klopfte sich den Dreck von seinen Arbeitsklamotten. Eine rührende Geste, denn seine Sachen bestanden fast nur aus Dreck.
»Hat er wohl gepennt, der kleine Rotzlöffel!« Georg Zander gab dem deutlich kleineren Erich einen derben Schubs. »Los, wasch dich, zieh dein Jersey an und dann los! Sonst spielen die ohne uns. Hasko hält den Schiedsrichter hin, solange es geht, aber ewig wartet der sicher nicht. Die Meute tobt schon.« Noch ein Schubser. Erich Köhler, halb blind von dem Schmutz und den Tränen in seinen Augen, stieß sich den Fuß an einer alten Felge. Aufjaulend und hinkend eilte er ins Haus.
Eigentlich war es mehr eine Hütte, niedrig und grau, von dichtem Buschwerk umgeben, als wollte es sich vor der Welt verstecken. Ein aussichtsloser Versuch, denn die städtischen Behörden waren längst aufmerksam geworden auf den hölzernen Bau, den einer von Erich und Erhard Köhlers Onkeln vor Jahren in dieser ungenutzten Sandkuhle am Stadtrand von Oldenburg illegal errichtet hatte. Hinter der Hütte standen die Planwagen der Familie, mit denen sie bis vor wenigen Jahren als fahrende Händler unterwegs gewesen waren. Die Köhlers hielten sie gut in Schuss. Wenn der Räumungsbefehl kam, würde man die Wagen bitter nötig haben.
»Verletz dich nicht auch noch!«, brüllte Zander hinter Erich her. »Frisia braucht deine Tore. Dringend!« Etwas leiser knurrte er: »Und du brauchst sie auch. Vergiss das nicht.«
Schuldbewusst versteckte sich Erhard hinter dem hohen Garderobenschrank. Erich humpelte in die Küche, tastete sich zum Spülstein, stellte eine Emailleschüssel unter die kupferne Pumpe und betätigte den Schwengel. Mit Zisternenwasser und Kernseife reinigte er Gesicht und Hände, zog sich Hemd und wollenen Bostrock vom Leib und wusch sich den Hals und die Achselhöhlen. Das musste reichen. Von draußen tönte schon wieder Georg Zanders befehlsgewohnte Stimme. Der Mannschaftskapitän stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall.
Einen Moment lang passte Erhard nicht auf; als Erich aus der Küche in den Flur stürzte, rasselte er mit ihm zusammen. Kommentarlos verpasste sein älterer Bruder ihm zwei saftige Ohrfeigen. Erhard taumelte gegen die Wand. Wie zur Abwehr hielt er die alte Taschenuhr ihres Vaters vor sein Gesicht. »Der Stundenzeiger ist wieder lose!«, rief er. »Der große Zeiger ist schon einmal öfter rum. Ich hab’s gerade erst gemerkt.«
»Eine Stunde zu spät«, schimpfte Erich. Er riss sein Jersey mit der Nummer 10 aus dem Wäscheschrank und zwängte sich hinein. »Draußen steht Georg und macht mich zur Sau. Alles nur deinetwegen. Wehe, wenn die ohne mich spielen, dann kannst du was erleben.« Er stürmte aus dem Haus, Erhard in seinem Kielwasser.
Draußen hatte Georg Zander seinen Wagen gewendet und wartete mit laufendem Motor. Auch er fuhr einen Leichtlastwagen, der aber von anderem Kaliber war als die alte Karre, an der Erich herumgeschraubt hatte. Ein Mercedes LO 2000 mit Dieselmotor, erst ein Jahr alt. Der braun lackierte Wagen beschleunigte schneller als mancher Personenwagen; Erich saß kaum auf dem Polster, als Georg Zander auch schon die Kupplung kommen ließ. Erhard konnte sich gerade noch mit ins Führerhaus ziehen. Er schlug die Beifahrertür hinter sich zu.
»Was will die kleine Kröte denn hier?« Zanders Stimme übertönte den aufbrüllenden Motor. »Du spielst noch nicht mit, dich können wir nicht gebrauchen. Verpiss dich. Unsere Anlage platzt sowieso schon aus allen Nähten.«
»Lass ihn doch.« Erich Köhler legte den Arm um seinen Bruder. Offenbar taten ihm die Ohrfeigen von vorhin schon wieder leid. So leicht er aufbrauste, so schnell beruhigte er sich auch wieder. »Er kann uns doch ein bisschen zur Hand gehen. Und nachher alle Schuhe putzen, was, Erhard?« Er knuffte dem 14-Jährigen in die ungedeckte Seite. »Dafür zeigen wir dir heute, wie man richtig Fußball spielt. Vielleicht lernst du es dann auch einmal.«
»Da sagst du was, Kohle«, rief Georg Zander, der sein unbeladenes Fahrzeug mit höchstmöglichem Tempo durch die Schlaglöcher rumpeln und über Bahngleise holpern ließ. Grüne Bäume und graue Fassaden flitzten vorbei. »Heute muss es klappen! Der roten Brut werden wir zeigen, wo der Hammer hängt. Wann, wenn nicht jetzt!«
Erich wackelte zweifelnd mit dem Kopf; ihm war eindeutig nicht wohl zumute. Auch Erhard hatte gehört, dass bei den Hamburgern aus dem verrufenen Stadtteil St. Pauli allerhand Hafenarbeiter mitspielten, handfeste Leute, mit denen nicht zu spaßen war. Vor Kurzem noch hatten viele von denen mit den Roten sympathisiert, mit den Sozis oder sogar mit den Kommunisten; die schreckten vor keiner Saal- oder Straßenschlacht zurück, prügelten sich bei jeder Gelegenheit mit der SA. Ob das immer noch so war? Seit Hitler Reichskanzler war, hatte sich einiges verändert. Selbst in Oldenburg-Osternburg, dem Arbeiterstadtteil, in dem Frisia zu Hause war. Auch hier hatte es früher eine Menge Rote gegeben. Was, wenn die sich mit den anrückenden Hamburgern verbündeten? Vor einer feindseligen Kulisse aufzulaufen, war alles andere als ein Spaß.
