Lüerß Werner

Markus Blume führt dich durch die Zeit


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die Tür wieder. Alles langsam, mein Lieber.

      Beim Blick zur Decke fehlten etwa vier Quadratmeter Putz. Die mussten mal rausgefallen sein. Komm, wir machen jetzt noch die Decke zu. He, alter Streber, es ist Sonntag, der erste Advent! Na los, komm schon!

      Ich ärgerte meinen inneren Schweinehund, holte Leiter, Baustrahler, Rigipsplatten und Schrauben. Deckenreste rausschlagen, altes Stroh entfernen, Rigipsplatten anschrauben. Meinen Kopf als Stütze benutzend, versenkte der Akkuschrauber eine Rigipsschraube nach der anderen, fast fertig! Fugenfüller hast du vergessen, stellte ich fest.

      Ein Schmerz durchzuckte mich. Der Akkuschrauber stürzte zu Boden, mein Blick erfasste die Situation sofort: Ich war gefangen an der Decke, eine verdammte Schraube hatte sich durch meinen Zeigefinger geschraubt! Es begann zu pochen wie der Briefträger mit einem Einschreiben vor der Tür.

      Schmerzen verzerrten mein Gesicht, Angst durchraste meinen Körper, Blut tropfte auf mein Gesicht. Gefangen blickte ich der Nacht entgegen.

      Meine Blase meldete sich zum Rapport: Bald konnte ich das Wasser nicht mehr halten. Auf der obersten Stufe der Leiter stehend, zitternd, ergoss mein Inneres sich warm plätschernd meine Beine entlang über die Schuhe. Die Flüssigkeit wurde vom alten Boden aufgesogen wie von einem Schwamm.

      Schmerzen durchschüttelten meine Seele. Markus, hörte ich mich, mach was, du musst hier weg! Eine Ohnmacht kommt dich holen! Verdammt, nein, ich wollte nicht daran denken: Ich sah meinen abgerissenen Finger, angeschraubt an der Decke – und ich am Boden mit gebrochenem Bein, gestürzt aus vier Metern Höhe!

      Ich versuchte, das Taschenmesser aus der Hose zu holen. Endlich, geschafft! Die Klinge, mit den Zähnen gepackt, öffnete sich aus der Griffschale. Pochende Schmerzen, Schaum im Mundwinkel, ein geschlagener Boxer in seiner letzten Runde, so schwankte und taumelte ich auf der Leiter.

      Mein Messer setzte an zum Befreiungsschlag. Als die Klinge in den Kreuzschlitz drang, drehte ich nach links. Schmerzen durchzuckten mich bis in die Fußspitzen, Blut spritzte mir in die Augen. Fast blind war ich nun, mehr fühlend als sehend! Beiß die Zähne zusammen, altes Haus! Schreiend drehte ich das Messer dem Leben entgegen.

      Prinz bellte wie verrückt, stützte die Vorderpfoten auf die Leiter, mein Gott, diese Schmerzen, wie eine Geburt zu neuem Leben! Es dauerte und dauerte, die Schraube drehte sich Windung um Windung aus dem alten Holz durch mein Fleisch.

      Die Klinge war tapfer, obwohl sie sich schon verbog. Nicht brechen, bitte! Geschafft! Endlich! Mein Finger war befreit von der Decke des Grauens. Noch zwei letzte Umdrehungen, die verfluchte Schraube war mit Blut getränkt. Ich stolperte die Leiter hinunter, stürzte durch den Raum, zurück ans Licht, in meine Welt.

      Ohnmächtig vor Schmerzen, fiel ich mit nasser Hose auf den Boden. blieb erst mal liegen, Taube Mattigkeit zogen mich in Ihre Momente.

      *

      Es wurde dunkel. Prinz, mein alter Freund, wärmte mich. Ich lag auf dem Boden zwischen Schutt. Etwas zog an mir vorüber; fast unwirklich spürte ich eine Berührung auf meiner Wange. Ich fühlte: Ich war behütet. Der Schmerz klopfte im Takt, aber nicht mehr so heftig, dass ich aus meiner Ohnmacht erwacht wäre. Ein Singen führte mich zurück ins Leben. Meine Augen öffneten sich schwer. Blut klebte in meinen Wimpern. Im Schleier des Lichtes sah ich sie neben mir sitzen – das kleine Mädchen aus der Vergangenheit. Ihre Augen lachten. Rote Haare, diesmal nicht zum Zopf geflochten, bildeten einen Lockenkopf. Ihr Lächeln sah mich.

