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Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit


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Realitätsbezug, Zweck der Bearbeitung und Grad der Lernerautonomie differenziert. Es resultieren z.B. Vorlesungen oder Seminare mit Fallbeispielen oder Formen einer praxisreflektierenden Kasuistik, in denen Studierende retrospektiv selbst erlebte Fälle bearbeiten. Damit kombiniert Steiner (2014) die lehr- bzw. lernseitige hochschulische Fallarbeit mit universitären Lehr-Lern-Kontexten und dem Fall selbst. Für die Analyse entsprechender lehramtsausbildender Lehrformate erscheint dies sinnvoll, ist jedoch für die hier verfolgte Fragestellung irrelevant. Stattdessen gilt es, eine rein fallbezogene Perspektive einzunehmen und zwischen Fällen mit Realitätsbezug, Extension und Repräsentationsform zu unterscheiden. In der allgemeinen Kasuistik wird traditionell zwischen realen, fiktiven und gemischten realitätsbezogenen Fällen unterschieden (vgl. Düwell / Pethes 2014 und Steiner 2014). Reale Fälle haben sich tatsächlich so ereignet, fiktive Fälle sind erfundene bzw. konstruierte „Erzählungen“ und gemischte Fälle kombinieren beides. Insbesondere in der Jurisprudenz und der Medizin spielt die Transferierbarkeit von Fällen in Form des exemplarischen Lernens eine besondere Rolle: Diese letztlich seit der Antike verhandelte Ausdifferenzierung in vollständig, teilweise und nicht transferierbare sowie in allgemeingültige Fälle (vgl. Aristoteles) hat wissenschaftsgeschichtlich eine virulente Rolle gespielt (vgl. z.B. die Arbeiten von John Stuart Mill, nach dessen Ansicht nur der einzelne Fall ein verlässliches Datum ist). Rezente wissenschaftstheoretische Arbeiten sehen eine Verbindung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall in seiner paradigmatischen Übertragbarkeit (Forrester 2014). Bis heute ist das Verhältnis von Einzelfall und Allgemeinem nicht abschließend geklärt. Mögliche Repräsentationsformen sind z.B. Erinnerungen, Transkripte von Unterrichtssituationen und Videographien von Unterricht, in deren deutschdidaktischem Zusammenhang vor allem die Pionierarbeiten von Wolfgang Boettcher zu nennen sind.

      Im Folgenden fahre ich einen kasuistischen Ansatz mit teilfiktiven Erzählungen. Diese Erzählungen plausibilisiere ich durch den systematischen Einbezug linguistischer Forschung zur Sprachtypologie, zum Spracherwerb, zur Migration und zum Sprachkontakt, indem ich von konstruierten Fällen ausgehe, die auf linguistischen Gegebenheiten beruhen. Dabei zeigt sich ein weiteres Mal die Bedeutsamkeit linguistischer Grundlagenforschung für die Sprachdidaktik Deutsch (vgl. Rothstein 2010 für eine ausführlichere Argumentation). Ich bewege mich damit ungefähr im Terrain, der von Steiner (2014: 6) als problem- oder entscheidungsorientiert und praxisreflektierend bezeichneten Kasuistik, hier allerdings auf die Ebene des Falls bezogen.

      Im folgenden Abschnitt plausibilisiere ich zunächst rein kasuistische Bedingungen zur Einbindung von Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht, um sie im Abschnitt vier zu systematisieren.

      3 Bedingungen für die deutschunterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen

      Die Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht ist abhängig von der zugrundeliegenden didaktischen Zielstellung. Grob lassen sich drei mögliche didaktische Konzepte unterscheiden: Sprachmittelnde Ansätze verweisen auf Herkunftssprachen als Lernhilfe, um Strukturen und Phänomene des Deutschen durch Rückgriff auf bereits in den Herkunftssprachen erworbene Elemente leichter erlernen zu können. Damit bewegen sich diese sprachmittelnden Ansätze im Bereich des sprachlichen Transfers, den sich die Tertiärsprachendidaktik bereits seit Längerem zu Nutze macht (u.a. Leitzke-Ungerer 2005).

      Interkulturelle Ansätze fokussieren kulturelle Aspekte der Herkunftssprachen in Bezug auf das Deutsche; ihr Ziel ist die soziale unterrichtliche Wertschätzung und Erweiterung sprachlicher und (inter-)kultureller Kompetenzen der Herkunftssprachensprecher. Im folgenden Fall (i) von Ingelore Oomen-Welke lässt sich belegen, dass sich onomastische Rekrutierungspraktiken übereinzelsprachlich und interkulturell ähneln (vgl. Nübling et al. 2012): Werden unterrichtlich Beispiele wie „de waagemaker“, „de koopmann“ und „de kuiper“ (allesamt Niederländisch) bzw. der Wagenmacher, der Kaufmann und der Küfer thematisiert, die sowohl Berufs- als auch Familiennamen sind, lässt sich die Gewinnung von Familiennamen übereinzelsprachlich belegen. Nimmt man Ausdrücke wie „servant“, „snyder“, „shoemaker“ etc. hinzu, so lassen sich klare lexikalische Rekrutierungstendenzen für Familiennamen belegen (Oomen-Welke et al. 2007). Weitere herkunftssprachliche Beispiele lassen den engen Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache erahnen.

