Lüerß Werner

Markus Blume führt dich durch die Zeit


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Akte vor mir. Seit Monaten versuche ich zu ermitteln, wo die Familie geblieben war … Die Welt in den Katakomben der alten Zeit, staubverhangen, sichteten ich und mein innerer Freund Markus ein Grundbuchamt in Pankow nach dem anderen.

      Hier führte mich der Weg in den kommenden Tagen in sonderbare Lebenswelten.

      Manchmal glaubte ich mich schon weiter in meinen Nachforschungen, dann aber schlug mir wieder die Macht des Vergessens ins Gesicht.

       Verdammte Kacke, Markus, du bist auf dem falschen Weg! Hör doch auf, das bringt nichts! Da kannst du sämtliche Kirchenbücher durchforsten – es gibt hier nichts mehr! Mach Schluss! Du hast gut reden, ich muss mir dann das Gerede von Jansen anhören, nicht du! Schweigen. Markus? Was noch? Entschuldige bitte. Oh, ist schon in Ordnung. Hast ja Recht, ich reiße mir hier den Hosenboden auf für diesen Arsch!

      Ich machte mich an die Arbeit, den Bericht fertigzustellen. Kalkulatorisch war ich auf dem besten Weg – aber meine Seele rebellierte. Sie führte mich sozusagen in andere Bewegungswelten – Gründe dafür wuchsen mit dem gelesenen, Menschen erscheinen mir, ich fühlte Ihre Feder in Dokumenten, dieses Kratzen lag in meinen Ohren, wie sie dadurch diese Tintenschwärze in den Unterlagen veränderten. Ich wollte, ich konnte nicht lassen von dem, was ich erlebt hatte. Ich war allein mit meinem Ich und spürte, fühlte: Es gab nur den einen Weg. Aber hier im Haus hatte ich einen Arbeitsvertrag unterschrieben, daran musste ich mich halten.

      Mein Bericht war fertig. Ich heftete die Unterlagen in einen neuen Aktenordner, dann machten sie sich auf die Reise – Jansens Büro entgegen. Den alten Aktensammler behielt ich, als Erinnerung. 365.000 Mark sollte der Erlös aus dem Verkauf bringen.

      Der Rest des Tages zog sich dahin; allein im Büro meinen Gedanken folgend, war ich schon gar nicht mehr hier.

      „Feierabend! Los, alter Junge!“, hörte ich Ralf plötzlich an der Tür rufen.

      Wir verabschiedeten uns von den Kollegen und gingen noch eine Kaffee trinken im Café gegenüber.

      „Na, hast du deinen Bericht geschafft?“

      „Ja, hab ich! Und was macht dein Verkauf?“

      „Läuft nicht wirklich gut, Markus.“

      „Bei den Preisvorstellungen im Haus – kein Wunder!“

      Heute wollte ein Gespräch nicht wirklich gelingen.

      Wir machten uns auf den Weg nach Hause. Im U-Bahnhof Kochstraße roch es nach Erbrochenem – oder so ähnlich. Ich wollte weg. Versunken in Gedanken, füllte sich der Bahnsteig. Ein ratternder U-Bahn-Wurm des Lebens zog sich dahin im Grau des Untergrunds. Mit einem Quietschen kündigte der Zug sich an. Lichter tanzten an den Tunnelwänden entlang, dann stand er vor mir, die Türen öffneten sich.

      Los, Markus, rein jetzt! Ich hörte ein Atmen neben mir. Ein angenehmer Geruch strömte in meine Trüffelnase. Ich sah mich um. Meine Augen fanden eine Frau, die ich nicht kannte, aber trotzdem oder gerade deswegen anziehend fand. Ein Buch lag in ihren Händen - Reisen in die Welt des Lebens. Schöner Titel, dachte ich. Ich konnte sie sehen im Tunnel der Nacht, von einer Station zur anderen gleitend, Spiegelbilder einer Frau im Tanz des Abends …

      Ich musste umsteigen. Draußen hörte ich meine innere Stimme. Warum hast du sie nicht angesprochen, du Egoist, du Einsiedler? Mann, ich verstehe dich wirklich nicht! Hör bitte auf, so mit mir zu reden! Ich kann und will einfach nicht – ich bin noch nicht bereit für einen Neuanfang, hast du verstanden? Schweres Atmen meines Selbst.

      Zu Hause angekommen, freute ich mich auf Prinz. Nachbar Heinz öffnete. „Willst du noch reinkommen, Markus?“

      „Nein, danke.“ Prinz zog an meiner Jacke. „He, ich bin auch noch da!“ Ich sah seine funkelnden Augen im Treppenlicht.

      Nach oben wollte ich noch nicht. Ich setzte mich auf meine Bank am See, spürte die Nacht heranziehen. Prinz suchte nach den besten Stellen im Unterholz für sein Geschäft – nicht auf Straßen und Parkanlagen wie die anderen Vierbeiner!

