Pierre Pradervand

Segnen heilt


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zu leben?

      

2 Die Geschichte des Segnens

      Gesegnet wirst du sein, wenn du eingehst,

       gesegnet, wenn du ausgehst.

      5. Buch Mose 28:6

      

as Segnen ist eine jahrtausendealte Kunst. Im religiösen Kontext haben Handlungen des Segnens über die Jahrhunderte und in nahezu allen Kulturen stattgefunden. Außerdem finden sich in unserer Kultur laienhafte Segenshandlungen in Form von Einweihungsfesten – zum Beispiel in der europäischen Tradition, nach der Errichtung des Dachs ein Immergrün an der Spitze eines neuen Hauses zu befestigen oder Frischvermählte mit Reis zu bewerfen. In manchen Regionen der Schweizer Alpen rufen Schäfer noch heute einen Segen durch einen einfachen Holztrichter in die vier Himmelsrichtungen. Die Indianer in Nordamerika haben für zahlreiche Anlässe Stammessegnungen.

      Caitlìn Matthews zeigt in ihrem Buch The Little Book of Celtic Blessings auf, dass Segnen seit langer Zeit in allen Lebensumständen angewendet wird. Viele Segen beruhen auf dem Verständnis, dass es eine universale Macht gibt. Es ist das Grundprinzip der Harmonie, das alles regelt und an das die Menschen sich wenden können. Hier ist zum Beispiel der »Segen für einen geliebten Menschen«:

      Du bist der Stern einer jeden Nacht,

       Du bist die Helligkeit des Morgens,

       Du bist die Geschichte eines jeden Gasts,

       Du bist der Bericht eines jeden Landes.

      Nichts Böses soll dich befallen.

       Weder auf dem Hügel noch am Ufer,

       Weder auf dem Feld noch im Tal, auf dem Berg

      Noch in der Schlucht.

       Weder oben noch unten, weder im Meer

       Noch am Strand,

       Weder hoch oben am Himmel noch unten in den Tiefen.

      Du bist der Kern meines Herzens,

       Du bist das Gesicht meiner Sonne,

       Du bist die Harfe meiner Musik,

       Du bist die Krone meiner Gesellschaft.

      In zahlreichen vorindustriellen Kulturen haben Segen sämtliche wichtigen Lebensaktivitäten begleitet: Das Säen und das Ernten, das Jagen und das Fischen, das Werken und das Kochen von Mahlzeiten, um ein paar Beispiele zu nennen. Das Alte Testament brummt vor Segnungen (und zeigt natürlich auch Beispiele für das Gegenteil – das Verfluchen). Im 4. Buch Mose wird zum Beispiel berichtet, dass bei der Rückkehr der Israeliten in ihr Heimatland König Balak versuchte, die Dienste Bileams, eines großen Sehers der Zeit, anzuheuern, um sie zu verfluchen. Wie gesagt wird, erhielt Balaam den Befehl von Gott, das genaue Gegenteil zu tun, nämlich die Israeliten zu segnen. Das frustrierte den König sehr. Das Allererste, was Gott selbst tat, nachdem er Mann und Frau erschuf, war, sie zu segnen (Genesis 1:28).1

      Im 5. Buch Mose (30:19) zieht der Verfasser eine Parallele zwischen der Handlung des Segnens und dem Leben an sich, und auch zwischen Verfluchen und Tod. »Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und du und dein Same leben mögt.« Der beschränkte persönliche Sinn für das Segnen, der in biblischen Zeiten vorherrschte, bedeutete jedoch, dass der Segen, den Jakob seinem Bruder Esau stahl, Esau nicht länger zugesprochen werden konnte. Er war schon vergeben worden – als könnten wahre Segnungen begrenzt sein!

      Der folgende Bibelabschnitt aus dem 5. Buch Mose 28:3-8 betont auf wunderschöne und poetische Weise, wie konkret sich das Segnen auf jede Lebenssituation anwenden lässt:

      Gesegnet wirst du sein in der Stadt, gesegnet auf dem Acker. Gesegnet wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Landes und die Frucht deines Viehs, die Früchte deiner Rinder und die Früchte deiner Schafe. Gesegnet wird sein dein Korb und dein Backtrog.

      Gesegnet wirst du sein, wenn du eingehst, gesegnet, wenn du ausgehst … Der Herr wird gebieten dem Segen, dass er mit dir sei in deinem Keller und in allem, was du vornimmst, und wird dich segnen in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gegeben hat.