      Sprachreflexiven Ansätzen geht es darum, „Einsichten in den Bau“ und in das „Funktionieren der Sprache“ zu erreichen, die ohne den Einbezug von Herkunftssprachen bzw. allgemein von fremden Sprachen nicht oder nicht ohne Weiteres möglich wären oder die durch den Sprachvergleich besonders gut didaktisierbar sind. Im folgenden Fall (ii), der aus Behr (2011: 83) entnommen ist, werden flexionsmorphologische Infinitivmarkierungen dargestellt. Gegeben werden die deutschen Infinitive sprechen, spielen, lernen, die englischen Grundformen (to) run, (to) borrow, (to) think, die lateinischen Grundformen spectare, legere, ridere und die französischen Infinitive rendre, sentir, cacher. Die zugrundeliegende Frage lautet dabei, wodurch sich die Infinitive einzelsprachlich erkennen lassen. Durch den Sprachvergleich zeigt sich, dass es einzelsprachlich nicht nur eine, sondern mehrere morphologisch distinkte Infinitivmarker gibt (Französisch u.a. –er, -oir, -re) und dass die Infinitivmarkierung synthetisch (etwa im Deutschen, Französischen und Latein) oder analytisch wie im Englischen erfolgen kann. Im Deutschen ist dies nur –en bzw. –n (Thieroff / Vogel 2009:10).

      Es ist durchaus denkbar, dass die sprachmittelnden, die interkulturellen und die sprachreflexiven Ansätze kombiniert werden; zum Teil dürften die Trennlinien ohnehin nicht immer scharf gezogen werden können. Im Fall (iii), einer lexikalischen unterrichtlichen Situation, kann die Behandlung von Interlexemen sowohl sprachmittelnd, interkulturell als auch sprachreflexiv erfolgen. Sprachmittelnd können Interlexeme z.B. beim Wortschatzausbau helfen (vgl. Meißner 2000). Interkulturell können sie bezogen auf die Zuschreibung eines Sachverhalts oder Gegenstands zu einer Kultur reflektiert werden. Die unterrichtliche Arbeit mit Interlexemen ermöglicht zudem Reflexionen über Entlehnungsprozesse und Sprachkontakt (vgl. Meißner 2000).

      Bedingung 1: Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht hängt von der didaktischen Zielsetzung ab.

      Die didaktische Zielsetzung interagiert mit sprachtypologischen Aspekten. Die Relevanz sprachtypologischer Merkmale für die reflektierende Einbindung der Herkunftssprache(n) zeigt sich z.B. im Fall (iv), wenn ein Schüler oder eine Schülerin mit Portugiesisch als Herkunftssprache nach der Plusquamperfekt-Auxiliarselektion gefragt wird: Portugiesisch bildet das Plusquamperfekt nicht periphrastisch (Schmitt 2001), daher ist die Frage falsch gestellt.

      Bedingung 2: Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht hängt von sprachtypologischen Merkmalen der auf das Deutsche zu beziehenden Sprache ab.

      Die relevanten sprachtypologischen Merkmale und didaktischen Ansätze hängen mit den unterrichtlich zu behandelnden sprachlichen Ebenen der Einzelsprache(n) zusammen, je nachdem ob Aufgaben zu ihrer Phonetik, Phonologie, Graphematik, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik etc. erfolgen. Ein sprachmittelnder Ansatz, der sich im Fall (v) auf das Russische im Vergleich zum Deutschen bezieht, eignet sich aufgrund des im Russischen verwendeten kyrillischen Alphabets zumindest dann nicht, wenn es um die Vermittlung der lateinischen Buchstaben geht. Semantisch eignet sich der progressive Aspekt des Russischen zur Sprachmittlung bzw. -reflexion der rheinischen Verlaufsform allerdings sehr wohl. Syntaktisch und morphologisch unterscheiden sich die rheinische Verlaufsform und der russische Progressiv jedoch.

      Bedingung 3: Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht hängt von den adressierten sprachlichen Merkmalen ab.

      Sprachliche Kompetenzen werden in der Regel durch personenbezogene Hintergrundmerkmale bedingt. Dazu zählen z.B. der Status als Erst-, Zweit- oder Fremdsprachler, die Sprachbiographie, der Literalisierungsgrad und der Grad des erfolgten Schriftspracherwerbs. Für den deutschunterrichtlichen Einbezug sind sie sowohl schüler- wie lehrerseitig relevant: Nur Lehrkräften, die über ausreichend strukturelles Hintergrundwissen zu den Herkunftssprachen ihrer Schülerinnen und Schüler verfügen, kann ihr sachadäquates unterrichtliches Einbinden gelingen. Damit ist nicht gemeint, dass die Lehrkräfte die jeweiligen Sprachen selbst beherrschen müssen, sondern dass sie über metasprachliche