      Trunken vor Müdigkeit, zog es mich schließlich ins Bett. Beim Abspülen des Schmutzes des Tages und beim Zähneputzen im Spiegel verging die Tageslast. Prinz hatte sich schon nachtfein gemacht, sein Lager war fertig. Ich noch nicht – mein Teewasser kochte; heiß ergoss es sich über die Ostfriesenmischung. Im Bett schaffte ich es nicht einmal mehr zu trinken. Doch es war Markus in mir, der müde war – ich nicht.

      Ein Schrei riss mich zurück ins Wachsein: Prinz stand vor dem Bett und zog an meiner Hand, als würde er sagen: Komm schnell, ich muss mal! Sein Wesen hatte sich völlig verändert: Wolfsähnlich rannte er durch die Zimmer, drehte sich vor mir weg, führte einen verrückten Tanz auf.

      Was war los, brannte es vielleicht? Ich öffnete die Wohnungstür und schnupperte im Treppenhaus herum: Es roch nach Bohnerwachs. In diesem Augenblick rannte mein Freund an mir vorbei die Treppe hinunter; ich hörte ihn an der Haustür fiepen, nicht dieses wilde Bellen.

      Es dauerte zwei Minuten, meinen alten Wintermantel überzuwerfen. Dann stürzte ich die Treppe hinunter. Draußen zog Prinz mich mit dem Maul meine Hand ergreifend weiter, immer weiter; Straßenzüge um Straßenzüge, die Ecken der Nacht entlang.

      Als ich den bekannten Straßennamen sah, wusste ich, was sein Ziel war. Dunkle Nacht, Nieselregen, vom Wind getragene Schwaden benetzten mein Gesicht. Als ich die Straße überquerte, erwischte mich fast ein Auto, es ging gerade noch mal gut. Dann standen wir vor dem alten Haus.

      Prinz kratzte an der Tür zum Nebeneingang: Sie war verschlossen. Was keiner wusste: Ich hatte mir zwei Ersatzschlüssel fertigen lassen. Einen hatte ich hier im Garten versteckt, am alten Brunnen unter einer Fuge. Ich zog ihn hervor. Natürlich übersah ich im Dunkeln einen Rosenstrauch. He, wohin des Wegs? Lass mich los, hörte ich in mir Markus rufen. Meine Finger griffen etwas, rostiges altes Eisen, um sich festzuhalten – Dornen! zogen an meiner Kleidung, ich schüttelte die Ranken ab – frei, na endlich!

      In dem alten großen Haus war es still wie bei meinem letzten Besuch. Prinz stürmte in den Keller, an mir vorbei durchsuchte er alles, weiter, immer weiter rannte er hinauf ins Obergeschoss. Ich folgte seinem Tanz. An einer geschlossenen Tür kratzte er mit der Pfote, seine Augen riefen: Komm, mach schon auf!

      Ich öffnete.

      Gefangen in der Zeit des Überganges.

      Hier waren sie wieder, die Bewohner des Hauses, der Weihnachtszeit. Ihre Blicke trafen mich. Ich spürte: Sie wollen dich, Markus! Prinz setzte sich vor sie, ihr Blick fiel auf mich, ich geriet fest in ihren Bann.

      „Was ist los, Prinz, was wollen diese Menschen aus dem anderen Leben von mir?“

      Das Mädchen mit den Zöpfen und der weißen Schleife schob sich nach vorn. Ich sah ihr Sommersprossengesicht. Der sechsfache Leuchter übergoss es mit weichem, gelblich schimmerndem Kerzenlicht. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich konnte nichts verstehen. Auf ihren Lippen, die im Kerzenlicht flackerten, las ich plötzlich das Wort: „Hilf uns, Markus!“

      Ich ging dichter an sie heran, sah ihre dunklen Augenränder, schaute auf die geräuschlos sich bewegenden Lippen. Ich hatte verstanden.

      Sie verschwanden. Im Schattenspiel des Kerzenlichtes wichen sie zurück in die Dunkelheit, die Kerzen erloschen. Nacht erfüllte wieder den Raum.

      Was meinten die Seelen der Vergangenheit damit: „Hilf uns, Markus“? Ich konnte doch nichts tun! Ich war doch selbst gefangen! Das Haus gehörte mir nicht einmal und ich konnte es auch nicht kaufen – mein Arbeitsvertrag untersagte mir jegliche geschäftliche Aktivität außerhalb der Firma.

      Wir machten uns auf den Heimweg. Es war nass; aus dem Nieselregen war ein Schauer geworden. Gott sei Dank hatte ich meine alte Kutte. Regennass zogen wir der Heimat entgegen. Nachtwandler im Regen der Zeit.

      *

      Am nächsten Tag taumelte ich müde und gereizt durch den Morgen; stumm in mir gefangen, lief ich die Wege wie im Schlaf. In der U-Bahn kauerte ich im grellen Licht der Neonröhren und erwachte nur langsam aus dem Koma der Nacht. Gewaltsam in