keinen einzigen Ball halten, kam mir unnütz vor und ließ meinen Bruder schließlich allein gegen den fremden Jungen weiterspielen.
Stattdessen setzte ich mich in das Karussell. Es war mein Lieblingsort. Wenn man sich auf die kleine runde Bank setzte, das Karussell anschob und sich drehte, hatte man das Gefühl, in einer eigenen Welt zu sein, in einem Kreis, in den niemand eindringen konnte, der einem ganz und gar allein gehörte.
Ich stellte mir vor, wie ich mit Tobias im Dunkeln im Karussell saß. Wir setzten es in Bewegung, und dann drehten wir uns immer schneller und schneller und hatten das Gefühl, keine Angst mehr vor der Dunkelheit haben zu müssen, die uns umgab.
Jetzt schob mich der fremde Junge im Karussell an. Ich drehte mich, und mein Bruder sprang dazu.
Als das Karussell anhielt und wir ausstiegen, standen wir mit einem Mal in unserer Wohnung. Wir sahen auch den fremden Jungen dort. Er stritt sich mit unserer Mutter. Sie hatte einen dicken Bauch. Der Junge war plötzlich ein erwachsener Mann, und wir wussten, dass er unser Vater war. Er schlug die Tür hinter sich zu, und mein Bruder rief: »Ich will endlich wissen, warum du uns damals verlassen hast!« Dann lief er Papa hinterher. Mir tat Mama leid, und ich blieb bei ihr und tröstete sie, auch wenn ich nicht wusste, warum sie weinte.
»Du bist ein liebes Mädchen«, sagte sie, »aber warum stehst du plötzlich hier in meiner Wohnung? Und wer bist du? Dein Freund, der vorhin aus der Wohnung gestürmt ist …«
Sie musste Tobias meinen.
»Das ist doch mein Bruder«, sagte ich. »Mama, erkennst du mich denn nicht?«
»Mama?«
Sie war durcheinander, dann sagte sie einfach: »Na ja, jedenfalls sieht dein Bruder so ähnlich aus wie mein Mann. Wir haben uns gerade furchtbar gestritten. Er hat sich in eine andere Frau verliebt. Ich wollte, dass er geht und nie wieder zurückkommt, so wütend war ich. Ich weiß, das war hart. Vielleicht können wir noch einmal über alles reden. Ich habe einen kleinen Sohn, der Tobias heißt, und bald bekomme ich noch ein Kind, weißt du.«
Sie zeigte mir eine Wiege, in der Tobias lag. Tobias lächelte mich an, sanft und heiter, wie immer, so, wie er es heute getan hatte, vor dem Spielplatz.
Plötzlich rang das Baby nach Luft. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren. Mama war verzweifelt, nahm Tobias und schüttelte ihn. »Vielleicht hat er sich an irgendwas verschluckt.«
Von draußen waren jetzt Sirenen zu hören, immer lauter.
Ich trat an das Fenster, blickte hinaus und sah, dass mein Vater angefahren worden war. Er lag verletzt auf der Straße, und neben ihm stand ein Auto. Da lag auch mein Bruder, das Auto musste ihn ebenso erwischt haben! Ich stürmte aus dem Haus, Mama mit dem kleinen Jungen schreiend zurücklassend.
»Tut mir leid«, sagte der Sanitäter von der Rettung zu mir, als ich durch die rotweißen Absperrbänder wollte, »da war ein betrunkener Autofahrer. Dein Bruder und dein Vater leben leider nicht mehr.«
Alles hatte mit dem Karussell angefangen. Also lief ich zurück zum Spielplatz. Er war leer und dunkel. Ich drehte das Karussell, diesmal im Uhrzeigersinn statt dagegen, wie der fremde Junge es getan hatte. Ich stieg ein und drehte und drehte mich …
Als ich wieder ausstieg, saß ich immer noch auf dem Spielplatz. Es war finstere Nacht und niemand da.
Ich ging nach Hause. Meine Mutter sagte, sie müsste gleich zur Arbeit.
»Tobias ist doch überfahren worden«, sagte ich und keuchte. Sie sah, wie verzweifelt ich war und erschrak.
»Überfahren? Aber Lisa, er ist doch schon als kleiner Junge gestorben. Er ist erstickt.«
»Papa wurde auch überfahren«, sagte ich. »Papa und Tobias wurden überfahren!«
»Nein!«, rief sie und hielt sich die Ohren zu.
