Petra A. Bauer

Kunstmord


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über die Kante hinausragte. Als Victor sich noch fragte, was das sollte, hatte Alfons schon mit den Fingern von unten gegen den Bierdeckel geschnippt. Der Deckel vollführte eine Drehung, so schnell, dass man mit den Augen kaum folgen konnte, und Alfons hielt ihn in der Hand.

      «Kennst du das noch nicht?» Alfons hatte Victors irritierten Blick gesehen. «Schau, es ist ganz einfach: Hinlegen, schnippen, fangen.» Er wiederholte das Kunststück einige Male. «Probier es doch auch mal!»

      «Ich bin nicht so geschickt bei so was. Lass mal.»

      Die Wahrheit war, dass Victor unglaubliche Angst davor hatte, sich vor allen Leuten zu blamieren. Sicher hätte er den Bierdeckel durch das halbe Lokal geschnippt. Er wusste nicht, wie er damit hätte umgehen sollen. Er begab sich normalerweise nur in Situationen, auf die er gut vorbereitet war, und Bierdeckelschnippen gehörte nicht zu den Dingen, mit denen er heute gerechnet hatte.

      Alfons grinste.

      Victor konnte sich lebhaft vorstellen, was sein Gegenüber wohl denken mochte, aber das war ihm egal.

      «Solche Tricks lernt man eben, wenn man unter Menschen geht, die alle darauf aus sind, ihren Kopf wieder freizubekommen.» Und dann begann er, von den Treffen im Romanischen Café zu erzählen, von der Inspiration, die ihm der Austausch mit den Kollegen bescherte, und davon, wie schön das Leben als Künstler sei. Kein Wort von beschwerlichen Stunden, die Victor nur zu gut kannte, kein Wort von Zweifel und tiefer Traurigkeit. Alfons schien auf der Sonnenseite geboren zu sein. Er strahlte so viel Freude aus, dass Victor irgendwann dachte, etwas von dieser Energie könnte auf ihn abstrahlen, wenn er sich nur oft genug in Alfons’ Nähe aufhielt. Er hätte es nicht über sich gebracht zu fragen, doch Alfons nahm ihm diese Entscheidung ab.

      «Ich habe heute noch etwas vor, aber ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedertreffen. Willst du dir meine Bilder mal ansehen?»

      Victor versicherte eifrig, aber nicht zu eifrig, dass er sich freuen würde.

      Sie verabredeten sich für die nächste Woche.

      An diesem Tag ging Victor Reimer ungewohnt frohgemut nach Hause.

      VICTOR war verwundert, als er in der Fürstenstraße ankam und in dem Haus, das Alfons ihm genannt hatte, auf dem Stummen Portier nach dem Namen Lauterbach suchte. Unterhalb der vorgesehenen Felder für die Namen der Hausbewohner klebte ein zusätzlicher Zettel mit Alfons’ Namen. Das ließ keinen anderen Schluss zu, als dass sich Alfons’ Wohnung im Keller befand – nicht gerade ideal für ein Künstleratelier.

      Muffiger Geruch nach alten Kartoffeln schlug ihm auf der Treppe nach unten entgegen, und es war nicht leicht, in der Dunkelheit überhaupt den Lichtschalter zu finden.

      Die Lampe erhellte nur schwach einen schmalen Gang. Die Mauern bestanden aus rotbraunen Steinen, in deren Fugen sich Staub angesammelt hatte. Türen, lose aus einfachen Holzlatten gezimmert, gingen rechts und links davon ab. Victor spähte durch die Lattenzwischenräume in einen Verschlag hinein. Bei der spärlichen Beleuchtung konnte er zwar kaum etwas erkennen, er vermutete aber, dass Kohlen darin lagerten.

      Eine Türöffnung auf der linken Seite des schmalen Ganges war mit andersfarbigen Steinen offenbar nachträglich zugemauert worden, und die nächste Tür sah anders aus als die anderen: keine einzelnen Holzlatten, sondern eine massive Holztür, die über und über mit geometrischen Formen bemalt war, in allen erdenklichen Farben. Auf Augenhöhe befand sich ein Schriftzug: A. Lauterbach – Künstler.

      Darunter war ein verschnörkelter Türklopfer angebracht, der aussah, als hätte er einmal an einem hochherrschaftlichen Haus als Ankündigungsmechanismus für Gäste gedient.

      Victor streckte die Hand danach aus, zog an dem Griff und ließ ihn wieder fallen. Ein lautes «Klong!» ertönte, und es dauerte eine Weile, bis Victor Schritte hinter der Tür vernahm.

      Alfons öffnete. Er sah Victor für einen Moment irritiert an, dann hellte sich seine Miene auf.

