zwischen Glasflächen und Wand, Flachdächer, bei denen es hineinregnete. Offenbar waren die Nachbesserungsarbeiten noch im Gange. Ob der adrette Paul da wohl geschlampt hatte? Komisch, dass davon kaum was in den Medien war.
»Du sollst keinen Aufdeckerartikel schreiben, sondern Werbung für den Typen machen«, schalt sich Vera selbst. »Dafür wirst du bezahlt.«
Dennoch saß sie noch eine ganze Zeit lang nachdenklich vor dem Computer. Bis sie plötzlich aufgeregtes Gegacker hochschrecken ließ. Sie lief nach draußen. In einer der Blumenkisten vor dem Haus lag ein Ei. Davor lief laut gackernd ein Huhn auf und ab. Vera traute ihren Augen nicht. Sie wusste, dass sie ganz sicher kein Huhn besaß. Auch niemand von den unmittelbaren Nachbarn besaß Hühner. Wo das wohl herkam? Das Huhn war rot-braun und weiß gesprenkelt und sah etwas zerrupft aus. Sein Hals war ganz kahl. Vermutlich das letzte in der Hackordnung, das auf der Suche nach einem sicheren Legeplatz vor seinen Artgenossen geflüchtet war. Vera nahm das Ei in die Hand. Es war noch ganz warm. Das Huhn schien bereits das Interesse an seinem Ei verloren zu haben. Es stolzierte Richtung Garten davon und machte sich über den Salat her, der in einem der Beete aufkam. Na toll, dachte Vera. Kurz überlegte sie, das Huhn zu verscheuchen, aber andererseits war ein frisches Ei im Gegenzug für ein paar mickrige Salatpflanzerln ein guter Tausch. Und außerdem liebte Letta Tiere. Vielleicht würde sie das Huhn auf andere Gedanken bringen.
Vera hatte panische Angst um Letta, seit sie zum ersten Mal bemerkt hatte, dass Letta alles zu Hause hortete, was scharf war. Messer, Scheren, Rasierklingen, Teppichcutter, Glasscherben.
Ritzen ist ein merkwürdiges Phänomen: Während die meisten Menschen Schmerzen oder körperliche Schäden instinktiv vermeiden, schneiden sich andere selbst. Meist sind es Jugendliche, in aller Regel Mädchen.
Letta wusste selbst nicht mehr, wie es angefangen hatte. Eigentlich war alles wie immer gewesen. Stress in der Schule, Streit mit ihrer Mutter. Die beiden hatten sich angeschrien, Letta war ins Badezimmer der weitläufigen Wiener Altbauwohnung geflüchtet. Auf dem Rand der Wanne war Veras Rasierer gelegen. Letta hatte danach gegriffen und dann die Klinge ganz langsam über ihren linken Unterarm gezogen. Einmal. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Es war ein schönes Gefühl gewesen, es hatte Erleichterung gebracht. An diesem Tag hatte sie sich zum ersten Mal selbst verletzt.
Monatelang war es ihr gelungen, die blutigen Schnitte und Narben zu verstecken. Sie trug lange Shirts, sogar im Hochsommer, wenn es draußen 35 Grad im Schatten hatte. Sie zog sich für den Turnunterricht auf dem Klo um und verdeckte ihre Unterarme mit Stulpen oder unzähligen Armketten und Festivalbändern.
Vera hatte »es« vom Klassenvorstand des Wiener Gymnasiums erfahren, das Letta damals besuchte. Andere Mütter hatten sich beschwert, dass Letta ihre Töchter mit dieser Ritzerei »angesteckt« hätte.
Vera hatte Letta die Jacke vom Leib gerissen und die Narben gesehen. Narben, die alt und silbrig weiß waren, geometrisch wie ein Spinnennetz. Narben, die frisch und rot waren und wulstig hervortraten. Narben, die von Verzweiflung zeugten.
»Warum tust du das?«, hatte Vera gefragt.
»Es hilft mir, die Traurigkeit auszuhalten«, hatte Letta geantwortet. Woher diese Traurigkeit käme? Schweigen.
»Das ist nur eine Modeerscheinung, eine pubertäre Phase, das tun jetzt alle Mädchen«, hatten Veras Freundinnen sie beruhigt. »Wir hatten damals alle Essstörungen, und die heute ritzen sich. Da geht es um den Kick.«
Aber Vera fühlte trotzdem ein nagendes Gefühl der Schuld. Letta war anders, sie war schon durch ihre Hautfarbe auf den ersten Blick anders, und daran war nur sie, ihre Mutter, schuld.
