Marcel Zischg

Der verlassene Rummelplatz


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Er trug eine teure schwarze Anzughose, einen gestrickten grünen Wollpullover und darunter ein weißes Hemd mit roten Linien. Er hatte braunes, mittellanges Haar, eine schöne Knabenfrisur, ordentlich gekämmt und vor allem feine Gesichtszüge, wenn man ihn im Profil sah. Und wenn er sprach, lächelte er ein breites Lächeln, spitzbübisch und nicht ganz so brav wie seine Frisur. Der Mann mit den grünen Haaren dachte: Wie kannst du so schön sein, Junge? Aber das ist natürlich nur vorübergehend. Genieß es.

      Er stieg schließlich an derselben Haltestelle aus wie Pit. Kurz vor dem Halt des Zuges fragte er Pit ein letztes Mal: »Fürchtest du dich vor dem Tod, Junge?«

      »Lassen Sie mich in Ruhe, Sie alter Sack!«

      Pit verließ den Bahnhof und ging durch die Straßen. Er kam am Theater vorbei, einem prachtvollen Gebäude mit einem Säulenportikus, das von Scheinwerfern angestrahlt wurde. Stolze Schauspieler bewegten sich dort über einen roten Teppich. Filmpremiere. Plötzlich war es Abend geworden.

      Pit ging nicht nach Hause, sondern zum Friseur gegenüber vom Theater. Er ließ sich die Haare grün färben.

      Dann ging er zurück zum Bahnhof, stieg in irgendeinen Zug und fragte die Menschen, ob sie sich vor dem Tod fürchteten. Einige antworteten etwas, aber die meisten sahen ihn nur verwundert an oder lachten. Als jemand ihn für verrückt hielt und nach Hause bringen wollte, stieg er schnell an der nächsten Haltestelle aus und lief davon, immer die Gleise entlang. Irgendwann fuhr ein langsamer Güterzug vorbei.

      Pit lief auf die Gleise zu, auf denen der Zug herankam. Fast schaffte er es den Bahndamm hinauf, bevor sich jemand auf ihn stürzte. Es war ein Mann mit roten Haaren. Er brachte Pit nach Hause.

      Seine Eltern waren besorgt, weil er so spät kam. Dann sahen sie ihn genauer an. »Grüne Haare? Bist du verrückt geworden, Junge?«, fragte seine Mutter.

      Pit lächelte spitzbübisch. Der Mann mit den roten Haaren erzählte, was am Bahndamm geschehen war. Pits Mutter blickte erschrocken und besorgt, als stürzten sich schwarze Vögel auf die Erde, und Pit kehrte zurück in die Wirklichkeit. Ihm wurde bewusst, dass er einen verrückten alten Mann mit grünen Haaren getroffen hatte, woraufhin er sich selbst die Haare hatte grün färben lassen. Auch dass er die Leute im Zug dumm angequatscht und sich fast vor einen Güterzug geworfen hatte, fiel ihm wieder ein. Das alles war geschehen. Nur das mit dem Theater, die Filmpremiere, das hatte er sich wohl nur eingebildet, denn die hatte schon am Abend zuvor stattgefunden, wie sein Vater wusste. Außerdem war draußen heller Tag; die Sonne schien, wie Pit durch das Flurfenster sehen konnte. In diesem Moment verfärbten ihre Strahlen sich grün.

      Hat die Sonne Haare, fragte sich Pit.

      Das Baby lag am Meer. Ein kleiner Junge in der prallen Sonne, im Sand, mitten zwischen den Liegen. Es schrie. Aber keiner hob es auf oder ging zu ihm. Alle dachten, seine Mutter ist nicht weit.

      Jahre später war der Junge zwölf und erinnerte sich an nichts mehr.

      Er machte Urlaub am Meer mit seinen Eltern und seinem siebzehnjährigen Bruder. Sein älterer Bruder blieb oft im Hotelzimmer, denn er hatte ein Hitzefieber gehabt und musste die Sonne meiden.

      Die Eltern waren gerade mit ihm am Strand. Es war mittags. Sein Vater las Zeitung, und seine Mutter bräunte sich. Dem Jungen war langweilig.

      »Darf ich einen Spaziergang am Strand machen?«

      »Ja, natürlich«, sagten die Eltern, »aber geh nicht zu weit und komm bald wieder!«

      Der Junge ging los. Er trug zum Sonnenschutz ein T-Shirt über seiner Badehose, denn es war brütend heiß. Er hörte aufgeregte Stimmen und Schreie. Irgendein amerikanischer Song klang aus der Strandbar herüber. Die Kinder am Strand hatten Spaß. Sie spielten Volleyball und Boccia.