      Mein Blick ging an ihr vorbei zur Decke – Blut! Ich wusste wieder Bescheid. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie war immer noch da. Meine Gedanken, zum Wort des Sprechens verpackt, fragten sie: „Wo kommst du denn her?“

      „Ich lebe hier im Haus meiner Eltern.“

      „Du auch?“

      Ich war sprachlos und griff nach ihr. Meine Hände gingen nicht durch sie hindurch wie vor einem Jahr. Ich wollte sie fragen, wie sie hieß; meine Gedanken wurden getragen ohne Worte.

      „Ich bin Miriam. Und du bist der durchgeknallte Markus mit der schönen Stimme.“ Ein Lächeln von mir.

      Was war nur geschehen? Wir verstanden uns.

      „Markus, das war nicht geschickt von dir, dich an die Decke zu nageln! Es war ein Geschrei, furchtbar, du hast mir richtig Angst gemacht! Das hatte ich schon lange nicht mehr gespürt.“

      „Tut mir leid, Miriam, ich habe mich sehr ungeschickt angestellt.“

      „Schon gut.“

      Ich versuchte mich aufzurichten, schwankte durch den Raum. Miriam folgte mir bis an die Tür.

      „Komm mit.“

      „Nein, Markus, ich kann nicht.“

      Sie verschwand im Raum der Zeit.

      Mir ist kalt, Markus! Ich ließ die Badewanne volllaufen. Heiß war das Wasser des Lebens; mein verletzter Finger pulsierte, schwoll an. Scheißfinger! Ich stieg aus der Wanne, ein warmes Frotteehandtuch umhüllte mich.

      Prinz war nicht gut drauf, er mied meine Nähe.

      Schließlich konnte ich die Schmerzen nicht mehr ertragen und ging zum Notarzt. Er legte mir einen Verband an und gab mir eine Tetanusspritze. Morgen, am Montag, sollte ich wiederkommen, zum Verbandswechsel.

      *

      Als ich zurückkam, lag das Haus im Dunkeln. Ich rief nach Prinz, er antwortete nicht. Komisch, dachte ich. Da zupfte es an meiner Hand.

      „Prinz, verdammt - hast du mich erschreckt!“

      Es zog mich in die Vergangenheit, dem „Blutraum“ entgegen. Ängstlich öffnete ich die Tür.

      Mein Atem stockte. Die andere, ferne Zeit war wieder da. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, die erste Kerze brannte, sonst war Stille. Alles war, wie ich es vor einem Jahr gesehen hatte. Und ich konnte es fassen, berühren – eine reale andere Welt!

      Ich packte den ersten Kaffeehausstuhl, musste mich setzen, befühlte meine Stirn. Fieber? Nein! Pochender Finger? Ja! Ich bin hier, bin angekommen.

      Ungläubige Blicke führten mich durch den Raum. Ich stand auf, wanderte umher, berührte alles mit den Fingern: Furchen in den alten Eichenplatten zeigten mir das Leben, das einmal an diesem Ort pulsiert hatte. Der Verkaufstresen, die alte Kasse, die Schubkästen mit den Messingbeschlägen, die Spiegel, am Rande schon blind werdend – eine vergessene Welt lebte hier weiter. Ich bückte mich, öffnete einen Schrank – leer! Beim Schließen bemerkte ich einen weißen Zipfel an der rechten Seite im Schrank. Ich zog daran, aber es geschah nichts. Ich schlug mit der gesunden Hand dagegen und eine geheime Tür öffnete sich. Ein gerahmtes Bild und eine alte, dunkelblaue Kladde lagen dort verborgen. Ich schlug das Heft auf – Gräser, getrocknete Blumen, in Zeitungspaper eingeschlagen.

      Lokal-Anzeiger der Reichshauptstadt/Montag, der 17. Mai 1920.

      „Markus, du hast mein Geheimnis gefunden.“

      Ich zuckte zusammen.

      „Miriam, das hat mich jetzt wirklich zusammenzucken lassen!“

      „Ich habe die Sachen schon vermisst.“

      „Wer ist das da auf dem Bild?“

      „Das bin ich, da war ich vier Jahre alt.“

      „Ein hübsches Mädchen.“

      „Mein Vater hat immer zu mir gesagt: Du bist mein Goldschatz.“

      Wir lachten, sie zeigte mir ihre Sammlung, erklärte, wo und wie sie alles gefunden hatte. Auf der nächsten Seite lag das gleiche Bild von ihr zwischen getrockneten Pflanzen – wie auf einer Blumenwiese liegend. Eine Seite weiter, zwischen der Judenkirsche, war ein anderes Bild eingefügt. Sie lachte.

      „Das bin ich auch, mein erster Schultag.“

      „Warum hast du die Bilder zwischen getrocknete Blumen gelegt?“

      „Weil die