Lockenkopf hatte ihn bemerkt. »Moin, Herr Erster Hauptkommissar«, grüßte er. »Ich bin Thorsten Venema, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Damals war ich ja noch …« Der Mann schien Stahnkes abweisende Miene zu deuten, stutzte, unterbrach sich, runzelte die Stirn. »Oberkommissar Venema, KDD«, rapportierte er dann betont sachlich. »Leiche ist geborgen, Tatort gesichert, Taucher sind bestellt, Wasserschutz ist unterwegs. Spurensicherung und Gerichtsmedizin …«
»Ja, Herr Venema, wir sind alle hier«, hauchte Doktor Mergner, gerade laut genug, um dem Ermittler das Wort abzuschneiden. »Und wir sind auch brav bei der Arbeit. Ich bin mir sicher, dass Herr Stahnke das bemerkt hat.« Er zwinkerte ihm zu: »Erster Hauptkommissar jetzt, aha! Eins rauf die Karriereleiter, wurde auch Zeit. Meinen Glückwunsch.«
»Bleiben wir doch trotzdem bei Hauptkommissar, Herr Doktor, aus alter Gewohnheit«, sagte Stahnke. Dann nickte er Venema zu, senkte aber schnell den Blick. Venema war in seiner ersten Oldenburger Zeit einer der talentiertesten Anwärter gewesen, und Stahnke hatte sich vorgenommen, den Jungen nach Kräften zu fördern. Dann aber trennte sich Katharina von ihm, seine Frau und Seelenpartnerin, und er ergriff die Flucht, brach alle Brücken hinter sich ab, fror alle Kontakte ein, löschte alle Festplatten. Thorsten Venema musste sehr enttäuscht von ihm gewesen sein, aber daran hatte er keinen Gedanken verschwendet, tief versunken in Selbstmitleid. Anscheinend hatte der Junge auch allein seinen Weg gemacht. Ob er sich gefreut hatte, als er hörte, dass Stahnke nach all den Jahren zurück nach Oldenburg kam? Falls ja, dann hatte die Freude nicht lange gedauert. Nur bis gerade eben. Selbstkontrolle, dachte Stanke, ich muss mich besser im Griff haben. Aber was sieht dieser Typ auch Marian so ähnlich! Diesem Blödmann, der ihm Sina weggenommen hatte. Bloß gut, dass Sina nicht hier war; sie konnte ihm alle Gedanken von der Stirn ablesen und würde ihm seinen stoppelhaarigen Kopf waschen. Natürlich war Marian kein Blödmann, natürlich war eine Frau oder Freundin kein Besitz, den jemand wegnehmen konnte. Ja doch! Wie hatte er diese Wortgefechte mit ihr geliebt. Warum konnte sie jetzt bloß nicht hier sein!
Stahnke stellte fest, dass sein Blick auf einem Gegenstand ruhte, der neben dem Kopf des Toten lag, in derselben Pfütze. Ein dünnes Drahtseil führte von diesem Gegenstand zum Hals der Leiche. »Eine Autofelge«, stellte er fest. »Damit wurde die Leiche beschwert?«
»Vielleicht ja«, raunte Mergner. »Vielleicht aber trifft das auch nur zum Teil zu.«
»Zu welchem Teil?«, knurrte Stahnke. Venema wich erschrocken einen Schritt zurück.
Mergner grinste totenschädelhaft. »Zur Beschwerung diente die Felge allemal«, hauchte er. »Fraglich ist, ob zur Beschwerung einer Leiche. Bis jetzt habe ich unter den vielen Wunden an diesem Körper keine letale gefunden. Gut möglich also, dass ein Ertrinkungstod vorliegt. Das stellen wir in der Pathologie fest.«
»Erst gefoltert, dann ertränkt?« Der Hauptkommissar stemmte beide Fäuste in die Seiten. »Klingt nach Hinrichtung. Russenmafia. Überhaupt Mafia. Waffen- oder Drogenhandel. Irgendwelche Hinweise?«
Venema schüttelte den Kopf. »Der Tote hat nichts bei sich, überhaupt nichts außer der Kleidung, Herr, äh … Hauptkommissar. Identifikation muss also über Fingerabdrücke, Zahnstatus und Foto erfolgen. Fotograf ist benachrichtigt.« Er reckte seinen Lockenkopf: »Kommt er da hinten schon?«
Der Hauptkommissar spürte Vibrationen in den Holzplanken unter seinen Schuhsohlen und drehte sich um. Zwei Personen näherten sich eilig, ein Mann und eine Frau, letztere behängt mit Kamera und Fototasche. Stahnke kannte längst noch nicht alle Mitarbeiter seiner Oldenburger Dienststelle, aber die beiden sahen ihm für Kollegen etwas zu aufgeregt und eifrig aus.
»Presse!«, ließ sich Venema prompt vernehmen. »Los, absperren! Stellungnahme gibt es später.«
Die beiden Uniformierten schoben sich an Stahnke vorbei und eilten den Neuankömmlingen entgegen. Der Hauptkommissar musste sich ein Grinsen verbeißen. Gut gemeint und nett gedacht von seinem Kollegen, aber der Schwimmsteg verlief parallel zum hoch gelegenen Ufer, und da war nicht abgesperrt. Von dort ließen sich hervorragende Tatortfotos machen. Wenn das nicht längst geschehen war. Mit einer knappen Kopfbewegung zum Ufer machte er Venema auf dessen Unterlassung aufmerksam. Der Oberkommissar errötete und eilte davon.
