sagte er, begierig, mehr darüber zu erfahren, doch er war kein Freund vieler Worte.
«Pinselheinrich hat einige Motive am Mariannenplatz gemalt. Die haben hier reißenden Absatz gefunden.»
Victor konnte sich das gut vorstellen. Denn obwohl seine eigene Kunst in eine vollkommen andere Richtung ging, faszinierte ihn die Art, wie Zille seine Milieustudien betrieben hatte. Die Figuren wirkten so lebendig, und selbst den Schurken musste man eine gewisse Sympathie entgegenbringen, so wie Zille sie darstellte.
Victor nahm all seinen Mut zusammen. «Könnten Sie sich vorstellen, auch meine Bilder einmal hier auszustellen?»
Der Wirt spreizte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und stützte sein Doppelkinn darauf. «Dazu müsste ich erst einige Bilder von Ihnen sehen, junger Mann. Und wenn ich ehrlich bin … Normalerweise müssen die Künstler schon einen gewissen Ruf haben, bevor ich meine Wände mit ihren Gemälden schmücke.»
«Wie soll man sich denn einen Ruf erwerben, wenn alle mit demselben Argument eine Ausstellung ablehnen?» Victor senkte den Blick, und so sah er auch nicht das wohlwollende Lächeln von Felix Fournier.
«Manchmal muss man einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, junger Freund.»
Doch Victor hatte der Mut bereits wieder verlassen, und so hatte er dem Wirt nie eines seiner Gemälde vorgelegt. Trotz allem zog es ihn immer wieder einmal hierher.
So auch heute.
Als er die Tür öffnete, drang Stimmengewirr zu ihm hinaus. Beinahe hätte er wieder kehrtgemacht, doch er sah ein, dass er sich nicht ewig verstecken konnte. Ein Künstler brauchte Inspiration, und diese würde versiegen, wenn er nicht hin und wieder seine kreativen Quellen auffüllte und etwas erlebte.
Unruhig um sich blickend, schlängelte er sich zwischen den schwitzenden, lachenden Männern zum Tresen durch und bestellte eine Molle. In der hintersten Ecke hatte er ein kleines Tischchen ausgemacht, an dem sich noch niemand niedergelassen hatte. Er ging dorthin, den Kopf gesenkt, den Blick fest auf den Tisch gerichtet, um nur niemanden an einem der anderen Tische ansehen zu müssen.
Was war er nur für ein Künstler, der sich weigerte, die Atmosphäre jederzeit in sich aufzunehmen! Hier lagen Motive vor ihm, er müsste sie nur ansehen! Victor war sich dessen sehr wohl bewusst, doch erst mit der Wand im Rücken, im Schutze der kleinen Ecke, hinter dem Tisch verschanzt, wagte er, aufzublicken und die Szenerie auf sich wirken zu lassen.
Geschäftsmänner sah er keine. In dieser Gegend verkehrte das einfache Volk – die Hautevolee würde man im «Max und Moritz» vergeblich suchen. Trotz des literarischen Bezugs im Namen des Lokals kreisten die meisten Gespräche der Gäste nicht um Literatur, sondern um ihre Arbeit und um das weibliche Geschlecht, das von jeher ein beliebtes Thema in jenen Etablissements zu sein schien.
Ein sehr beleibter Kerl, vielleicht Mitte vierzig, geriet am Nebentisch in Streit mit einem hageren Jungen, den er offenbar vergeblich dazu überreden wollte, eine der Prostituierten aufzusuchen, die in der Nähe ihren Geschäften nachgingen. Der Junge lehnte die käufliche Liebe samt und sonders ab, was ihm den stillen Beifall Victors eintrug. Dieser konnte gar nicht anders, zückte das Skizzenbuch, das er stets in der Jackentasche bei sich trug, und zeichnete die Streithähne mit flinken Strichen.
Inzwischen hatte der Dicke den Tisch verlassen, abgewinkt, den Jungen einfach sitzenlassen und war schwankend durch das Lokal auf die Straße gegangen. Der Junge saß nun unschlüssig da, blickte in die Runde und erwischte mit seinem Blick auch irgendwann den skizzierenden Victor.
«Was machst ’n da?» Er stand auf und beugte sich über den Tisch.
Victor, dem es unangenehm war, dass die skizzierte Person ihn bei seiner Arbeit ertappt hatte, legte rasch die Hand über seinen Block.
«Komm, ich lache auch nicht! Zeig mal!» Er nahm Victors Hand vom Block, blickte staunend auf die beiden Streithähne im Bleistiftstrich und pfiff anerkennend durch die Zähne. «Den Dicken haste hervorragend getroffen! Und das dürre Männchen soll wohl ich sein?»
