nicht. Der Wind heult zu sehr. Und Papa ist nicht da.
In letzter Zeit kommt er sowieso immer so spät nach Hause, sagt Mama. Er trifft sich mit anderen Reiher-Papas zum Wettfischen, wenn die Angler nicht mehr am Teich sind. Wenn er dann heimkommt, riecht er aus dem Hals. Nach Forelle. Sagt Mama.
Warum hört mich denn keiner? Klar! Ich soll ja nicht so laut rumkrächzen. Mama hat uns eingebläut, dass wir den Schnabel halten sollen. Also mache ich nur mal ganz leise „kräck.“ Und noch einmal „kräck.“ Aber besser ist es, ich sage nichts. Mama hat erzählt, im Wald wohnt der Fuchs. Der frisst kleine Reiher. Ich habe Hunger!
Irgendwann muss ich eingedöst sein, denn als ich wieder wach werde, ist es hell. Aber der Sturm orgelt weiter. In den Bäumen kracht’s und mir tun die Knochen von meinem Sturz weh. Mein Kopf brummt und in meinem Bein zwickt’s. Mein Magen ist leer und keine Mama weit und breit. Was soll ich denn jetzt machen? Vielleicht mache ich mich einfach auf den Weg aus dem Wald heraus. Dann kann mich Mama besser sehen. Also hinke und flattere und laufe ich. Aber alles, was ich sehe, sind Häuser von Menschen. Von oben sahen die immer so klein aus. Dann müssen Menschen wohl Riesen sein.
Ich hocke mich an einen Abhang. Mein Bein tut weh. Lange kann ich damit nicht laufen. Hier wächst lauter Grünzeug. Ob man das fressen kann? Mein Magen kullert vor lauter Hunger. Igitt! Das schmeckt ja eklig! Außerdem kann ich mich hier überhaupt nicht festkrallen. Ich benutze meinen langen Schnabel, um mich abzustützen, sonst verliere ich das Gleichgewicht. Aber ich muss aufstehen und weiter humpeln. Hier kann ich nicht bleiben. Aua! Das Grünzeug hält mich fest! Lass mich sofort los!
Endlich habe ich beide Beine frei. O Schreck! Da kommt ein Riese auf mich zu. Mein Herz rast. Wie komisch der aussieht. Er hält sich immerzu ein Kästchen vor die Augen, in dem es „klick“ macht. Wahrscheinlich soll ich ihn nicht erkennen. Dabei gucke ich ihn vor lauter Angst schon gar nicht an! Wenn er noch näher kommt, hacke ich mit dem Schnabel. Mama! Wo bist du? Hilf mir doch!
Ich setze meinen wütendsten Blick auf. Vielleicht hilft der! Warum fragt der Riese nur in einem fort: „Ja, wer bist du denn?“ Wenn ich ihm antworte, versteht er mich doch sowieso nicht! Warum versucht er denn, mich in den Wald zurückzutreiben? Da komme ich doch gerade her! Irgendwann gibt der Riese auf und geht zu seinem Haus zurück. Gott sei Dank.
Humpelnd und flatternd bewege ich mich vorwärts. Aber wohin ich auch gucke: Nur Häuser. Kein Reiher-Papa. Keine Reiher-Mama. Noch nicht mal Emilia. Und kein Fressen …
Irgendwann kann ich nicht mehr. Ich hocke mich unter einen Busch vor einem der Häuser und warte. Einmal meine ich, dass Tante Agathe und Onkel Hugo über mich hinwegfliegen. Ich rufe leise „kräck“. Aber sie hören mich nicht. Wenn ich nicht bald was zu fressen kriege, falle ich um.
Hilfe! Da kommt ein Fuchs! Langsam schleicht er auf mich zu. Aber kampflos kriegt der mich nicht! Komm nur her, du komisches Vieh! Er sieht bloß ganz anders aus, als Mama ihn immer geschildert hat. Dieser hier ist weiß mit schwarzen Flecken und sagt „Miau“. Sicher eine ganz besondere Sorte Fuchs. Ich hacke nach ihm. Ha! Das hat gesessen! Er springt zurück und versucht, mich mit seiner Pfote zu kratzen. Ich hacke hinein. Treffer! Ich humpele ein paar Schritte zur Seite. Der Fuchs schleicht mir nach und will mich von hinten anspringen. Ich drehe mich um. Da ertönt ein lautes „Miez! Miez! Ja, was hast du denn da?“ Ein Riese kommt aus dem Haus. Der Fuchs kann aber auch keine passende Antwort geben. Immerhin läuft er dem Riesen entgegen und lässt mich in Ruhe. Ich würde auch laufen, kann aber nicht. Wie angewurzelt bleibe ich hocken und kneife die Augen zu. Vielleicht sieht mich jetzt keiner. Aber ich spüre, wie der Riese auf mich zukommt. Tu mir nichts! Bitte! Tu mir nichts! Er bleibt vor mir stehen und fragt: „Ja, wer bist du denn?“ Ob Riesen nur diesen einen Satz sagen können? Ich öffne vorsichtig ein Auge, dann das andere. Einer Gefahr muss man mit offenen Augen begegnen, hat Papa immer gesagt.
