Dominique Manotti

Schwarzes Gold


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reich zu machen, das ist gelungen. Die Verantwortlichen der Kammer weigern sich einhellig, Inspecteur Grimbert zu empfangen. Zu viel zu tun, keine Zeit zu vergeuden, nichts zu sagen. Und sie schicken ihn zu ihren Sekretärinnen, die seit den frühen Morgenstunden ihren Text auswendig gelernt zu haben scheinen: Pieri, ein dynamischer Unternehmer, sehr präsent bei allen Sitzungen. Sicher, er gehört nicht zur selben Welt wie die großen Familien der Ölmühlen und Seifenfabriken, die sich nicht dazu herablassen würden, ihn bei sich zu empfangen, ihn aus der Ferne aber schätzen. Ihnen ist nie auch nur das Geringste von einem ernsthaften Konflikt zu Ohren gekommen. Dieser Mord hat mit dem Marseiller Wirtschaftsleben nichts zu tun.

      »Ein von zehn Kugeln durchlöcherter Körper, ein Großkaliber Sorte Bazooka, die Präzision eines Eliteschützen – Ihnen zufolge war das sicher eine eifersüchtige Ehefrau, die im Affekt getötet hat, ein Verbrechen aus Leidenschaft«, sagt Grimbert mit ernster Miene.

      »Und warum nicht?«, antworten die Frauen lachend.

      Verärgert über diese lässige Art, mit ihm umzuspringen, hat Grimbert einen Geistesblitz. »Wo ist das Dokumentationsarchiv der Kammer, ich will die Akte über die Somar einsehen.«

      Unerwartetes Ansinnen, die Sekretärinnen beraten sich.

      »Das Archiv ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, es ist Mitgliedern vorbehalten.«

      »Ich bin nicht ›die Öffentlichkeit‹, ich bin Inspecteur der Marseiller Kriminalpolizei, und ich ermittle im Mord an einem Ihrer Mitglieder. Sagen Sie mir unverzüglich, wo sich das Archiv befindet.«

      Das Archiv liegt unter dem Dach. Während er durch die engen, fensterlosen Gänge läuft, zweifelt Grimbert ernstlich am Nutzen seiner Unternehmung. Aber jetzt, wo er danach gefragt hat …

      Die Dokumentarin steuert ihn schnell an die richtige Stelle. »Maxime Pieri, natürlich weiß ich von seiner Ermordung, ich habe Radio gehört. Ich bin ihm mehrmals begegnet, ein sehr höflicher Mann. Ich kann Ihnen seinen Nachruf geben.«

      »Jetzt schon ein Nachruf? Er ist erst heute Morgen gestorben …«

      »Wir haben zu allen wichtigen Marseiller Unternehmern Nachrufunterlagen, die wir ständig aktualisieren. Presseausschnitte und ein paar getippte Notizen. Um bei Bedarf Stoff für die Presseerklärungen und die Grabreden zu haben.«

      »Reizend. Und die von Pieri hat noch niemand angefordert?«

      »Nein.« Sie lacht. »Man wird sich um die Predigt nicht reißen. Auf der Straße erschossen wie ein Gangster, das macht sich schlecht. Und die Journalisten sind noch nicht auf die Idee gekommen, uns aufzusuchen. Hier ist die Akte, gehen Sie sorgsam damit um, bringen Sie die Ordnung nicht durcheinander.«

      Grimbert setzt sich an einen kleinen Tisch in dem ausgestorbenen Archiv, die Dokumentarin wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu.

      Als Erstes eine knappe biografische Notiz: Maxime Pieri wird 1926 in Calenzana auf Korsika geboren. Er kommt als Kind nach Marseille. Im Sommer 1944 beteiligt er sich mit der Waffe in der Hand an der Befreiung von Marseille. Im September 1944 tritt er als Freiwilliger in die legendäre 2e DB ein. Im Juni 1945 wird er mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.

      Kurzer Überschlag, damals war er neunzehn. Respekt.

      Der nächste Abschnitt beginnt 1962 mit der Gründung der Somar. Die siebzehn Jahre seiner kriminellen Karriere mit Schweigen zugedeckt. Geschichte schreiben heißt, das Vergessen zu managen.

      Grimbert notiert: Pieri gründet seine Firma 1962 mit einem einzigen Frachter. Er ist also sechsunddreißig Jahre alt. Beinahe stetiges Wachstum. Die Somar besitzt heute eine Flotte von zehn Schiffen und interessiert sich für das Chartergeschäft mit Öltankern.

      Ein Artikel aus einer Wirtschaftswochenzeitung, Info Éco Avenir, wurde ausgeschnitten und abgeheftet. Er datiert von November 1964, unterzeichnet von einem gewissen Pascal Thiébaut, dessen Foto in Briefmarkengröße oben auf der Seite abgedruckt ist, neben dem Titel »Das Ende des Marseiller Modells?«.

