Lüerß Werner

Markus Blume führt dich durch die Zeit


Скачать книгу

naiven Satz konnte er nicht vertragen, ich sah eine Zornesfalte auf seiner Stirn.

      „Herr Blume“, bellte er mich an, „was ich auf dem Herzen habe, werde ich Ihnen ganz gewiss nicht sagen! Passen Sie gefälligst auf, wenn ich hier meine Arbeit mache! Schlafen können Sie zu Haus, ist das klar?“

      „Verstanden, Herr Jansen“, rief ich. Bei diesem Typ kam man am besten weiter mit kurzen Sätzen. Ich hatte keine Lust, mich aufzuregen.

      Jansen redete weiter. „Herr Blume, ich habe eine Immobilie vom Rathaus Pankow zur Bearbeitung erhalten. Seit mehr als zwei Jahren versucht das Amtsgericht, die Erben einer gewissen Familie Petach ausfindig zu machen. Sollen vor Jahren nach Australien ausgewandert sein. Es gibt hier wahrscheinlich niemand mehr von denen. Kümmern Sie sich mal um diesen Fall!“

      Er warf einen halb zerfallenen Aktenordner vor sich auf den Tisch, den ich mir holen sollte. Wie immer war der Vorgang von seinem Büro keineswegs vorbereitet worden – alles war lose in die Akte geworfen. Jansens Sekretärin war selbst beim Laufen eine Bedrohung, eine absolute Null. Im Haus munkelten die Kollegen ohnehin, er habe sie nur zur seelischen und sonstigen Betreuung eingestellt. Wenn ich mir die Dame so ansah, musste es wohl stimmen …

      Ich, der Pedant, der Ordnungsmensch, und dann dieses zerfallene Fragment! Es grauste mich schon, wahrscheinlich einen halben Tag an den Papieren zu arbeiten, um eine halbwegs arbeitsfähige Grundlage zu schaffen.

      „Meine Damen und Herren, an die Arbeit!“, rief Jansen.

      *

      Beim Verlassen des Besprechungszimmers wünschte ich allen einen guten Tag. Auf dem Weg ins Büro holte ich mir eine Tasse Kaffee aus dem Automaten. Das Gesöff konnte man eigentlich nicht trinken, aber ich tat es doch immer wieder. Vor meinem Zimmer flog mir der Becher beim Öffnen der Tür aus der Hand, brauner Kaffeeschwall ergoss sich über die Mahagonitür auf den braunen Teppich. Na ja, man sah es eigentlich kaum … Was für ein Mist passiert mir heute wohl noch? Soll sich doch die Putze darum kümmern, mir reicht es jetzt!

      Im Zimmer schmiss ich die Akte erst einmal in hohen Bogen auf den Tisch. Ich musste mich für ein paar Minuten entspannen, die Augen schließen. Dann fiel mir ein, dass ich ja noch eine Flasche Wasser im Schrank hatte. Dieses Gesöff aus dem Automaten konnte mir für heute gestohlen bleiben.

      Ich trank Wasser, schlenderte im Büro herum, sah aus dem Fenster. Ich hatte keine Lust, mit der Akte anzufangen. So gingen die Stunden dahin. Auf einmal kamen mir meine verflossenen Liebschaften in den Sinn. Alle Frauen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, waren nach ein paar Wochen wieder ausgezogen. Im Grunde hatten Sie ja recht gehabt. Immer abwesend, nie Zeit, meine Gedanken immer dabei, andere Dinge zu klären, und die zwischenmenschlichen Beziehungen stets aus den Augen verloren.

      „War schon okay, ihr Verhalten mir gegenüber.

      Das hatte ich ihnen aber natürlich nicht erzählt; nach meiner Auffassung wäre es eine Bloßstellung gewesen. Nur ich muss wissen, was gut für mich ist. Ich brauche diesbezüglich all meine Kraft! Ha, ha, ich lachte selbst über meinen frauenfeindlichen Spruch.

      Markus, mach dir nichts vor, du bist einsam, hörte ich meinen inneren Freund rufen. Ich habe meine Arbeit, basta, keilte ich zurück.

      „Petach/Australien“ also war mein neuer Fall. Ich schaute aus dem Fenster. Überall weihnachtlich leuchtende Scheiben, glänzend in allen Farben. Ich seufzte und wandte mich wieder meinem Bürostuhl zu. Meine Hände umfassten die Lehne. Diesen Stuhl hatte ich schon ein paar Jahre, er war mir bei der Besichtigung einer alten Liegenschaft ans Herz gewachsen. Ich hatte ihn mitgenommen und von einem Polsterer aufarbeiten lassen. Wenn ich auf ihm saß und meine Arbeiten verrichtete, fühlte ich mich wohl. Meine Blicke streiften wieder die vergilbten Unterlagen. Minutenlang verharrte ich in dieser andächtigen Stellung, als ob sich eine Aura bilden würde um mich und um die alten Seiten, die da vor mir auf der Tischplatte lagen.

