der Staatsanwalt von Nizza, der vom Bereitschaftsstaatsanwalt im Bewusstsein der komplexen Situation sehr früh an diesem Morgen geweckt wurde, läuft auf der Promenade des Anglais vor dem Palais de la Méditerranée auf und ab. Inspecteur Principal Leccia geht neben und leicht hinter ihm. Die Leiche hat man abtransportiert, die Kriminaltechniker haben ihre Arbeit abgeschlossen. Sie haben zehn Patronenhülsen aufgelesen, sorgfältig nummeriert, fotografiert und in Beweismitteltütchen gesteckt, großes Kaliber, 11.43, keine weiteren Spuren. Sie sind nicht optimistisch. Nach ihrem Aufbruch ist wieder Ruhe eingekehrt.
Coulon für seinen Teil ist äußerst angespannt, seit er die Identität des Opfers erfahren hat.
»Musste der Kerl sich unbedingt bei uns in Nizza abknallen lassen? Als hätten wir im Moment nicht schon genug Sorgen. Können Sie mir das sagen, Leccia?«
Keine Antwort.
»Dieser Pieri ist nicht irgendwer, das ist eine wichtige Persönlichkeit.«
»Zweifellos, Herr Staatsanwalt.«
»Ein in Marseille prominenter Geschäftsmann. Er hat ein bedeutendes Seefrachtunternehmen, die Somar. In diesen Zeiten rückläufiger Hafengeschäfte und der schwierigen wirtschaftlichen Umstrukturierung der Stadt ist das keine Kleinigkeit. Madame Frickx zufolge hat er sogar mit ihrem Ehemann zu tun, der das europäische Büro einer großen amerikanischen Handelsfirma für Erze leitet. Es liegt in unserer Verantwortung, die schwächelnde Marseiller Ökonomie vor weiterem Schaden zu bewahren.«
»Ich glaube nicht, dass wir unter den Geschäftsleuten suchen müssen, Herr Staatsanwalt. Es ist vielleicht déformation professionnelle, aber ich denke eher an seine Vergangenheit als Kapitän der Guérinis, zu Zeiten, als der Clan die Stadt Marseille und den Heroinhandel beherrschte.«
»Ja, das weiß ich wohl, und ich fürchte nichts mehr als diese Verquickungen. Alle Welt wird sich einmischen wollen. Die Honoratioren, die Abgeordneten, das Ministerium. Ich hasse diese Fälle. Dabei muss man nichts als Prügel einstecken.«
»Nicht zu vergessen, dass es die Polizei von Nizza, die derzeit ohnehin überlastet ist, noch mehr strapazieren könnte. Ohne darauf herumreiten zu wollen, Herr Staatsanwalt, darf ich Sie erinnern: zwölf Brandstiftungen und Schießereien in Bars und Nachtclubs in einem Jahr, dreizehn bewaffnete Raubüberfälle in einem Monat vergangenen Sommer, der Chef unserer Sécurité publique, der, bevor man ihn feuert, zugibt, dass es in all diesen Fällen nicht auch nur den Ansatz einer Fährte gibt, der fortgesetzte Krieg zwischen dem Clan der Korsen und dem der Pieds-Noirs, ein Commissaire der Sitte, der sich gemeinsam mit seinem Marseiller Kollegen in einer Nutten-Affäre die Finger schmutzig macht, und ein neuer Boss aus dem Norden, den uns das Ministerium vor die Nase setzt. Ich tue, was ich kann, um die Wogen zu glätten, aber es hagelt von überall Kritik, unsere Männer stehen kurz vor dem Aufstand, das muss man berücksichtigen und nicht das Unmögliche von ihnen verlangen.«
»Mir ist das genauso bewusst wie Ihnen, Leccia. Was schlagen Sie vor?«
»Wir müssen bedachtsam vorgehen, uns die Zeit nehmen, den Fall aus allen Blickwinkeln zu betrachten.«
»Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, Leccia, nicht bei mir.«
»Mir sind zwei höchst eigentümliche Aspekte dieser Exekution aufgefallen. Erstens, der Schütze ist ausgezeichnet. Alle seine Kugeln landen im Ziel. Die junge Frau bleibt unverletzt, und es gibt nicht mal eine kaputte Scheibe. Warum verspürt er den Drang, zehnmal zu schießen?«
»Keine Ahnung. Was meinen Sie?«
»Ich denke, es handelt sich um eine ausgeklügelte Inszenierung. Die Wahl des Opfers, das Motorrad, die Anzahl der Schüsse aus einer Handfeuerwaffe, das große Kaliber, man spielt hier die Szene des Mordes an Antoine Guérini nach, der in Marseille vor fünf oder sechs Jahren von einem Killer auf einem Motorrad mit zehn Kugeln Kaliber 11.43 auf offener Straße erschossen wurde. Da Pieri einer von Antoines besten Kapitänen war, haben wir es mit einer ziemlich deutlichen Botschaft zu tun: Einer der Aspiranten auf die Nachfolge der Guérinis vollendet die Säuberungen und liquidiert die alte Garde.«