      Grimbert überfliegt die Beschreibung des »Marseiller Modells«: Die Geschäftstätigkeiten von Hafen und Industrie sind stark verflochten, da der Hafen die verarbeitende Industrie mit landwirtschaftlichen Rohstoffen aus den Tropen versorgt. Als das Hafengeschäft nachlässt, geht die davon abhängige Industrietätigkeit zurück, die Krise setzt ein. Der Artikel ist von 1964, und da ist die Krise schon da? Wir befinden uns seit zehn Jahren in der Krise und es geht einfach so weiter? Was treiben die eigentlich da oben? Ein traumverlorener Moment, dann nimmt Grimbert seine Lektüre wieder auf. Der Journalist fragt nach den Gründen: Zusammenbruch des Kolonialreichs und Industrialisierung der Dritten Welt, die die Versorgung mit Rohstoffen versiegen lassen? Nein. Die Hauptursache des Niedergangs von Marseille ist das Scheitern seiner wirtschaftlichen Eliten, schreibt er: »Ein Familienkapitalismus, der sich durch die Nachfolge von drei oder vier Generationen an der Firmenspitze überlebt hat, jeglichem Wandel misstrauisch gegenübersteht und lieber in Immobilien als in Industrie investiert, und Erben, die sich in die freien Berufe flüchten.«

      Grimbert staunt über die Heftigkeit der Anklage in einer Publikation, die im Ganzen betrachtet sehr wenig revolutionär ist. Das für ihn Interessanteste kommt noch:

      »Ist dieser Niedergang unabänderlich? Vielleicht nicht, wenn es den wirtschaftlichen Eliten gelingt, sich zu erneuern. Ich bin einem neuen Typus Unternehmer begegnet, die von Projekten nur so übersprudeln. Maxime Pieri hat sein Seefrachtunternehmen vor zwei Jahren gegründet, mit begrenztem Kapital und einem spektakulären Umsatzwachstum von nahezu 25 % pro Jahr. Ich frage ihn, woher diese Dynamik kommt. Zwei wesentliche Faktoren, sagt er. Die Welt ist im Wandel, man muss sich anpassen und neue Kunden finden. Er akquiriert in den Ländern östlich des Mittelmeers, Türkei, Syrien, Libanon, Handelsstrecken, die nicht mehr notwendigerweise über Marseille verlaufen. Und um das für sein Wachstum nötige Kapital aufzutun, umwirbt er eine Klientel, die Ersparnisse hat, aber nicht daran gewöhnt ist, in Geschäfte zu investieren. Er entwickelt neue Formen der Beteiligung-Investition mit begrenzter Laufzeit, um diese Leute anzuziehen, den Banken vertraut er nicht, zu teuer und zu ängstlich. Zudem liebäugelt er mit dem Erdöl, dem zweifellos die Zukunft gehört, sagt er, aber das ist eine andere Geschichte.«

      Dann skizziert der Journalist das Porträt von zwei weiteren »Marseillern der Zukunft«. Grimbert hört auf zu lesen, die Dokumentarin ist anderswo beschäftigt, er steckt den Artikel ein, schließt die Akte, bringt sie ihr zurück, verabschiedet sich und geht.

      Draußen auf der Straße läuft er mit schnellen Schritten, um seinen Kopf abzukühlen. Es fällt ihm schwer, den Artikel aus dieser Intelligenzlerzeitschrift zu schlucken, der Pieri als Helden der Marseiller Wirtschaft hinstellt.

      Als Nächstes auf dem Programm: das Finanzamt des Bezirks La Joliette. Er steigt direkt hoch ins Büro von Inspektor Micchelozzi, ein Nachbar, mit dem er sonntags zur Zeit der Messe manchmal Boule spielt und dazu einen Pastis trinkt. Herzliche Begrüßung. Schon weniger herzlich, als Grimbert auf sein Anliegen zu sprechen kommt.

      »Hast du von Pieris Ermordung gehört?«

      »Natürlich.«

      »Ich arbeite an dem Fall. Du kennst dich mit der Somar ein bisschen aus. Wie denkst du über die Sache?«

      »Ich bin nicht persönlich mit der Somar befasst, aber ich bin wie alle anderen, ich weiß von Pieris früheren Beziehungen zu den Guérinis. Wenn du mich fragst, war seine Verbindung zu den Guérinis längst Geschichte. Die Firma ist sauber. Die Geschäftstätigkeit ist real, die Schiffe existieren, die Verträge und die Waren ebenso. Und soweit ich weiß, zahlt das Unternehmen seine Steuern. Die zwei Steuerprüfungen in fünf Jahren, die dort stattgefunden haben, hatten keine spektakulären Steuernachzahlungen zur Folge. Nur Lappalien, wie überall.«

      Grimbert redet noch über dies und jenes, das Wetter, das Wochenendhaus, das Angeln, um Micchelozzi Zeit zu geben, das Für und Wider abzuwägen. Dann: »Gut, ich geh dann mal. Sonst gibt es nichts, was du mir sagen kannst?«

      »Ich habe hier und da was läuten hören, im Flurfunk … du weißt ja, die Leute reden,