»Letta spürt sich nicht«, hatte die Schulpsychologin gesagt. »Sie steht neben sich. In so einer Situation lässt einen der Schmerz wenigstens irgendetwas spüren. Wenn Blut fließt, merkt sie, dass sie noch am Leben ist.«
»Letta idealisiert das Leiden«, hatte der Klassenvorstand gesagt: »Wir haben ›Die Leiden des jungen Werther‹ durchgenommen. Und während der Rest der Klasse die Leiden als erbärmlich übertrieben und Werther als Vaserl bezeichnet hat, hat Letta ihn glühend verteidigt.«
Vera hatte Letta zehn Mal zum Psychiater geschickt. Die Ritzerei hatte aufgehört, aber Letta war immer noch traurig. Die anderen Mütter hatten ihren Töchtern den Umgang mit Letta verboten.
»Das Mädel gehört aufs Land, hier kommt sie auf andere Gedanken«, hatte Oma Hilda gesagt. Und in Veras aktueller beruflicher Situation war der Umzug ins Südburgenland ohnehin die einzige Lösung. Eine neue Schule, ein neuer Start, neue Freunde. Tanzunterricht, damit Letta sich wieder spüren konnte. Vera hoffte, dass sich ihre Erwartungen erfüllen würden.
Trauerarbeit
Akt 5
Ich entwickelte kleine Rituale, die mir halfen, mit seinem Tod fertigzuwerden. Wenn die Trauer zu schlimm wurde, fing ich an, Dinge zu streicheln, die er mir hinterlassen hatte. Ich fuhr täglich zum Friedhof und putzte wie verrückt seinen Grabstein, so wie ich früher die schmutzigen Fenster in unserer Wohnung geputzt hatte. Ich sprach viel mit ihm, als würde er neben mir stehen. Und irgendwann antwortete er. Er sagte zu mir: »Du musst etwas tun. Du darfst ihn nicht einfach damit davonkommen lassen.«
Kapitel 10
Paul und die Zieserl
Im Auge einer männlichen Fliege gibt es eine bestimmte Region, die »Liebesstelle« genannt wird. Sie wird verwendet, um weibliche Fliegen zu entdecken und zu jagen. Dieser »Spot« befindet sich in der dorso-frontalen Region ihrer Augen und wird unter anderem benutzt, um eine potenzielle Partnerin im Flug im Auge zu behalten.
Paul wusste, am besten lügt man, wenn man haarscharf an der Wahrheit vorbeischrammt. Er erzählte Eva, dass er nach Graz musste, um den Ziviltechniker zu treffen, den er ob seines fehlenden Architektentitels benötigte, damit dieser gegen Bares seinen Stempel auf Pauls Einreichpläne setzte. Er erzählte Eva allerdings nicht, dass er danach noch die Zieserl auf einen Spritzer in einem Grazer Café treffen würde.
Sylvia Zieserl wiederum hatte ihrem Gatten erzählt, sie müsse nach Graz zum Chiropraktiker, weil sie seit ihrer Brustvergrößerung unter Rückenschmerzen litt. Die Titten waren sein Geschenk zu ihrem 40. gewesen. Jetzt würde Paul von diesem Geschenk profitieren.
Da war er sich 100-prozentig sicher. Die Zieserl hatte sofort auf seine Freundschaftsanfrage auf Facebook geantwortet. Ihr Gatte übrigens auch. Der ahnungslose Depp.
Paul wusste, dass er die Zieserl vögeln würde, seit er ihr das erste Mal Feuer gegeben hatte. Die hatte ihn an diesem Abend so auf eine bestimmte Art angeschaut. So auf eine verdorbene Art. Er wusste sofort, dass da was gehen könnte. Er hatte so was immer schon gewusst. Er kannte diesen Typ Frau. Das war eine, die es früher richtig wild getrieben hatte und sich dann aus Berechnung einen reichen, aber langweiligen Mann geangelt hatte, der es nie verstanden hatte, es ihr ordentlich zu besorgen. Die Höhepunkte dieser Ehe waren die monatlichen Treffen mit der Oberwarter Hautevolee. Nun, das würde er ändern.
Die Zieserl saß schon im Café, als Paul dort ankam. Er hatte sich absichtlich etwas Zeit gelassen. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass die Hasen mehr spurten, wenn man sie ein bisschen zappeln ließ. Sylvia sah scharf aus. Enges, weit ausgeschnittenes Top, Push-up-BH. Die Augen hatte sie wieder schwarz umrandet. Sie musterte Paul kühl. »Wenn du mich kennenlernen willst, musst du dich beeilen. Ich geh nämlich gleich wieder.«
Paul zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Dann verlieren wir am besten keine Zeit.«
*
Eva spürte sofort, dass etwas anders war, als Paul gegen 22 Uhr aus Graz zurückkam. Er hatte diese selbstzufriedene Aura, die er immer hatte, wenn er sich als Mann bestätigt fühlte.
Sie schnupperte verstohlen an ihm, als er sie zu Begrüßung auf den Mund küsste. Er roch wie immer. Weder frisch geduscht noch verschwitzt, sondern so steril, als hätte er nach dem Sex ohne Duschgel geduscht. Beides hatte sie in der Vergangenheit schon erlebt. Vielleicht bildete sie sich das Ganze doch nur ein und sah Gespenster. Paul hatte ihr ja versprochen, dass der Umzug