«Hast du ’ne Ahnung! Diesmal musset einfach klappen, da jibs keene Ausreden mehr! Viermal war unsre Hertha Vizemeister – diesmal tragen se den Pokal nach Hause, so wahr ick Gustav Galgenberg heiße!»
Von Grienerick nickte bekräftigend dazu. «Die sind sooo dicht dran!» Er deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Lücke an, in die gerade drei Formulare gepasst hätten.
Kappe war erstaunt über die plötzliche Fußballbegeisterung im Präsidium. Galgenberg war zwar schon in früheren Jahren hin und wieder bei einem Herthaspiel gewesen, aber so fanatisch wie in diesem Jahr hatte er ihn und von Grienerick noch nicht erlebt. Die Begeisterung schien beinahe sämtliche männlichen Kollegen angesteckt zu haben, doch Kappe war das Ganze nicht geheuer.
Seine eigenen Fußballerfahrungen lagen lange zurück, und die Erinnerung daran war von Schmerz und Demütigung geprägt. Mehr als einmal hatte er mit der Nase im Dreck gelegen, und blaue Flecke am Schienbein waren an der Tagesordnung gewesen. Irgendwann hatte er das Spielen lieber den anderen überlassen. Sein Sohn Hartmut traf sich hin und wieder mit den Kindern aus der Nachbarschaft zum Fußball, doch Kappe war froh, dass der Kleine nicht auf die Idee kam, in einem Verein spielen zu wollen.
«Wir können ja eine Wette abschließen.» Von Grienerick riss Kappe aus seinen Gedanken. «Ich setze darauf, dass Hertha den Meistertitel gewinnt.»
«Ick ooch! Wat is mit dir, Kappe?»
«Wer wetten will, hat Lust zu betrügen», zitierte dieser einen Spruch seiner Mutter.
«Wie? Meinste, wir bestechen den Schiedsrichter, damit du deine fuffzich Pfennje verlierst?» Galgenberg lachte dröhnend. «Det wär ja noch schöner! Aba wat nützt ’ne Wette, wenn keener dajejenhält?»
«Na gut.» Kappe kapitulierte.
Galgenberg kramte eifrig in seiner Schreibtischschublade, bis er eine Streichholzschachtel zutage gefördert hatte. «Jeder legt hier fuffzich Pfennje rein. Jewinnt Kappe, kricht er die janze Penunze, wird Hertha doch Meister, teilen Grienerick und icke. Allet klar?»
«Vielleicht machen ja noch ein paar andere Kollegen mit. Dann lohnt es sich. Und wir könnten ja auch darauf setzen, auf welchen Platz die Hertha kommt, wenn sie nicht Meister wird.»
«Ach, das wird doch zu kompliziert», sagte Kappe.
«Was höre ich von Komplikationen, meine Herren?» Unvermittelt stand Brettschieß in der Tür. «Ich hoffe doch, dass alles seinen gewohnten Gang geht!»
Kappe verdrehte innerlich die Augen. Der Brettschieß hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Vorgesetzter war in Kappes Augen ein Störfaktor, und er wusste, dass er mit seiner Meinung nicht alleine dastand. Außerdem sympathisierte Brettschieß mit der zehn Jahre zuvor gegründeten NSDAP, und das war ihm wirklich ein Dorn im Auge. Von so jemandem ließ er sich nur ungern etwas sagen.
«Wir reden grade über ’ne neue Beobachtungstaktik», sagte Galgenberg und grinste, was Dr. Brettschieß jedoch nicht sehen konnte, weil dessen Aufmerksamkeit Kappe galt.
«Alles muss so einfach und effektiv wie möglich laufen. Komplizierte Vorgehensweisen beeinträchtigen das Ermittlungsergebnis. Merken Sie sich das stets, mein lieber Kappe!», dozierte Brettschieß.
Kappe fragte sich, wieso er sich diesen Sermon anhören musste. Immerzu redete Dr. Brettschieß geschwollen daher und sagte damit leider rein gar nichts. Heiße Luft aus einer Dampfmaschine war aussagekräftiger. Leute, die keinen Durchblick hatten, sich stattdessen aber gerne wichtig machten, waren Kappe zuwider.
Nachdem sein Vorgesetzter noch einen prüfenden Blick auf Kappes Schreibtisch geworfen hatte – Kappe fragte sich, was er dort zu finden hoffte –, ging er grußlos wieder hinaus.
«Welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?»
Von Grienerick äffte ihn nach: «Alles muss so einfach und effektiv wie möglich laufen.» Dabei stand er stocksteif und schnitt die dümmste aller Grimassen, die er in seinem Repertoire hatte – und das waren so einige, wie Kappe wusste.
«Grienerick, meist steht der Veräppelte hinter einem, wenn man so wat macht. Hat dich das die Erfahrung nich jelehrt?» Galgenberg lachte, als von Grienerick sich erschrocken umdrehte. Doch da war niemand.