Victor nickte zögernd und hoffte, dieser Mensch würde sich rasch entfernen, als der auch schon an seinem Tisch Platz genommen hatte.
Er streckte eine Hand aus. «Alfons Lauterbach mein Name. Ich mach auch Kunst!»
Oh, wie sehr Victor diese Menschen hasste, die glaubten, auch für die Kunst geboren zu sein, nur weil sie einen Stift in der Hand halten konnten! Für ihn war das ebenso, als würde er behaupten, er würde demnächst ein Buch schreiben, nur weil er in der Schule das Alphabet gelernt hatte und wie man Buchstaben aneinanderreiht. Er würde sich so etwas nie anmaßen – weshalb belästigten ihn die Menschen dann mit Gesprächen über ihre stümperhafte Krakelei?
Als hätte Alfons Lauterbach seine Gedanken gelesen, sagte er: «Nein, das ist wirklich wahr, ich bin Künstler, ich male. Ich möchte behaupten, dass ich mir auch schon einen Namen gemacht habe, auch wenn die Zeiten gerade schwierig sind. Wenn du willst, zeig ich dir meine Wirkungsstätte mal.»
Victor konnte sich nicht erinnern, seinem Gegenüber das Du angeboten zu haben, aber so was passierte eben, wenn man sich in ein Gasthaus begab, anstatt sich in die Arbeit zu vertiefen. Er verfluchte seine Entscheidung, bis sein Gegenüber einen Zettel aus der Tasche zog und auseinanderfaltete.
«Kleine Fingerübung von vorhin.» Er schob den Zettel zu Victor hinüber, und dieser hielt für einen Moment den Atem an. Alfons Lauterbach hatte mit wenigen genialen Strichen die Sacre Cœur skizziert.
«Waren Sie schon am Montmartre?», wollte Victor wissen, bereute jedoch sofort seine Frage.
«Sag doch Alfons! Unter Künstlern müssen wir doch nicht so förmlich sein.» Er lächelte. Der Steg zwischen seinen Nasenlöchern war wesentlich tiefer angesetzt als die Nasenflügel, was ihm ein leicht katzenhaftes Aussehen verlieh. «Aber um auf deine Frage zu antworten: Nein. Ich kenne Paris nur von Photos. Aber mir gefällt die Basilika, und deswegen zeichne ich sie immer mal wieder. Das erste Mal war ein Photo die Vorlage. Und wenn ich einmal etwas gesehen habe, das mich berührt hat, dann kann ich es jederzeit aus dem Gedächtnis malen.»
Victor mochte es noch immer nicht, dass Alfons Lauterbach ihn behandelte, als wären sie schon ewig befreundet. Er wirkte sympathisch, abgesehen von seiner Angeberei mit dem photographischen Gedächtnis, doch es widersprach einfach Victors grundsätzlicher Skepsis anderen Menschen gegenüber, sich so rasch auf eine vertraute Ebene zu begeben. Distanz war wichtig für ihn, es war etwas, an dem er sich festhalten konnte, ein fester Rahmen, den er seinem Leben gab. Traue niemandem, dann bist du sicher! Zu oft war er enttäuscht worden. Sogar seine eigene Mutter war einfach gestorben, anstatt für ihn da zu sein. Worauf sollte man sich dann im Leben noch verlassen können?
Trotz allem beschloss Victor, sich auf das Duzen einzulassen. Sich weiterhin stur zu stellen wäre ihm grob unhöflich vorgekommen. Außerdem schien dieser Alfons kein so übler Kerl zu sein. Wie hätte er das auch sein sollen, wo er doch Sacre Cœur mochte, auch wenn er die Basilika nur aus der Ferne kannte? Wer Victors Leidenschaft teilte, hatte sich einen kleinen Vertrauensvorschuss verdient, auch wenn es Victor schwerfiel. Außerdem war sein Interesse erwacht.
«Zeichnen S … Zeichnest du nur, oder benutzt du auch andere Materialien?»
«Ich male auch in Öl und Aquarell. Kleine Bilder, große Bilder, Häuser, Porträts – alles, was du willst. Und selber?»
Victor biss sich auf die Zunge, damit er kein Wort über das Acryl verriet. «Im Grunde dasselbe. Bilder, Auftragsarbeiten, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Und wahre Kunst, um geistig zu überleben.»
«Warst du schon mal im Romanischen Café? Da sitzen viele von uns.»
Victor hatte sich bisher aus genau diesem Grund von dort ferngehalten, doch das wollte er seinem Tischkumpan nicht auf die Nase binden. «Ich gehe nicht viel aus», sagte er vage.
«Solltest du aber! Das ist ungemein belebend für die kreative Energie. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Manchmal bin ich so ausgelaugt, dass mir kein einziger Pinselstrich mehr von der