die Tür bis auf einen Spalt. Wo war ich bloß gelandet? Auf der Treppe setzte ich mich auf die Stufen. Ich versuchte, meine Sinne in normale Bahnen zu lenken, schaffte es aber nicht. Den Handlauf schon in der Hand, sah ich gegenüber aus einer anderen Tür Licht. Meine Neugierde war größer als meine Furcht.
Meine Trüffelnase wurde wach; vorsichtig öffnete ich die Tür. Im Schaukelstuhl wippend, saß ein Mann von etwa siebzig mit einer Pfeife in der Hand, aus der unentwegt Wölkchen stiegen. Langsam bewegte er sein Bein hin und her, im Rhythmus mit seinem sich hebenden und senkenden Brustkorb.
Auf einmal stieg mir ein Duft von Kaffee und Kuchen in die Nase, der von unten zu kommen schien. Was war das jetzt wieder? Ich ging langsam die Treppe nach unten. Durch eine Glasscheibe sah ich altmodisch gekleidete Menschen in einem Raum, der einer Konditorei ähnelte. Sie saßen an Tischen und tranken Kaffee und Kuchen. Markus, du bist in einer Bäckerei gelandet!
Mein Herz schlug schneller. Ich öffnete die Tür. Niemand drehte sich nach mir um. In der Ecke neben der Tür stand ein Weidenkorb, in ihm schlummerte ein kleiner brauner Hund mit schwarzen Augen. Ich winkte ihm zu, aber auch er konnte mich nicht sehen. Was für eine unglaubliche Geschichte!
Immer wieder kamen Menschen, holten Brot und Stollen, ein reges Treiben. In dem Raum, der etwa vierzig Quadratmeter groß sein mochte, leuchteten überall kleine Sterne. Auf einem Tisch in der Mitte stand ein Adventskranz mit drei brennenden Kerzen. Ich blickte auf den Kranz als stände ich unter einem Narkotikum. Hier ist ja die gleiche Zeit wie bei uns 1991!
Neben mir öffnete sich die Tür. Das Mädchen und der alte Mann von oben kamen herein, gingen an mir vorbei, setzten sich an den einzigen noch freien Tisch und sangen Weihnachtslieder. Der alte Mann spielte auf seiner Mundharmonika. Ein schönes Bild. Ich fühlte mich wohl, Tränen traten aus meinen Augen, rollten meine Wangen entlang, fielen zu Boden und platzten wie Knospen im Frühling. Dabei benetzten sie den Raum und berührten den Weidenkorb unter mir.
„Welcher Frieden auf dieser Gemeinschaft ruht, dachte ich.“
Die Zeit ging dahin; langsam wurde es dunkel. Ich bemerkte es nicht. Beiläufig schaute ich auf meine Uhr: Was, schon Viertel nach Vier? Bin ich schon sechs Stunden hier? Ich konnte es mir nicht erklären. Ich musste mich schleunigst auf den Heimweg machen.
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass der kleine Hund mir nachlief. Am Ausgang, für den ich immer noch den Schlüssel hatte, stand er neben mir, schaute hoch und roch an meinen Schuhen. Dabei wedelte er mit dem Schwanz.
Was ist geschehen, Markus, fragte ich mich? Es kann doch nicht sein, dass ein Hund mich erkennt, aber all die anderen nicht? Ich trug den Kleinen zurück in den Verkaufsraum, ging schnell zur Tür und verschloss sie hinter mir. Auf der Straße angekommen, konnte ich links neben dem zweiten Eingang an der Scheibe eine Aufschrift erkennen:
Bäcker und Konditormeister Petach
Meine Erlebnisse – „waren sie real gewesen, oder hatte ich mich überarbeitet und sah nun Gespenster?“
Ich ging zur nächsten Bushaltestelle und stieg ein. Auf dem Weg nach Hause fiel mir der Zettel von Erika in die Hände: Schillerstraße bei Edeka: Brot - Butter - Honig - Flasche Rotwein, lieblich stand auf den Zettel, und: schwarzen Tee besorgen. Diese Dinge kaufte ich schnell ein.
Im Haus angekommen, ging ich gleich zu Erika in den zweiten Stock, um ihr ihre Sachen zu bringen.
„Na, Markus, Sie sehen aber ganz schön abgekämpft aus! Was haben Sie denn den ganzen Tag gemacht, dass Sie so fertig sind?“ Sie zog mich in ihre Wohnung. Im Wohnzimmer neben dem Klavier musste ich mich erst einmal setzen.
„Hier, Markus, trinken Sie erst mal einen Tee, dann werden Ihre Lebensgeister schon wieder erwachen!“ Erika lachte.
Auf dem großen Eichentisch stand ein Bunter Teller mit Pfefferkuchen und ein Weihnachtskranz aus Holz, den Erika sich in den zwanziger Jahren bei einem Winterurlaub im Erzgebirge gekauft hatte. In den vergangenen Jahren hatte ich mich hier oft nach schweren Tagen eingefunden. Ich fühlte mich wohl bei ihr, eigentlich wie früher – daheim. Erika setzte sich mir gegenüber an den Tisch, schaute mich durch ihre starke Brille an. Schon als kleines Kind hatte sie Augengläser (Brille) tragen müssen.
