Lüerß Werner

Markus Blume führt dich durch die Zeit


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      In der U-Bahn war nicht viel los. Schräg gegenüber unterhielten sich zwei Frauen mit vollen Taschen. Die hatten bestimmt viel Geld für Weihnachten ausgegeben. Ich fühlte Ruhe in mir und diese quirlige Gelassenheit, Menschen zu taxieren. „Ich bin ein Meister in meiner Welt, Markus, eben.“

      „Mir gegenüber saß ein Mann, der diese Zeitung zwischen seinen fetten Fingern hielt“. An der linken Hand trug er einen übergroßen Ring mit einem Löwenkopf mit roten Augen. Seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Als ich meine Augen auf seine Schuhe lenkte sah ich, sie waren voller verkrustetem Dreck. Schlampe!

      Ich versuchte, mit meinen Blicken die Zeitung zu durchdringen, um in das fette Gesicht dieser Type zu gelangen. Zuerst lief alles gegen mich. Er rührte sich nicht. Ab und zu stiegen kleine Wolken Zigarrenrauch auf. Beim Betrachten der Wölkchen fiel mir auf, dass der Mann die Zeitung auf dem Kopf hielt. Was für eine Kunst! Rauchend im Zug, dazu noch die Zeitung rückwärts lesend, perfekt! Meine Blicke vertieften sich noch mehr in die Zeitung.

      „Ich starrte auf ihren Mittelpunkt. Langsam, ganz langsam senkte sie sich, sachte, zuerst sah ich nur die nach Gel triefenden angegrauten krausen Haare am Schädel angepresst, dann erschien das Gesicht. Erst die Stirn mit kleinen Falten, dann die buschigen Augenbrauen, seine stahlblauen Augen passten überhaupt nicht zu diesem Typen.

      Oh Schreck, was für eine rote Nase der hat, dachte ich. Ich sah in sein Gesicht, aufgeblasen wie ein rosa Luftballon und dieses schaute mich über die Zeitung geradewegs an. Dabei zog er kräftig an seiner Zigarre.

      „Ich lachte ihn an, sagte fröhlich, wie man eben zu seinen Mitmenschen sein sollte: „Sie haben schon seit zwanzig Minuten Ihre Zeitung auf den Kopf gelesen! Wie machen Sie das denn?“

      Der Fette bekam einen hochroten Kopf. Oh Mann, gleich platzt er!

      In diesem Moment sprang der Kerl auf. Ich fürchtete, dass er sich mit einem Wutschrei auf mich werfen würde. Aber nein, was tat er? Er nahm die Zeitung, zerriss sie in Fetzen und schmiss sein Werk auf den Boden, um es mit seinen großen Füßen zu bearbeiten. Dann rannte er ans andere Ende des Abteils. Beim nächsten Bahnhof verließ er den Zug. Was es doch für Menschen gibt.

      In der Residenzstraße sah ich plötzlich (Wunder gibt’s doch noch, ich habe meinen Bus erwischt!) war alles voll, Leute mit Paketen und Päckchen zogen durch die Straßen, ja, bald war Weihnachten.

      Zu Hause zog ich mich erst einmal aus meinen Körperverpackungen, dann kochte ich mir eine Kanne Tee, Friesentee, und machte mir ein paar belegte Brote. Eigentlich wollte ich noch ein bisschen lesen, hatte aber doch keine richtige Einstellung zur Literatur an diesem Tag. Nachdem ich meine Abendpflege erledigt hatte, schlief ich schnell ein.

      *

      Am nächsten Tag, dem 22. 12. 1991, stand ich gegen sechs Uhr auf und schaltete schlaftrunken das Radio ein, meinen Lieblingssender, RIAS. Laut Wetterbericht sollte es ein schöner Wintertag werden. Ich freute mich. Der Tag konnte kommen! In mir war ein gutes Gefühl, alles lief prima. Ich hatte nichts vergessen und stand mit allem, was ich für den Tag brauchte, vor meiner Wohnungstür. Im Haus roch es nach Zimt und Honigkuchen. Im zweiten Stock öffnete Erika die Tür.

      „Markus, könnten Sie mir heute Abend vielleicht ein paar Sachen mitbringen?“

      „Aber sicher doch.“ Ich nahm den Einkaufszettel. Erika wollte mir gleich Geld geben.

      „Nein, lassen Sie mal, das können wir doch heute Abend abrechnen …“

      Ich machte mich auf den Weg nach Pankow. Auf der Straße überlegte ich: Wie kommst du jetzt am besten zur Wandlitzer Allee 32? Es sind von hier nicht mehr als acht Kilometer, aber die Verbindung mit der BVG ist nicht sehr gut. Ich entschloss mich, ein Taxi zu nehmen. Das konnte mit der Spesenabrechnung eingereicht werden.

      Ich ging zur nächsten Ecke, winkte mir ein Taxi heran und setzte mich auf den Beifahrersitz. Der Taxifahrer, ein junger Mann mit Zickenbart, begrüßte mich überschwänglich, als wären wir alte Freunde.