      «Stimmt, wir waren verabredet!» Er drehte sich in der halbgeöffneten Tür um. «Eva, zieh dir etwas über, wir haben Besuch!»

      «Wia waan doch noch ja nich fertich!»

      «War ja nicht das letzte Mal. Du weißt doch, dass es mir mit dir besonderen Spaß macht!» Alfons lächelte anzüglich, und Victor fühlte sich äußerst unwohl in seiner Haut.

      «Ich kann gerne ein andermal wiederkommen, wenn ich das junge Glück nicht störe.»

      Nach einem kurzen Moment der Überraschung fing Alfons schallend an zu lachen, trat einen Schritt zurück und deutete auf die Leinwand, die auf der Staffelei in der Mitte des Zimmers stand. Darauf war ein sitzender Akt abgebildet. Das Modell trug eindeutig die Züge jener Eva, die nun angezogen dem Ausgang zustrebte.

      «Na jut. Nächste Woche um dieselbe Zeit?»

      Alfons, noch immer grinsend, drückte der winzigen Blondine ein Geldstück in die Hand und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. «So machen wir es.»

      Eva schwirrte ab, nachdem Victor beiseitegetreten war, um sie vorbeizulassen.

      «So, nun komm doch mal rein, oder willste da draußen Wurzeln schlagen?»

      Victor betrat den Raum, der von einer schirmlosen Funzel erhellt wurde, die das bisschen Tageslicht verstärkte, das kurz unterhalb der Zimmerdecke durch die niedrigen Souterrainfenster schien. Die Wände waren eng mit Bildern behängt. Akte, Landschaften, Gebäude, Porträts – in Öl, in Aquarell, als Kohlezeichnung. In einer Ecke stand ein Tisch, der über und über mit Malutensilien vollgestellt war, ähnlich wie in Victors Dachkammer. Daran angelehnt diverse Keilrahmen.

      «Du hast also geglaubt, Eva und ich …» Alfons kicherte.

      «Du musst zugeben, dass euer Gespräch nicht ganz unzweideutig war.»

      «Stimmt. Und versucht habe ich es natürlich. Aber die Kleine lässt mich nicht ran. Nichts zu machen, die ist in festen Händen. Karl Kasulke. Ein Bär von einem Mann. Wo der hinhaut, wächst mit Sicherheit kein Gras mehr. Falls du auch Appetit bekommen haben solltest …»

      Alfons lachte schon wieder. Diesmal sehr anzüglich, und Victor fühlte sich immer unwohler. Vielleicht bekam er auch Beklemmungen von Alfons’ Atelier – er war nicht sicher.

      «Bier?» Alfons wartete keine Antwort ab, sondern ging durch eine schmale Tür und kam mit zwei geöffneten Flaschen Berliner Kindl zurück.

      Victor nahm ihm eine ab und trank einen tiefen Schluck, ungeachtet der frühen Stunde. Er blickte sich um, und sein Blick wanderte hoch zu den winzigen Fenstern. «Ist das nicht ein ungewöhnlicher Ort für ein Atelier?» Victor staunte über die schlechten Voraussetzungen, denn beim Malen brauchte man so viel Tageslicht wie irgend möglich.

      «Ich kann mir kein anderes Atelier leisten. Ich bin froh, dass ich überhaupt dieses Loch hier bezahlen kann.» Alfons zog den blauen Vorhang beiseite, der einen Teil des Raumes abteilte. Eine Matratze kam zum Vorschein sowie eine Kiste, aus der Kleidung herausschaute. In der Wand dahinter sah man die zugemauerte Türöffnung. Ganz offenbar war diese «Wohnung» einfach aus zwei ehemaligen Kellerverschlägen entstanden. Alfons lebte hier buchstäblich unter Tage.

      Victors Dachkammer war ihm schon so manches Mal wie ein Gefängnis vorgekommen, obschon es dort ausreichend Licht gab. Doch hier unten würde er es keine zwei Stunden aushalten! Eigentlich keine halbe, wenn er darüber nachdachte.

      An Gehen war jedoch zunächst nicht zu denken, denn Alfons präsentierte Victor seine Bilder. Eines nach dem anderen hielt er in die Höhe und erzählte in epischer Breite, was darauf zu sehen war, als würde er die Motive einem Blinden erklären. Victor versuchte einige Male, Alfons’ Redefluss zu stoppen, doch es gelang ihm nicht, also ergab er sich seufzend in sein Schicksal.

      Sein Blick blieb an einem dreiarmigen Kerzenständer hängen. Alfons bemerkte es. «Hässliches Ding, wa? Aber was soll ich machen? Es ist ein Erbstück, und immerhin spendet es zusätzliches Licht, wenn es hier unten zu duster wird oder wenn