      Der Junge wollte nicht mit anderen Kindern spielen, denn er war schüchtern, aber gleichzeitig wünschte er sich Gesellschaft, und so stimmte er zu, als ein Junge auf ihn zulief und ihn fragte: »Willst du mitspielen?«

      Der Junge spielte mit einigen italienischen Kindern Volleyball. Aber er hatte einen schlechten Aufschlag und traf mehrere Male das Netz. Als zwei Mädchen kicherten, lief er weg.

      Vor ihm, in einiger Entfernung, ganz am Ende des Strandes, erhob sich ein hoher Turm. Er konnte nicht genau erkennen, was für ein Turm es war; er sah nur die Umrisse eines schwarzen Etwas. Die Sonne beschien den Turm von hinten, und das mächtige Bauwerk wirkte vor ihrem Licht wie ein blauer Schatten.

      Der Junge lief auf den Turm zu, bis er plötzlich im Sand ein Baby entdeckte, einen kleinen Jungen. Es schrie in der Hitze.

      Er nahm das Baby, hob es auf und wollte es zu dem Schattenturm tragen. Da schrie das Baby noch lauter als zuvor, und seine Mutter, die jetzt herbeieilte, rief: »Haltet den Jungen!«

      Der Junge wollte das Baby zu dem Schattenturm bringen, aber plötzlich war er nicht mehr sicher, ob es überhaupt ein richtiger Turm war. Vielleicht war es auch nur ein riesiger Schatten.

      Jetzt hatte die Mutter des Babys ihn eingeholt. Sie nahm ihm das Kind weg und weinte. Ein paar andere Badegäste packten den Jungen grob und führten ihn zurück.

      Er fragte: »Wie weit wäre es noch bis zu dem Schattenturm gewesen?«

      Da schüttelte der Mann, der ihn an der Hand führte, den Kopf und sagte verächtlich: »Das ist kein Turm. Das ist ein Hotel.«

      Der Junge wurde zurückgebracht zu seinen Eltern. Als die Mutter erfuhr, was geschehen war, weinte sie und erzählte: »Er hat sich wohl wieder an dieses furchtbare Erlebnis damals erinnert. Er war noch ein Baby, damals. Es war alles unsere Schuld. Wir waren am Strand eingeschlafen, und er lag in der prallen Sonne im Sand und hat geschrien. Aber kein Badegast hat ihn beachtet, und weil sein älterer Bruder immer so eifersüchtig war auf ihn, hat er den Kleinen einfach weggebracht, ist mit ihm in Richtung Hotelturm gelaufen und hat ihn irgendwo unten am Strand ausgesetzt. Dann kam er ohne ihn wieder. Zum Glück brachte ein netter Junge das Baby uns zurück. Der war auch zwölf.«

      Der Junge schämte sich, als er das hörte. Er konnte sich an nichts erinnern.

      Plötzlich sah er einen langen Schatten in der Sonne, der über den Strand auf ihn zulief.

      »Was ist denn los?«, fragte der Schatten. Es war der ältere Bruder.

      »Warum braucht ihr so lange, um ins Hotel zu kommen? Das Mittagessen ist schon vorbei!«

      »Dein Bruder hat eine furchtbare Dummheit gemacht!«, sagte der Vater und erzählte, was geschehen war.

      Als der ältere Bruder es hörte, lachte er laut. An die Schattenturmgeschichte erinnerte er sich gar nicht. Kein bisschen.

      »Stefan, wir haben keine Milch mehr«, sagte die Mutter. »Geh doch bitte kurz zu Herrn G. und frag ihn, ob er welche hat. Der Supermarkt hat schon zu.«

      Lustlos tappte der Dreizehnjährige die Treppe zu Herrn G. hinunter. Herr G. war langweilig, dachte Stefan, ein langweiliger alter Mann.

      »Komm nur herein, Stefan!«, sagte Herr G. freundlich und ging in die Küche. Stefan zögerte, er war noch nie in der Wohnung von Herrn G. gewesen. Langsam betrat er den Flur. Er war finster, nur ein paar späte Sonnenstrahlen drangen noch durch die Ritzen der geschlossenen Rollos aus dem Wohnzimmer.

      Er kam an der geöffneten Wohnzimmertür vorbei und blieb verdutzt stehen. Der Raum war ein ganz normales Wohnzimmer, nur in der Mitte stand etwas: ein riesiger, runder, leerer Käfig. Ein ganzer Mensch hätte hineingepasst, so groß war er.

      »Hier hast du deine Milch, mein lieber Stefan«, sagte Herr G. »Ach so, du schaust dir meinen alten Käfig an. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich ihn gekauft habe.«

      Herr G. stellte die Milch auf den Boden. Stefan lächelte.

      »Der Käfig sieht toll aus, Herr G.