      Die Fahrt war schwierig. Überall war die Stadtreinigung dabei, den Schnee in den Griff zu bekommen. Etwas später als ich gedacht hatte, erreichten wir das Ziel.

      Ich stieg aus und zahlte im Stehen. Nachdem das Taxi weg war, schaute ich mich um. Ich befand mich in einer Vorortstraße. Die Häuser waren groß, dunkel und wirkten irgendwie, als sei die Zeit stehengeblieben. Ein Großteil von ihnen schien leer zu stehen. Mir gegenüber lag das Grundstück Nr. 32. Der schmiedeeiserne Zaun, der ein großes Anwesen einschloss, war an einigen Stellen brüchig, trotzdem ahnte man noch seine alte Pracht. Hinter dem Zaun standen zwei große Tannen, auf ihren Ästen lag Schnee. Sonnenstrahlen glitzerten darauf.

      Beim Betreten des Grundstücks verfing ich mich in einer Rosenranke; die versteckt unter einer weisen Wolke aus Schnee lag, ich brauchte einige Minuten, um mich zu befreien. Alles lag unter einem halben Meter Schnee. Ich versuchte einen Rundgang über das Grundstück. Dabei arbeitete ich Punkte auf meiner Liste ab: Baumbestand, Erschließung, Nebengebäude, eventuelle Altlasten, Abwassergruben lagen unter Schnee verborgen, Zustand der Zäune und Mauern … Gott sei Dank, das hatte ich geschafft!

      Ich stieg die flache Außentreppe empor und stand vor dem alten Eingang. Nachdem ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, versuchte ich die Tür zu öffnen. Sie klemmte. Als ich mich dagegen presste, ging es auf einmal leicht.

      Ich stand in einem halbdunklen Raum und ließ meine Blicke schweifen. Die Scheiben waren durch den Frost mit Winterrosen verziert – ein schöner Anblick. Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, schloss ich die Haustür hinter mir, nahm meine Taschenlampe und suchte den Keller. Meist liegt er hinter der Küche, richtig, ich stand vor der Kellertür! Bei meinen Recherchen hatte ich einen eigenen Bearbeitungsstil entwickelt: Ich durchsuchte erst immer den Keller auf Feuchtigkeit und Schimmel, nahm dann die Wände sorgsam unter die Lupe und stieg schließlich zu den Speichern hinauf. Dabei erledigte ich meine Strichliste, ging mechanisch Raum für Raum ab.

      Der Keller war kalt und dunkel, aber das war ich gewöhnt. Ich leuchtete die Wände mit meiner Taschenlampe ab und fand alles so weit in Ordnung. Nachdem der Keller fertig war, kümmerte ich mich um das Dachgeschoss. Das Treppenhaus lag im Halbschatten; mit meiner Taschenlampe leuchtete ich mir den Weg nach oben. Überall waren Spinnennetze, aber sonst war alles, was ich bis jetzt gesehen hatte, in einem erstaunlich guten Zustand.

      Oben angekommen, prüfte ich die Sparren des Dachstuhls. Kein Befall vom gemeinen Holzwurm vorhanden! Komisch, so etwas hatte ich noch nicht erlebt, nicht der geringste Befall. Ich machte ein großes Kreuz auf meiner Liste.

      Als ich gerade mit den Zimmern im Obergeschoss anfangen wollte, sah ich einen Lichtschein aus einem Türspalt hervorschimmern. Dazu hörte ich leises Summen. Verdutzt drehte ich den Kopf. Sollte die Sonne schon eine solche Kraft haben? Das konnte zu dieser Jahreszeit eigentlich nicht sein! Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Ich schob meine Hände an den Kopf: „Nee, Fieber haste nicht, alles in Ordnung.“ Ich schlug meine Augen wieder auf.

      Ein großer Kerzenständer mit neun Kerzen brannte hell und klar mitten im Raum. Auf einem Plüschsessel vor dem Fenster saß ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Es spielte mit ihrer Puppe, dabei summte es leise ein Lied vor sich hin. Sie trug ein weißes Rüschenkleid mit Spitzen an den Ärmeln. Ihre roten Haare waren zu Zöpfen geflochten; an ihren Enden hingen weiße Schleifen. Die Schuhe glänzten dunkelrot und waren bis eine Handbreit über den Knöcheln geschnürt.

      Plötzlich sprang sie vom Sessel auf und rannte auf mich zu. In der letzten Sekunde drehte sie sich jedoch wieder in Richtung Stuhl und ließ sich fallen wie ein Stein.

      Ich hörte, wie sie sang – ein Kinderlied, wie meine Großmutter es mir oft vorgesungen hat.

      „Hallo, du, wo kommst du denn her?“

      Das Mädchen schien mich nicht zu hören. Mein Puls raste. Ich betrat das Zimmer und wollte das Kind an der Schulter berühren. Meine Hand griff ins Leere.

      Erschrocken wich ich zurück. Das Mädchen war so angezogen wie vor achtzig Jahren, auch die