netz war einfach zu groß.
Aus dem Nachbarhaus drangen rhythmische Geräusche. Hörte der alte Schulte etwa laut Musik? Nein, das Geräusch kam aus seiner Garage. Anscheinend bastelte der Rentner wieder an einem seiner Einzylinder herum. Für diese antiquierten Dinger hatte der Alte wirklich ein Faible, dachte Olivia. Und ein Händchen. Etwas Ablenkung würde ihr guttun, denn diese blicklosen blauen Augen waren hartnäckig und schwer zu verdrängen. Also ging sie hinüber und wollte an die Seitentür der Garage klopfen, aber ihr Nachbar kam ihr zuvor. »Hab’ dein Monster schon brüllen hören«, begrüßte er sie lächelnd. »Über euch sollte man mal einen Film drehen. Die Schöne und das Biest.« Er winkte sie herein.
»Alter Charmeur. Deine Sehstörungen sind vermutlich erste Vergiftungserscheinungen«, erwiderte Olivia. Die Schmeichelei tat ihr gut. »Ziemlich dicke Luft hier. Ist das deine Vorstellung von einem schönen Tod? Benebelt umfallen, während du an einer deiner Geliebten herumfummelst?«
Schultes Lachen ging in ein heftiges Husten über. Er schaltete die Zündung der kleinen schwarzen Maschine aus, die im Leerlauf vor sich hin getuckert hatte, und stemmte das Garagentor hoch, um frische Luft hereinzulassen. Olivia half ihm dabei. »Du weißt doch, die lärmempfindlichen Nachbarn«, sagte Schulte. »Ein paar Minuten lang macht mir der Qualm nichts aus. Da hab’ ich schon ganz andere Sachen erlebt. Meine Lunge ist von innen geteert, die hält was aus.«
»Ich weiß, ich weiß.« Olivia rollte