vom Malen hinzugeben. Von seinem ersten Gehalt kaufte er sich einen Skizzenblock, einen Aquarellblock, gute Bleistifte, Pinsel und Aquarellfarben. Er war so lange glücklich, bis sein Vater die Sachen entdeckte. So wütend hatte er ihn noch nie erlebt.
«Mit diesem Teufelszeug will ich dich nie wieder sehen!», hatte er gebrüllt und die Sachen vom Tisch auf den Boden gefegt.
Victor war völlig verstört gewesen. Andere Väter regten sich weniger auf, wenn ihre Sprösslinge bei einer Straftat erwischt wurden oder wenn sie zur Unzeit ein Mädchen schwängerten. Doch Paul Reimer hatte Victor das Gefühl gegeben, eine Todsünde begangen zu haben.
Immerhin hatte er ihm die Zeichenutensilien nicht weggenommen. Schließlich hatte Victor sie von seinem eigenen Geld gekauft. Doch was änderte das, wo er ihm das Malen doch verboten hatte? Victor verstand einfach nicht, was seinen Vater so sehr daran störte, und der ließ ihn im Unklaren darüber.
So tat Victor zum ersten Mal in seinem Leben etwas gegen den Willen seines Vaters und malte nachts, wenn dieser schlief. Nacht für Nacht zeichnete er Gegenstände ab, so oft, bis sie perfekt aussahen, in verschiedenen Techniken und Stilen. Von Tag zu Tag war er unausgeschlafener und unkonzentrierter. Er trug die Waren in die falschen Spalten ein, und eines Tages brachte er einen großen Stapel Kartons zum Einsturz. Das war das Ende seiner Lehre. Ohnehin war er nur seines Vaters wegen eingestellt worden, und selbst das konnte ihn nun nicht mehr retten. Unter der Lawine der schweren Kartons wurde ein Arbeiter verletzt.
Sein Vater konnte ihm das nicht verzeihen. Bisher war Paul Reimer bei Opel immer durch gute Leistungen aufgefallen. Jetzt war er nur noch der Mann mit dem unfähigen Sohn.
Schließlich erwischte er Victor eines Nachts, als dieser gerade die Malutensilien unter dem Bett hervorholte. Dort befanden sich auch Victors Bilder. Paul Reimer zerriss sie in winzige Fetzen, weil ihm klar wurde, dass die heimliche nächtliche Malerei schuld daran war, dass Victor seine Aufgaben in der Firma nicht ordentlich erfüllt hatte.
Schließlich sank sein Vater ermattet auf einen Stuhl und verfiel in Selbstmitleid. «Womit habe ich einen Sohn verdient, der zu nichts zu gebrauchen ist? Ich kann mich bei niemandem mehr für dich verwenden.»
«Das habe ich auch nie von dir verlangt!»
«Aber was soll nun aus dir werden? Du musst doch von etwas leben.» Hilflos hob er die Hände und sah Victor tief in die Augen.
Dieser starrte trotzig zurück.
«Tu mir einen Gefallen: Lass die Finger von den Farben. Das bringt nur Unglück!»
Victor hatte seine Entscheidung längst getroffen. «Und wenn du jedes meiner Bilder zerstörst, du wirst mich niemals vom Malen abhalten!»
Noch in derselben Nacht packte er seine Sachen und verließ das Haus seines Vaters.
ZWEI
KOMMISSAR HERMANN KAPPE hielt sich die Hand vor den Mund und fluchte. Der Kaffee war noch viel zu heiß, doch er musste dringend los, wenn er nicht zu spät zum Dienst antreten wollte. Weiß der Himmel, weshalb sie heute alle verschlafen hatten. Das war ihm in all seinen Dienstjahren als Kriminaler noch nie passiert.
«Möchtest du nicht vielleicht doch wieder näher ans Präsidium ziehen?», fragte Klara, die die Schulbrote für Gretchen und Hartmut bereitete.
Kappe sah sie erstaunt an. Für Klara hatte er diese Wohnung in der Britzer Hufeisensiedlung ausgesucht, weil sie sich immer nach einer Wohnung im Grünen gesehnt hatte, vor allem der Kinder wegen. Er hatte die Wahl schon bald nach dem Einzug im März 1927 verflucht, als ihm bewusst wurde, wie früh er immer aufstehen musste, um zur Arbeit zu gelangen. Doch niemals hätte er vorgeschlagen, in Richtung Alexanderplatz zu ziehen, weil ihm Klaras Zufriedenheit sehr am Herzen lag. Nicht zuletzt seiner eigenen Nerven wegen, denn sie konnte schon sehr penetrant nachbohren, wenn sie etwas wollte, seine liebe Klara.
Doch es blieb keine Zeit, sich weiter zu wundern – er musste wirklich los. Typisch, dass sie solche Fragen stellte, wenn er in Eile war!