Je näher sie der Sportanlage kamen, desto stiller wurde es im Führerhaus des Leichtlastwagens. Verbissen umkrampften Georg Zanders Hände das Lenkrad, immer fester drückte Erich Köhler seinen Bruder an sich. Erhard spürte die zunehmende Spannung, aber bei ihm überwog trotzdem die Vorfreude, die seine Augen funkeln ließ.
Vor dem Stadiontor wurden sie schon erwartet. Vereinskameraden winkten den Laster auf ein freigehaltenes Stück Wiese, zerrten Georg und Erich förmlich aus der Kabine. »Nicht mehr in die Umkleide!«, schrie Hasko Zander, Georgs Bruder, ebenso hochgewachsen und blond wie der. »Gleich zum Platz, hinten über den Draht! Sie fangen an, sie fangen schon an!«
Fluchend riss Georg Zander sich den Trainingsanzug vom Leib, warf die Sachen hinter sich, zwängte seine Füße hüpfend in die Fußballschuhe, die Hasko ihm reichte, und rannte los, hinter Erich Köhler her, der bereits über den Drahtzaun flankte. Lautes Rufen ertönte: »Guck, da kommt Kohle! He, Kohle, zeig’s ihnen!« Hundertfach, tausendfach wurde der Ruf aufgenommen, dröhnte wie ein Donnerwetter über den Rasen: »Kohle! Kohle!«
Um Erhard kümmerte sich niemand. Er sammelte Georg Zanders Trainingssachen auf und machte sich auf den Weg zur Ersatzbank. Jedem, der ihn aufhalten wollte, zeigte er die Jacke mit dem eingestickten Namen des Mannschaftskapitäns. Alle ließen ihn passieren. Rund um den Platz standen die Menschen wie eine kompakte Masse. Diese Masse aber war in ständiger Bewegung, die Leute rieben sich aneinander, johlend und fluchend, Hälse und Fäuste reckend. Irgendwie schaffte es Erhard, sich bis zum inneren Zaun durchzuquetschen. Weil er schlank war, jung und beweglich, vor allem jedoch, weil er dazu entschlossen war. Scheitern war für ihn keine Option. Er tauchte unter dem Zaun hindurch und hockte sich neben der Ersatzbank ins Gras, wo schon ein paar kleinere Jungs saßen. Ganz außen auf der Bank saß ein Betreuer, der zugleich Übungsleiter von Erhards Jugendmannschaft war; er zwinkerte ihm gutmütig zu. »Leg die Sachen unter die Bank, Chabo«, rief er, dann wandte er sich wieder dem Spiel zu.
Von der ersten Minute an ging es hoch her. Irgendwie hatten es die Zander-Brüder geschafft, beim Schiedsrichter eine Aufstellungsänderung in letzter Minute durchzusetzen, jedenfalls standen Georg und Erich in der Startformation, Erich als Mittelstürmer, Georg als Turm in der Innenverteidigung neben seinem Bruder Hasko. Die Gäste aus Hamburg übernahmen mit dem Anpfiff das Kommando, und die Zanders hatten gut zu tun, das Leder ein ums andere Mal aus dem Strafraum herauszudreschen. St. Pauli spielte schnell und ging hart in die Zweikämpfe. Die Frisianer waren sichtlich beeindruckt.
»Kohle! Kohle!« Auf der Gegengerade wurden die Zuschauer wieder laut, wollten ihre Mannschaft unterstützen, in den Angriff peitschen. Die Rufe jedoch blieben dünn und verhallten nach kurzer Zeit. Frisia blieb in der eigenen Abwehr eingeschnürt, Erich Köhler wartete an der Mittellinie vergebens auf einen entlastenden Pass. Nur wenige Zuschauer hielten mit den Gästen, aber die wurden immer lauter. Und frecher. »Was ist denn nun mit eurem Wunderstürmer?«, höhnte einer; normalerweise wäre er sofort niedergebrüllt worden, aber der Spielverlauf drückte auf die Stimmung. »Was ist das für ein fetter Zwerg? Kann der Schwatte überhaupt rennen?«, schrie ein anderer Paulianer. »He, du Kohle! Ab in deinen Sack! Und dann nichts wie in den Ofen.«
Das laute Gelächter schmerzte Erhard mehr als erwartet. Klar, Erich war eher klein und breit gebaut, aber doch alles andere als dick; als Stürmer kam ihm seine Statur zugute, sein niedriger Schwerpunkt machte ihn wendig und durchsetzungsfähig. Erhard war schlanker als sein Bruder, schon jetzt genauso groß wie er, und seine Haut war sehr viel heller. So was kam vor, auch ihre