      Nach meinen inneren Unterredungen meldete sich endlich Interesse in mir an der Geschichte. Eigentlich gar nicht uninteressant, dieser Fall! Ich musste sofort an die Akte aus Pankow! Seite für Seite durchforschte ich die Papiere, aß dabei mein Pausenbrot und trank wie immer meinen obligatorischen halben Liter Fruchtsaft.

      Nachdem ich mich mit den Unterlagen etwas vertraut gemacht hatte, schrieben meine Hände eine Liste der zu klärenden Punkte auf. Ich fange meist mit dem Grundbuch an und setze meinen Weg dann systematisch in die Vergangenheit fort. Irgendwie ist es doch erstaunlich, welche Schaffenskraft der Mensch zu erreichen vermag.

      „Komisch, der eine sucht den Weg, allem aus dem Weg zu gehen“. Andere suchen ihr Heil im Streit und Zerwürfnis. Der Dritte ist mehr mein Naturell: Er sucht nach dem verborgenen Schatz. Natürlich nicht den materiellen, nein, dazu ist die Zeit zu schade. Er sucht nach dem, was uns auszeichnet, nach dem Spürsinn, der kleinen Trüffelnase.

      Das ist unser Lebenselixier, das lässt uns Freiraum, um von dem Alltäglichen Abstand zu bekommen. Ja, das ist es, was wir suchen, kleine Trüffelsucher in dieser Stadt …

      Nachdem ich mir die Eckdaten zusammengestellt hatte, wollte ich mir am nächsten Tag das Grundstück in Pankow ansehen – natürlich nur, wenn der Sturm sich gelegt hatte und ich in der Lage war, den Ort sicher zu betreten. Denn in Gefahr wollte ich mich nicht begeben, dazu hing ich doch zu sehr an meinen Leben.

      Wie es aussah, war der Tag fast zu Ende. Die ersten Kollegen verließen ihre Büros. Ralf und ich waren fast immer die Letzten. Heute saßen wir gegenüber von unserem Büro noch ein bisschen im Café und unterhielten uns über die Dinge des Lebens.

      *

      Ralf brauchte nichts mehr einzukaufen; er hatte für seine Familie schon alle Geschenke beisammen.

      „Und, Ralf“, fragte ich ihn, „wie sieht es bei dir aus? Gehst du zu jemand Heiligabend?“

      „Nee, ich bleibe zu Haus und werde mich mal so richtig ausschlafen.“

      „Was, du besuchst keine Bekannten?“

      „Nein, Ich habe dir doch gerade gesagt, ich bleibe zu Haus.“

      Als ich durch die Scheibe nach draußen guckte, bemerkte ich, wie Ralf mich anschaute. Er schüttelte den Kopf. Ich tat so, als ginge es mich nichts an.

      Wir gönnten uns noch einen Milchkaffee und einen kleinen Kuchen. Draußen schneite es unaufhörlich; der Sturm hatte sich noch nicht gelegt. Nachdem wir ein Glas Barolo getrunken hatten, verließen wir gegen halb sieben das Kaffee. Ralf lief zum Bus. Er brauchte nur drei Stationen zu seiner Wohnung.

      Die Akte Petach, die ich für morgen in meine Tasche stecken wollte, suchte ich vergebens. Meine Aktentasche war leer. Ein heißer Blitz durchfuhr mich: Ich hatte sie auf der Heizung im Büro liegengelassen! Also wieder zurück ins Büro. Im Haus war keiner mehr – nur Norbert, der Hauswart. Er wohnte im zweiten Stock. Ich klingelte ein paar Mal kräftig.

      „Ja, wer stört mich beim Abendbrot?“

      „Ich bin es, Markus!“

      „Mann oh Mann, nicht du schon wieder! Warte, ich komme runter!“

      Der Sturm schüttelte mich vor dem Eingang durch; die Zeit wollte nicht vergehen. Ungeduldig stand ich vor der Tür – wo er wohl blieb? Es vergingen nur Minuten, bis der Hauswart an der Tür war, aber durch das missliche Wetter wurde die Zeit ellenlang.

      Norbert und ich fuhren mit dem Fahrstuhl ins zweite Geschoss. Hier trennten sich unsere Wege. Der Fahrstuhl summte leise bis zum siebten Geschoss. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Büro. Ich schloss die Tür auf. Im Halbdunkeln fiel mein Blick auf die Heizung. Hier lagen die Unterlagen.

      Beim Einpacken der Akte fiel ein alter Schlüssel aus einem kleinen Seitenfach auf den Boden. Ich hob ihn auf, schob ihn in die Aktentasche und machte mich endlich auf den Heimweg.

      Minuten später saß ich entspannt in der U-Bahn. Auf einmal fiel mir der Schlüssel ein. Ich stellte mir vor, morgen in der Frühe in Pankow im Schnee zu stehen, keinen Schlüssel dabei. Das wäre für mich ein Grund gewesen zu hinterfragen, ob das, was mir so alles unterlief,