nach Kirksville, um Dr. Still aufzusuchen? Ich hatte viele Leute in diesem Zug, die sich in schlechterer Verfassung befanden als Sie und die später gesund nach Hause zurückkehrten. Warum versuchen Sie es nicht mit ihm?“
ABB. 13: A. T. STILL VOR DEM KRANKENHAUS
Der Herr ging nach Kirksville ins Krankenhaus und bat um einen Termin bei Dr. Still. Zu seiner Überraschung ignorierte dieser, als er ihn untersuchte, das Knie und konzentrierte sich auf seine Wirbelsäule. Nach der Untersuchung korrigierte er vorsichtig eine dislozierte Hüfte. Er sagte dem Patienten, er solle aufstehen und mit seinem Fuß auf den Boden stampfen. Dieser wehrte sich und sagte, sein Chirurg habe ihm geraten, nicht zu viel Gewicht auf ein Bein zu legen. Dr. Still sagte: „Ich bin jetzt Ihr Arzt, also tun Sie, was ich sage.“ Der Mann gehorchte und war in der Lage, über den Boden zu laufen. Er schickte seiner Frau ein Telegramm mit den Worten: „Ich bin geheilt, gesund und wohlauf.“ Als das Telegramm eintraf, schickte sie sogleich einen Freund nach Kirksville, weil sie dachte, ihr Mann habe den Verstand verloren. Doch nachdem der Freund den Herrn besucht hatte, kabelte er an sie: „Ein Wunder ist vollbracht worden.“35
ABB. 14: DR. A. T. STILL SINNIRT ÜBER EINEN OBERSCHENKELKNOCHEN
Viele Wunder wurden in Kirksville vollbracht in jenen Tagen. Abgesehen von den Lahmen und Verkrüppelten, die ihre Krücken fortwarfen, wurden viele von allem Möglichen, von Verstopfung und Hämorrhoiden bis zu Gallensteinen und Lungenentzündung geheilt – und alles ohne Verwendung schädlicher Arzneimittel. Dr. Still sagte, der Körper sei die Maschine und der Osteopath sei der Mechaniker, der ihren reibungslosen Betrieb gewährleisten könne. Einige Patienten waren nach einer Behandlung geheilt, bei anderen dauerte es einige Monate. Dennoch gab Still seinen Schülern zu verstehen, dass nicht jeder Fall heilbar sei. Er sagte, dass die Maschinerie manchmal einen Punkt erreiche, an dem es keine Heilungsmöglichkeit mehr gebe. Jeder Patient wurde kostenfrei untersucht und ihm wurde unumwunden mitgeteilt, wenn keine Hoffnung bestand. Dr. Still erklärte Studenten wie auch Patienten stets gleichermaßen, was er tat und warum.36 Er sagte zu seinen Schülern: „Ein intelligenter Kopf wird bald lernen, dass eine zarte Hand und eine sanfte Bewegung die Grundlage eines gewünschten Ergebnisses sind.“ Einer seiner Grundsätze war: „Finde es, bring es in Ordnung und lass es in Ruh.“37
Die Leute kamen scharenweise zu der Klinik. Reich und arm gleichermaßen verlangten danach, Dr. A. T. Still zu sehen. Viele waren mit einem seiner Assistenten nicht zufrieden. Er hatte so viel zu tun, dass er damit anfing, sich jeweils für einige Stunden oder einen Tag davonzustehlen, nur um sich ein wenig Frieden und Ruhe zu verschaffen. Manchmal nahm er den Zug nach Millard, der ersten kleineren Stadt südlich von Kirksville, wo er für einige Tage auf der Farm einiger Freunde blieb. Dort konnte er sich entspannen und an einem der Bücher arbeiten, an denen er schrieb. Während seiner Abwesenheit waren die Hilfesuchenden gezwungen, die Behandlung durch einen seiner Kollegen anzunehmen.