„Markus, etwas stimmt nicht mit Ihnen! Möchten Sie darüber sprechen?“
Ich nickte, zum Sprechen war ich in diesem Moment nicht fähig. Erika war eine Frau, die warten konnte – oh ja, und wie! Es war ruhig im Haus, nur von weitem hörte man ab und zu ein Auto. Durch den Schnee war alles leiser als sonst. Ich versuchte, die Ereignisse in meinem Inneren chronologisch zu ordnen, schaffte es aber nicht. Ich räusperte mich noch einmal. Markus, lass einfach los!
Ich begann ihr alles zu erzählen: von dem Haus, dem Kind, dem Mann, von der Bäckerei, von meinen Tränen und von den vielen Menschen. Zum Schluss vergaß ich natürlich auch nicht den Hund: wie er mich erkannt hatte und alles andere. Nachdem ich fertig war, ging Erika in die Küche und schenkte uns erst einmal einen großen Pott Tee ein.
„Markus, was Sie mir da erzählen, das ist ja eine unglaubliche Geschichte.“
„Ja, aber … Erika glauben Sie mir?“
Sie sah meine flehenden Augen. Ein Lächeln huschte über Ihr Gesicht. „Markus, ja, ich fühle, dass Sie die Wahrheit sagen.“
„Ich möchte wissen, warum der Hund mich erkannt hat. Erika, haben Sie dafür eine Erklärung?“
„Dazu, Markus, fällt mir eine Geschichte ein. Vor langen Jahren war mein Vater mit seinem Bruder in den Bergen. Das Wetter änderte sich schlagartig: Sturm kam auf und die beiden waren den Unbilden der Natur hilflos ausgeliefert. Stunde um Stunde tobte der Sturm durch den Wald. Rennend erreichten Sie ein altes moosbewachsenes Haus. Fenster und Tür waren geschlossen. Beide waren völlig durchnässt und warfen sich gegen die Tür, die sofort aufbrach. Vor Schwäche stürzten sie zu Boden und lagen dort bestimmt einige Stunden. Vater ist dann als erster wach geworden, sein Bruder lag neben ihm, weiß im Gesicht. Vater hörte keinen Atem, er schüttelte ihn, aber er wurde nicht mehr wach. Vater weinte bitterlich, er hatte nicht erwartet, in dieser Stunde seinen Bruder zu verlieren! Auf einmal veränderte sich alles: Die Tür ging auf, zwei Männer kamen auf meinen Vater zu, hoben seinen Bruder empor, legten ihn auf den Eichentisch mitten im Raum und sprachen mit sonderbaren Lauten zueinander. Der eine hob seinen Kopf und flößte ihm einen Trank ein.
Innerhalb weniger Sekunden war Vaters Bruder wieder wach, als wäre nichts geschehen. Seine roten Backen strahlten, wie immer. Die Gestalten aber, die dem Bruder neues Leben eingehaucht hatten, verschwanden im Nebel! Das Zimmer wurde wieder zur Nacht. Nachdem der Sturm sich am Morgen gelegt hat, sind beide wieder wohlbehalten zu Haus angekommen. Beide, Vater und Bruder Gustav, lebten noch viele Jahre in Berlin. Er hat mir dies alles erst an seinem Todestag erzählt.“
„Vielleicht ist es die Magie der Tränen, welche die Menschen schützen und in sie dringen, an das Gute zu glauben?“
„Ja, Markus, deine Tränen, sie haben diesen Hund zu deinem Freund gemacht! Lass nicht los, geh wieder hin! Mach deine Arbeit weiter! Aber erst müssen Sie mir eins versprechen, Markus: Erzählen Sie nur mir Ihre Geschichte. Sonst wird alles umsonst sein.“
*
Am nächsten Tag, dem 23. Dezember, meldete ich mich in der Firma und sagte, dass ich noch einen zweiten Außentermin in Pankow bräuchte, weil das Anwesen unerwartet weitläufig sei. Ich wollte die Akte „Wandlitzer Allee 32“ noch bis zum Heiligen Abend fertig stellen.
Gegen zehn war ich wieder vor Ort. Der Schlüssel passte. Die Tür ging leicht auf. Sie klemmte nicht wie gestern. Alles war still. Ich ging nach oben, um meinen Bericht zu vervollständigen. An der Tür angekommen, wo gestern das Mädchen gespielt hatte, klopfte ich. Niemand antwortete. Mit Herzklopfen öffnete ich die Tür. Ich fand alles leer. So begann ich damit, Zimmer für Zimmer in meinen Protokollen festzuhalten.
Zum Schluss vermaß ich den Verkaufsraum. Auch hier war alles leer – fast alles. In der Ecke, wo gestern das Mädchen mit dem alten Mann gesessen hatte, lag eine