»Zampa oder Le Belge?«
»Nicht unmöglich. Zwischen diesen beiden ist seit September die Schlacht eröffnet. Bereits acht Tote auf der Liste. Mit dem hier sind es neun.«
»Dieser Krieg betrifft Nizza nicht.«
»Das ist nicht ganz richtig, Herr Staatsanwalt. Es hat letzten Sommer bereits einen Warnschuss gegeben, Giaume, dem mit den Guérinis verbündeten hiesigen Paten hat man seinen Nachtclub angesteckt, hier in Nizza. Jetzt schalten sie in einen höheren Gang, sie machen es spektakulärer, um auch ja verstanden zu werden.«
»Gut, nehmen wir einmal an, es ist eine Botschaft an die Überlebenden des Guérini-Clans. Sie sagten, zwei eigentümliche Aspekte. Was ist der zweite?«
»Der gewählte Schauplatz, Herr Staatsanwalt, alles andere als unbedeutend. Und damit berühren wir eine Frage, die für uns hier in Nizza sehr viel heikler ist. Das Casino des Palais de la Méditerranée ist im Visier.«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Leccia, Sie machen mir Angst.«
»Schon der Mord an Antoine Guérini war höchstwahrscheinlich eine Episode im Glücksspielkrieg um die Kontrolle über die Casinos von Paris.«
»Immer noch weit weg von Nizza.«
»Nicht mehr lange. Ausgehend von seiner Hochburg, seinem Casino hier im Zentrum, will Fratoni Nizza zum französischen Las Vegas machen, das ist für niemanden ein Geheimnis, er hat seine Absichten deutlich verkündet. Dafür braucht er die Kontrolle über die Casinos an der Côte. Sein erstes Ziel: das Ruhl. Unsere sämtlichen Quellen sagen, dass es ihm mit Unterstützung eines italienischen Konsortiums gelungen ist, viel Kapital aufzubringen, und dass die Übernahme in den nächsten Wochen stattfinden soll. Gleich nach dem Ruhl steht die Übernahme des Palais de la Méditerranée auf dem Plan. Im Rathaus ist man der Ansicht, dass die Stadt Nizza bei der Erneuerung ihrer Casinos viel zu gewinnen hat.«
»Ich weiß«, murmelt der Staatsanwalt, »ich bin auf dem Laufenden.«
»Stellen wir uns jetzt vor, irgendwelche Banditen wollen Fratoni schaden. Ein Mord auf den Stufen des Casinos könnte eine gute Warnung sein, die Gewalt, das Blut, der Tod …«
»Sie gehen zu weit.«
»Ich sage nicht, dass Pieri aus diesem Grund ermordet wurde, aber man hat entschieden, ihm auf den Stufen des Casinos aufzulauern …«
»Ich bleibe skeptisch. In jedem Fall aber tun wir gut daran, den Wirbel weitestgehend zu begrenzen und uns daran zu halten, dass ein nicht näher bestimmbarer potenzieller Erbe die Reste des Guérini-Clans liquidiert. Die Sorte Fall, für die sich die Öffentlichkeit nicht interessiert. Solange die Gangster sich untereinander abschlachten, ist nach zwei Tagen alles vergessen, wenn niemand es auf Komplikationen anlegt. Und wir richten unsere Ermittlungen auf Marseille, fern von Nizza und seinen Casinos.«
Der Staatsanwalt geht noch ein paar Schritte, bleibt dann stehen.
»Gut. Machen wir es simpel. Wir halten uns an die Hypothese einer Abrechnung im Milieu, wahrscheinlich auf Betreiben eines dieser beiden Spinner, Zampa oder Le Belge, ohne weitere Einzelheiten. Es besteht kaum Aussicht, dass wir hier vor Ort auf irgendetwas stoßen. Die zwei sind deutlich aktiver in Marseille und Paris als bei uns, Gott sei’s gedankt. In Marseille leitet Richter Bonnefoy ein Ermittlungsverfahren, das alle diese Abrechnungen bündelt. Ich könnte ihn einsetzen und mit dem Dossier betrauen.«
Der Staatsanwalt nimmt seinen Gang wieder auf, überlegt noch einmal, trifft dann eine Entscheidung. »Ich kenne ihn kaum, diesen Bonnefoy. Ich warte noch ab, ehe ich einen Richter in diesen Schlamassel einbeziehe. Ich eröffne ein beschleunigtes Verfahren, das unmittelbar unter meiner Aufsicht bleibt, und betraue den SRPJ von Marseille mit der Ermittlung, was sich angesichts der Person des Opfers rechtfertigt. Auf die Weise schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir verhindern, dass Ihr frisch ernannter Chef in unseren Angelegenheiten herumtrampelt. Und wir halten das Operationszentrum von