Die Kunde von Dr. Still und der ASO verbreitete sich in den ganzen Vereinigten Staaten. Artikel über ihn und über die Osteopathie erschienen in Zeitungen wie der New York Times oder in Magazinen wie dem Ladies’ Home Journal. Die Saturday Evening Post brachte eine Geschichte von Emerson Hough unter dem Titel „Der Viehtreiber, ein Osteopath und ein schielendes Pferd.“38 Eine der Hauptfiguren des Broadway-Stücks Mrs. Leffingwell’s Boots war ein osteopathischer Arzt.39 Viele bekannte Leute wurden zu Fürsprechern der Osteopathie, darunter George Bernard Shaw,40 Buffalo Bill,41 der Pianist Paderewski,42 Helen Keller,43 Theodore Roosevelt44 und Mark Twain, der dabei behilflich war, den Osteopathen gesetzliche Rechte im Staat New York zu verschaffen.45
Das bisherige Krankenhausgebäude war keine akademisch geführte Klinik, doch wo so viele kranke Leute waren, empfand man die Notwendigkeit nach einem. Eine Entbindungsklinik wurde in einem kleinen Haus ein Block südlich des neuen Gebäudes eingerichtet. Nach kurzer Zeit wurden auch chirurgische Fälle aufgenommen und es erhielt des Namen A. T. Still Surgical Sanitarium. Kleinere chirurgische Eingriffe wurde als eigenes Fach in den Lehrplan aufgenommen. Im Jahr 1897, bereits vier Jahre nach ihrer Entdeckung, wurde ein Apparat mit Röntgenstrahlen installiert; es war die zweite derartige Maschine westlich des Mississippi. Obschon etwas skeptisch angesichts des neuen Apparats erkannte Dr. Still ihr Potential als Diagnoseinstrument.46
ABB. 15: DR. STILL AUF DER MORRIS FARM IN MILLARD BEI DER ARBEIT AN SEINER AUTOBIOGRAFIE
Am 4. März 1897 gewannen die Osteopathen schließlich ihren Kampf um die gesetzliche Anerkennung und erhielten das Recht, in Missouri zu praktizieren. Als das Telegramm mit der Nachricht aus Jefferson City in Kirksville eintraf, marschierten 200 Studenten und Stadtbewohner zum Bahnhof, um die siegreichen Helden Doktor Arthur Hildreth und Doktor Henry Patterson abzuholen. Der Zug, angeführt von der Musikkapelle der ASO, bewegte sich mit Rufen um den Platz: „Rah! Rah! Rah! Missouri hat das Gesetz für A. T. Still verabschiedet.“ Sie zogen weiter zum Haus von Dr. Still und er trat hinaus auf die Veranda, um die Feiernden zu grüßen. Am Samstag, den 6. März, feierte die ganze Stadt. Die Kirchen- und Alarmglocken wurden geläutetet, Waffen wurden abgefeuert, die Geschäfte wurden geschlossen und eine ganze Reihe an Ansprachen gehalten vor einer großen Menge in der Memorial Hall des Krankenhausgebäudes.47
Zur Feier dieses Anlasses nahmen seine Freunde Dr. Still mit zu einem Herrenschneider, wo sie ihm halfen, einen Gehrock mit den entsprechenden Accessoires sowie einen hohen, seidenen Zylinder zu erstehen. Sodann brachten sie ihn zum Fotografen, um ein Portrait anzufertigen, das häufig abgebildet wird. Manche sagen, er habe diesen Aufzug nie wieder getragen. Andere behaupten, dass er den Zylinder einmal in der Stadt getragen habe, auch wenn er ihn unbehaglich fand. Auf dem Weg nach Hause begegnete er Kirksvilles schwarzem Pastor und hielt inne, um mit ihn zu plaudern. Als sie ihre jeweiligen Wege fortsetzten, hatte der Hut den Kopf gewechselt.48
ABB. 16: DAS FOTO MIT HUT WURDE AUFGENOMMEN, UNMITTELBAR NACHDEM DAS PRAKTIZIEREN DER OSTEOPATHIE IN MISSOURI ANERKANNT WORDEN WAR
Eine andere Geschichte wird über das Bild erzählt, auf dem A. T. Still eine Fellmütze und einen Stock trägt. Er war in Chicago zu Besuch bei seinem ehemaligen Schüler Dr. Frank S. Gage und dessen Frau. In Dankbarkeit für deren Gastfreundschaft sagte Dr. Still, er würde Mrs. Gage gern ein Geschenk machen, und bat sie zu wählen, was sie wolle. Sie sagte, sie hätte gern ein Bild von ihm, das seine fähigen Hände zeige. Er posierte für das Bild, ließ es fertigstellen und urheberrechtlich schützen. Er signierte es, ließ es rahmen und überreichte es ihr.49
Bis zur Jahrhundertwende, gerade einmal acht Jahre nach ihrer Gründung, war die ASO herangewachsen zu einer 700-köpfigen Studentenschaft und einem Kollegium von 18 Personen. Viele der Mitglieder des Kollegiums, neben seinen Söhnen, waren ehemalige Studenten, die Dr. Still persönlich auszubilden geholfen hatte. Es hieß, sein diagnostisches Geschick sei bewundernswert, geradezu unheimlich gewesen. Angeblich hat er nie ein Stethoskop benutzt – er nannte es „Schweineschwänzchen“ – oder eine Pinzette – die bezeichnete er als Zangen.50 Er behandelte ausschließlich mit den Händen. Die einzigen Arzneimittel, die er verwendete, waren Gegenmittel für Gifte, Schmerzmittel, Antiseptika und Anästhetika.51 Andere Mitglieder des Kollegiums waren Absolventen berühmter Colleges und Universitäten mit akademischen Graden wie M.D. oder Ph. D. Die waren dabei behilflich, der Schule Respektabilität zu verschaffen, indem sie sie auf eine breitere intellektuelle und wissenschaftliche Basis stellten. Der Lehrplan wurde erweitert, sodass er alle Kurse mit Ausnahme von Großchirurgie und Materia Medica (Pharmakologie) umfasste, wie sie zeitgenössisch an traditionellen Medizinschulen gelehrt wurden. Das verschlafene kleine Städtchen Kirksville hatte sich in eine geschäftige und belebte Stadt verwandelt. Und als sich die Absolventen über das ganze Land verteilten, wurden auch andere osteopathische Colleges gegründet. Irgendwann gab es mehr als 30 davon, doch viele waren kaum mehr als „Diplommühlen.“ Im Jahr 1898 wurden die Associated