«Manchmal wünsche ich mir das schon», sagte er vorsichtig, denn bei Klara konnte man nie wissen, ob sie ihn mit einer solchen Frage nur auf die Probe stellen wollte, um das Gesagte hinterher gegen ihn zu verwenden und dann tagelang die Beleidigte spielen zu können. Frauen eben. Er schnappte seine Aktentasche, drückte Klara einen flüchtigen Kuss auf den Mund und hetzte im Laufschritt aus der Tür.
Die volle Kaffeetasse und die ernst dreinblickende Klara blieben in der Küche zurück.
«Wir fahren nach Paris!» Sein Vater hatte nicht gefragt, ob er mitkommen wolle auf diese Reise, mit Geschäften, von denen er, der Siebenjährige, nichts verstand. Er hatte es ihm mitgeteilt, so wie man seiner Frau sagt, dass am Abend noch überraschend Gäste zum Essen kämen und sie doch einen Teller mehr aufdecken möge. Was blieb auch als Alternative? Tante Gerda, die mit ihrem räudigen Hund in einem abbruchreifen Haus wohnte? Das war schon für einen Nachmittag kaum zu ertragen, für zwei ganze Wochen jedoch völlig inakzeptabel, und das wusste sein Vater glücklicherweise auch. Trotz allem hatte der kleine Victor sich vor der Reise gefürchtet, die so viele neue, unbekannte Eindrücke bringen sollte. Paris – das waren fünf aneinandergereihte Buchstaben für ihn. Wohl hatte ihm der Vater vom Eiffelturm berichtet, doch er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Menschen imstande waren, einen solch hohen Turm zu bauen. Als er dann davorstand, wurde ihm klar, dass dieser stählerne Gigant schier unbeschreiblich war, und ihn wunderte nicht mehr, dass dies in seinen kleinen Kopf im fernen Berlin einfach nicht hatte hineinpassen wollen.
Paris. Die fünf Buchstaben hatten in jenen Tagen einen anderen Klang für ihn bekommen und waren seither der Inbegriff für all seine Sehnsüchte. Nicht nur der Turm, nein, auch der Arc de Triomphe, die Tuileriengärten, die Seine und die Champs - Élysées hatten ihn tief berührt. Doch am stärksten hielt der Eindruck der Künstler vom Montmartre vor.
Anfangs hatte sein Vater ihn nicht ohne Aufsicht lassen wollen, doch wollte er seinen Geschäften ordentlich nachgehen, so konnte er sich nicht fortwährend um den Siebenjährigen kümmern und ihm die ganze Stadt zeigen. Victor hatte sich schließlich erbettelt, alleine durch die Umgebung streifen zu dürfen, und sein Vater hatte ihm mit ernstem Blick seine Uhr umgelegt und ihn ermahnt, nur ja wieder in der Unterkunft zu sein, wenn der große Zeiger auf der Zwölf und der kleine auf der Sechs stünde.
Nachdem dies am ersten Tag wunderbar geklappt hatte, war der Vater beruhigt. Offensichtlich kam der kleine Victor trotz der Sprachbarriere alleine zurecht, nachdem er ihm eingeschärft hatte, sich beim Gehen stets umzublicken und sich markante Häuser oder andere Orte für den Rückweg zu merken.
So konnte der kleine Victor den lieben langen Tag den Malern am Place du Tertre auf die Finger schauen, wie sie mit kräftigen Pinselstrichen ihre Gemälde bearbeiteten oder einfach neben ihren Werken saßen, die an die Bäume auf dem Bürgersteig gelehnt waren. Den einen oder anderen Namen schnappte er auf, mit dem er nichts anzufangen wusste, doch er hatte Zeit, also prägte er sich die Namen gut ein. Heute wusste er, welche Berühmtheiten oft dort gesessen und zwei Straßen weiter in einem Künstleratelier gewohnt hatten. Pablo Picasso und Georges Braque waren nur zwei von ihnen.
Ach, könnte er doch die Zeit zurückdrehen! Damals war er zum ersten Mal seit dem Tode seiner Mutter wieder glücklich gewesen.
Noch heute klangen ihm die Sprache und die Melodie der Stadt in den Ohren. Paris war voller Musik gewesen, wenn man nur darauf hörte. Doch es gab eines, das ihn traurig stimmte: Er würde die Künstler von damals dort sicher nicht mehr antreffen. Doch wer wusste schon, welcher der Künstler und Bohemiens des heutigen Paris der nächste Picasso werden könnte? Und er, Victor Reimer, könnte mit ihm reden, von ihm lernen!
Wenn er nur endlich genügend Geld beisammen hätte, um sich die Reise und den Aufenthalt dort leisten zu können! Zurück wollte er nicht mehr. Berlin war ebenfalls eine aufregende Stadt, das war unbestritten, doch es besaß nicht den Zauber, den er suchte.
«Die schaffen das doch sowieso wieder nicht!» Kappe nippte am Bureaukaffee und wünschte nicht zum ersten Mal, dass Gertrud Steiner, die Sekretärin, endlich lernen würde,