Stahnke blieb mit Mergner, den Kriminaltechnikern und dem Toten zurück. Und mit einer Frau, die er bis jetzt nicht bemerkt hatte. Sie hockte auf der Cockpitkante einer kleinen Rennjacht, die Füße auf die Scheuerleiste gestützt, und nahm gerade den letzten Zug aus ihrer Zigarette. Die Kippe ließ sie achtlos zwischen Boot und Steg ins Wasser fallen, wo die Strömung sie schnell davontrug. Sauerei, dachte Stahnke, hat diese Person denn keine Ahnung, wie viele Liter Wasser durch einen einzigen Zigarettenfilter vergiftet werden?
Die Frau trug Lederhose und Motorradstiefel, was auf einem Boot mehr als ungewöhnlich war, ihr kräftiger Oberkörper steckte in einem engen T-Shirt, ihr breites Gesicht war von einer brünetten Lockenmähne umrahmt. Offenbar war sie die Zeugin, von der ihm die Zentrale am Telefon berichtet hatte. Stahnke nickte ihr zu und stellte sich vor.
»Olivia Dressel«, erwiderte die Frau mit belegter Stimme. »Ich bin die, die den Toten gefunden hat.« Sie schloss die Augen, und die gebräunte Haut ihrer Arme kräuselte sich. »Die Leiche wurde an den Poller dort gehängt, während ich kurz mit dem Boot unterwegs war. Unfassbar. Was wollten die damit bloß erreichen?«
Stahnke starrte auf die Frau, löste seinen Blick von ihrem T-Shirt, musterte ihr Gesicht. Ihre Augen waren blau, dunkler als seine wasserblauen; ihr Blick ging durch ihn hindurch. Hatte sie diesen Mord wirklich gerade auf sich bezogen? Eine Verwandte des Toten war sie offenbar nicht, das hätte dessen Identifizierung erleichtert. Wie also kam sie darauf, dass diese Tat etwas mit ihr zu tun hatte?
»Sie meinen, weil dies Ihr Liegeplatz ist?«, fragte er.
Sie nickte. »Kaum bin ich weg, hängen sie den Toten bei mir hin. Ich war etwa eine Stunde unterwegs, vielleicht eineinviertel, alles in allem. Sie können den Wasserschutz fragen.« Sie deutete mit dem Kopf vage in Richtung Cäcilienbrücke, wo gerade der Polizeikreuzer in Sicht gekommen war. Vermutlich brachte er die angeforderten Taucher.
»Woher sollen die das wissen? Haben Sie ein Ticket bekommen?«, scherzte Stahnke, wohl wissend, wie unangebracht das in dieser Situation war. Aber die Frau wirkte so, als könnte sie das vertragen. Nein: Als würde sie darauf stehen.
Prompt grinste sie. »Und ob! Total dämlich. Vielleicht wäre ich sonst noch weitergefahren, aber danach war mir die Lust vergangen.«
»Fahren Sie jeden Nachmittag um diese Zeit raus? Ich meine während der Saison?«
»Schön wär’s. Aber nein, um diese Zeit arbeite ich gewöhnlich, heute war eine Ausnahme. Ich fahre meist am Wochenende. Oder an freien Tagen, wenn ich Wochenenddienst hatte.« Sie lachte: »Sie merken schon, ist ziemlich unstet bei mir.«
Stahnke warf Mergner einen verstohlenen Blick zu; der Doc musterte seine Zeugin mit unverhohlener Belustigung. »Was arbeiten Sie denn so Unstetes?«, fragte Stahnke sein Gegenüber.
»Redakteurin«, antwortete die Frau. »Olivia Dressel, Regionale Rundschau. Noch nie meine Namenszeile bemerkt? Sie lesen doch Zeitung, hoffe ich?«
»Doch«, erwiderte Stahnke, ohne sich provozieren zu lassen. »Aber Ihr Blatt lese ich erst seit Kurzem wieder. Ich habe lange Zeit in Ostfriesland gearbeitet.«
»Dort sind meine Artikel aber auch erschienen.« Olivia Dressel richtete ihren Zeigefinger auf ihn; der schwarz lackierte Nagel berührte fast seine Brust. »Bis vor einigen Monaten hatte die Regionale Rundschau ein Kooperationsabkommen mit der Ostfriesen-Post. Deren neuer Chef war so leichtsinnig, das zu kündigen. Jetzt werden wir denen mal zeigen, was eine Harke ist.«
Stahnke warf einen weiteren Blick auf die Männerleiche, die gerade zum Abtransport vorbereitet wurde. »Glauben Sie etwa, dieser Mord hat etwas damit zu tun? Wird im Zeitungsbusiness mit so harten Bandagen gekämpft? Ich dachte eher, diese Branche würde einem baldigen und ruhmlosen Ende entgegendümpeln.«
»Mit dem Rücken zur Wand kämpft mancher bis aufs Messer.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Aber