«Sollten wir uns nicht lieber unseren Akten zuwenden?», fragte Kappe in die Runde, bevor die beiden wieder mit ihren Fußballgesprächen anfangen konnten.
«Ick wusste ja schon immer, dass du ’n Spielverderber bist, Kappe, aber die fuffzich Pfennje zahlste trotzdem.» Galgenberg hielt ihm die Streichholzschachtel hin.
Kappe zog seufzend seine Geldbörse hervor. «Ihr macht mich arm!»
«Wieso, wenn Hertha verliert, biste doch reich!» Galgenberg gluckste.
«Kindsköpfe!», dachte Kappe, musste dabei aber schmunzeln. Er ging hinüber zum Aktenschrank und starrte auf die Ordner und Aktenzeichen. Mit einem Mal hatte er vergessen, was er eigentlich heraussuchen wollte, stattdessen ging sein Blick durch die Ordnerrücken hindurch, und er befand sich wieder mit Klara am Frühstückstisch. Wieso nur wollte ihm Klaras Vorschlag so gar nicht aus dem Kopf gehen? Er hätte froh sein müssen, dass sie sich mit dem Gedanken trug, seinen Arbeitsweg wieder zu verkürzen. Dann könnte er endlich wieder länger schlafen und wäre auch bei überraschenden Einsätzen schneller zur Stelle. Er könnte sich wahrlich darüber freuen – wenn der Vorschlag nur nicht so vollkommen untypisch für Klara gewesen wäre. Ihr Blick, ihr bemüht beiläufiger Tonfall – all das beunruhigte ihn. Sonst nörgelte sie lautstark und in einem fort, wenn ihr etwas missfiel. Da war etwas im Busch, und Kappe nahm sich fest vor herauszufinden, was das sein könnte. Gleich heute Abend wollte er sie fragen.
Er suchte nicht sehr häufig die Gesellschaft von Menschen – meist erschreckten sie ihn nur oder gingen ihm mit ihrer Dummheit auf die Nerven. Doch an jenem Tag zwang ihn ein unerklärlicher Drang nach Gesellschaft aus dem Haus. Normalerweise ging er nicht in Kneipen, schon gar nicht tagsüber. Er mied solche Orte – nicht nur wegen der Leute, sondern weil er sich mehrfach überlegte, ob er das Geld, das er für seinen Traum aufsparte, wirklich für ein Bier in zweifelhafter Gesellschaft ausgeben wollte. Doch heute war so ein Tag. Einer, an dem man an einem Scheideweg steht und nichts davon ahnt.
Er schlenderte durch die Straßen, bis er zur Oranienstraße kam, einer der besten Einkaufsstraßen Berlins, in der sich auch das Wirtshaus «Max und Moritz» befand. Dort verkehrte er gelegentlich, obwohl es mehreren Hundert Menschen Platz bot und somit eigentlich dem schüchternen Naturell Victors völlig widersprach. Doch das Gründerzeitmobiliar inmitten von Glasmosaiken, Stuck- und Schmiedearbeiten strahlte eine gewisse Gemütlichkeit aus, und er verband angenehme Erinnerungen mit dem Etablissement. Außerdem gab es ihm ein gutes Gefühl, dass der von ihm geschätzte Heinrich Zille Stammgast im «Max und Moritz» gewesen war, bevor er im Jahr zuvor verstorben war.
Am schönsten fand er jedoch die Wandreliefs, deren Szenen von Max und Moritz zum Betrachten einluden. Das Wirtshaus verdankte seinen Namen tatsächlich den beiden Lausbuben von Wilhelm Busch, der jedoch nie selbst dort gewesen war, wie der Wirt berichtet hatte. Doch Busch hatte nichts dagegen gehabt, dass das Gasthaus diesen Namen trug, vorausgesetzt, es wurde jeden Donnerstag Erbsensuppe an die ärmere Bevölkerung ausgegeben.
Während der Inflation, als sich alle Menschen nur lebensnotwendige Dinge leisten konnten, war Victor ebenfalls donnerstags hierhergekommen, wenn der Hunger gar zu groß wurde. Denn natürlich gab in dieser Zeit niemand Geld für Kunst aus.
Eines Tages war Victor dem äußerst gesprächigen Wirt Felix Fournier ausgeliefert gewesen. Es war noch nicht viel los, und Fournier hatte Langeweile beim Gläserputzen.
«Dieses Wirtshaus war die beste Idee, die ich je hatte!» Die Gläser quietschten, als er das Geschirrtuch hineindrückte und drehte, bis die Feuchtigkeit gewichen war. «Der gute Heinrich Zille hat hier drin sogar seine Bilder verkauft.»
Interessiert sah Victor auf, denn die Tanzveranstaltungen, von denen Fournier vorher berichtet hatte, waren nicht seine Kragenweite, und auch die Erzählungen vom Kabarett «Die Wespen»,