»Du hast nie erzählt, was mit Papa wirklich passiert ist«, sagte ich, »du hast immer nur gesagt, er hat uns verlassen.«
»Ich hätte ihn nicht wegschicken dürfen«, sagte Mama. »Bitte geh nicht weg, Lisa!«
»Ich muss zum Spielplatz! Ich muss ins Karussell und wieder in die Vergangenheit. Wir haben einen fremden Jungen auf dem Spielplatz getroffen, das war Papa. Er hat uns in die Vergangenheit gefahren, mit dem Karussell! Du hast dich mit Papa gestritten, Papa hat die Wohnung verlassen, Tobias ist Papa nachgelaufen, und dabei ist er von einem betrunkenen Fahrer überfahren worden, so wie Papa!«
»Nein!«, brüllte Mama. »Verdammt, dein Papa wurde überfahren, und es tut mir leid, dass ich euch das nie erzählt habe, aber ich konnte nicht. Er starb, kurz bevor du geboren wurdest. Ich hätte ihn nicht wegschicken dürfen. Er hatte gar nichts mit dieser Frau. Ich war nur eifersüchtig. Aber dein Bruder ist erstickt, als er klein war! Er ist erstickt!«
»Nein!«, rief ich. »Nein! Wir können das alles verändern, Mama!«
Ich zerrte sie zu dem Karussell und flehte sie an, sich mit mir hineinzusetzen. Schließlich tat sie es, um mich zu beruhigen. Ich schob an, sprang hinein und drehte das Karussell gegen den Uhrzeigersinn, um zurückzufahren, zurück in die Vergangenheit. Mama weinte.
Die Mutter wachte auf. Draußen ging die Sonne auf. Sie hörte Lisa und Tobias in der Küche.
»Mama, Frühstück!«
Das war Tobias. Er war ein braver Junge. Sonntags, wenn sie schulfrei hatten, waren Lisa und er immer besonders eifrig und aufgeweckt.
Die Mutter dachte an das Karussell aus ihrem Traum. Ja, sie drehte sich im Kreis, seit Hans tot war. Keinen einzigen Schritt war sie seitdem weitergekommen. Hatte sie Hans umgebracht, weil sie ihm nicht vertraut hatte? Da war diese andere Frau gewesen, eine Freundin. Sie war sich so sicher gewesen. Wie sie einander angesehen hatten, es hatte so verliebt ausgesehen. Doch als sie ihn beschuldigte, sie zu betrügen, war er so verletzt, dass er einfach aus der Wohnung rannte und vor ein Auto lief. Herausgefunden hatte sie nie, ob ihr Verdacht berechtigt gewesen war. Nur einmal hatte sie beobachtet, wie Hans mit der Frau im Park vor dem Haus gesessen hatte. Er hatte ihre Hand gehalten und sie umarmt, und sie hatte ihm einen Kuss auf den Mund gegeben.
Tobias erzählte am Frühstückstisch, wie er sich auf den heutigen Sonntag freute. »Ein Freund von mir kommt vorbei und holt mich ab, wir wollen einen Ausflug machen. Er hat erzählt, er kennt einen tollen Spielplatz!«
»Darf ich mit?«, fragte Lisa.
»Wer ist dieser Freund«, fragte die Mutter.
In diesem Moment hupte unten ein Auto, und die Kinder gingen mit der Mutter hinunter vor das Haus, wo eine Frau aus dem Auto stieg, die die Mutter kannte.
GRÜNE HAARE
Pit wollte mit dem Zug nach Hause fahren. Als der Dreizehnjährige mittags sein Ticket am Fahrkartenautomat kaufte, dachte er an ein Mädchen, in das er sich verliebt hatte. Bettina hieß sie. Er starrte zu Boden, während er zum Bahnsteig ging. Bettina hatte sich heute auf dem Schulhof abgewendet, als Pit mit ihr hatte sprechen wollen. Das machte ihn traurig.
Jetzt stieg er in den Zug und stellte fest, dass darin nur ein einziger alter Mann stand, der sich unvermittelt zu ihm setzte. Saß Pit im richtigen Zug? Und wo, zum Teufel, waren plötzlich seine Mitschüler? Mussten sie nicht auch nach Hause? Der merkwürdige alte Mann war klein und mager. Er hatte ein eingefallenes Gesicht, Geheimratsecken und grüne Haare.
»Fürchtest du dich vor dem Tod, Junge?«, fragte der Mann ihn unvermittelt.
»Wer sind Sie? Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Fürchtest du dich vor dem Tod, Junge?«, wiederholte der Mann.
»Ja«, sagte Pit.
Da ließ der Mann ihn in Ruhe. Pit hatte das Gefühl, als kennte er den alten Mann aus einem anderen Leben – einem Leben, in dem grüne Haare vielleicht ganz normal gewesen waren und die braunen von Pit verrückt.
Der Zug fuhr los. Der