      Der »Herr, dein Gott« ist das Prinzip der bedingungslosen Liebe, die das Universum aufrechterhält, und das »Land« lässt sich auch auf einen Bewusstseinszustand übertragen. Es ist unser Bewusstseinszustand, der darüber entscheidet, ob und wie wir diese Segen empfangen. Sie werden jederzeit einfach über uns ausgeschüttet – so immens ist die Großzügigkeit des Lebens.

      Wie diese kurzen Beispiele zeigen, sind Segnungen so alt wie die Menschheit selbst. Sie erstrecken sich auf verschiedene Religionen und Kulturen und sämtliche Lebensumstände.

      Die spirituellen Lehrmeister des Altertums erkannten die außergewöhnliche Kraft der Gedanken – im Guten und im Schlechten –, die wir gerade erst anfangen wiederzuentdecken. Gedanken können buchstäblich Leben geben oder Tod bringen. Deswegen wird in Exodus 21:17 der zu Tode verurteilt, der seine Eltern verflucht hat. Und im Kampf zwischen Jakob und dem Engel (Peniel, Genesis 32) weigert sich Jakob, den Engel gehen zu lassen, bevor der Engel ihm seinen Segen gibt. (Die Geschichte muss im symbolischen Sinn als Jakobs Wiedergeburt gesehen werden, bei der er sich seiner spirituellen Identität bewusst wird. Das erklärt seine Namensänderung, die das neue Bewusstsein seiner göttlichen Natur andeutet.)

      Die Tatsache, dass eine Handlung wie das Segnen in fast allen Kulturen so universal verbreitet ist – und das vermutlich seit Menschengedenken –, deutet auf einen wichtigen Faktor hin: das allmähliche Erwachen der Menschheit in eine grundsätzliche Wirklichkeit hinein, die man das Gesetz der Anziehungskraft des Guten nennen könnte. Diese Vorstellung werden wir auf den nächsten Seiten im Detail untersuchen.

      Auf seiner tiefsten Ebene deutet das Segnen auf einen Sinn für das Heilige hin. Es ist das Gefühl eines verborgenen Überflusses, der denjenigen zur Verfügung steht, die sich ihm durch diese Handlung öffnen. Es ist eine unsichtbare Macht, die schützt und ganz macht. Meistens bezieht es sich auf Gutes, das jemand durch bestimmte Praktiken von einer Gottheit erhalten hat, und dies ist wahrscheinlich seine am meisten verbreitete Bedeutung.

      Im Maha Mangala Sutra listet Buddha die achtunddreißig höchsten Segnungen für einen Buddhisten auf. Darunter finden sich die Verbindung zu den Weisen, der richtige Weg, die Liebe und Achtung gegenüber der Ehefrau oder des Partners, großzügig sein, Zufriedenheit und Dankbarkeit ausdrücken, einen unbefleckten Geist besitzen und anderes. Indem wir diese Segnungen praktizieren, werden wir selbst und unsere Umwelt gesegnet.

      Viel weniger bekannt ist, dass im Judentum, eine der am weitesten verbreiteten Weltreligionen, das Segnen die Wurzel des Glaubens, seine Bodenständigkeit ist. Schon im allerersten Kapitel der Schöpfungsgeschichte steht, dass Gott die Geschöpfe segnete, die er gerade erschaffen hatte – Mann und Frau. Deshalb wird der Segen bei Abraham und dann wieder bei Moses erneuert. Die Segen, die man von Gott erhält, stellen den Kern der jüdischen Religion dar. Das geht so weit, dass ein führender jüdischer Gelehrter, der Rabbiner Walter Homolka, von einer Kultur des Segnens spricht, die weit über den Gottesdienst hinausgeht und sich auf die kleinste Alltagshandlung erstreckt. (Diese Praxis ähnelt den buddhistischen »gathas«. Das sind Erklärungen, die den trivialsten Handlungen hinzugefügt werden.) In der hebräischen Bibel ist es nicht nur Gott, der seine/ihre Geschöpfe segnet, sondern auch Menschen, die ihren Schöpfer segnen.

      Die Mischna – die Kodifizierung des jüdischen Religionsgesetzes, die ca. 200 A. D. aufgeschrieben wurde – beginnt mit einem Abschnitt über das Segnen (B’rachot aus dem hebräischen Begriff Bracha = Segen). Baruch bedeutet »[der, der] gesegnet [ist]«. Der Rabbiner Meir aus dem zweiten Jahrhundert dieser Ära sagte, ein Jude sollte einhundert Segen am Tag sprechen. Das Berakha ist das Herz der täglichen