Der Riese holt eine kleinere Riesin. Sie redet auf mich ein. Ich habe Hunger! Versteht das keiner? Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin hundemüde. Außerdem wird es schon wieder dunkel. Die beiden Riesen packen mich in einen Kasten und bringen mich in das große Haus. Sie haben auch was zu fressen für mich. Freiwillig sperre ich den Schnabel aber trotzdem nicht auf. Schließlich schlucke ich doch, was man mir eintrichtert. Schmeckt komisch, aber besser als nichts.
Eine weitere Nacht ohne Mama und Papa und Emilia. Bevor ich einschlafe, nehme ich mir vor, dass ich in Zukunft ein bisschen freundlicher zu meiner Schwester sein will, wenn ich zurückkomme. Auch wenn sie mir immer das Futter vor dem Schnabel wegschnappt.
Der Kasten, in dem ich schlafen soll, schaukelt zwar nicht wie unser Nest, aber er gefällt mir trotzdem nicht. Die Riesen schreien so laut und der komische Fuchs wohnt bei ihnen. Ich dachte immer, Füchse wohnen nur im Wald. Das muss ich dringend Papa erzählen, wenn ich wieder daheim bin.
Am nächsten Tag setzt man mich auf die Wiese vorm Haus. Und wieder kommen andere Riesen, gucken mich an und sagen: „Ach, du liebe Zeit …“ und „… der arme Kerl …“ Was habe ich davon? Mama! Papa! Wo seid ihr?
Nach einer weiteren Nacht im Kasten wird der plötzlich gepackt und mit mir in ein blechernes Ungetüm verladen. Ich sitze auf dem Boden der Kiste und schlottere vor Angst. Es ist stockdunkel und rumpelt entsetzlich.
Plötzlich wird es blendend hell. Wieder stehen Riesen da, aber ich darf aus der Kiste und mich in hohes Gras hocken. Ich bin ganz wacklig auf den Beinen. Jemand hält mir was zu fressen hin. Aber ich will nicht. Mein Magen revoltiert von all den Aufregungen. Ich würge alles wieder aus. Eine Riesin, die mir auf Anhieb sympathisch ist, versucht, mir was anderen anzubieten. Lasst mich doch einfach in Ruhe! Die, die mich in der Kiste brachten, verschwinden. Es ist ein ewiges Kommen und Gehen. Ich muss hier bleiben. Mir ist auch schon ziemlich alles egal. Schlimmer kann’s nicht mehr werden. Papa, Mama und Ermilia werde ich wohl nicht mehr wiedersehen. Das wird mir erschreckend klar.
Nach einer Woche gewöhne ich mich langsam an mein neues Zuhause. Meine Pflegemama ist aber auch wirklich ganz lieb zu mir. Ich kriege Feines zu futtern und sie krault mich, um festzustellen, ob ich richtig satt bin. Hmmm! Das habe ich gern!
Heute Nachmittag hatte ich sogar Besuch: Die beiden Riesen, die mich hierher gebracht haben. Gott sei Dank wollten sie mich nicht wieder in den Kasten sperren. Eigentlich wollte ich gerade Mittagsschlaf halten. Jedenfalls habe ich unverblümt gegähnt, um ihnen zu zeigen, dass sie recht ungelegen kamen. Aber sie haben nur gelacht und gemeint, ich sähe schon viel wohler aus als vor einigen Tagen.
Meine Pflegemama und ich verstehen uns von Tag zu Tag besser. Sie weiß, dass auch bei Reihern die Liebe durch den Magen geht. Wenn ich sie gelegentlich in den Po zwicke, wenn sie vorübergeht, ist das Ausdruck meiner höchsten Wertschätzung. Ich hoffe, sie erkennt das an.
Ich bin hier auch gar nicht allein. Meine Pflegemama hat noch einen Turmfalken, der offenbar geheilt ist. Eines Tages ist er aus seiner Voliere verschwunden, aber die Tür zu seiner Behausung steht offen. Ich habe mir die Villa mal angesehen und fand sie recht passabel und wie für mich gemacht. Ab sofort war das mein Nest.
Abends fing es wieder an zu stürmen und zu regnen. Die ganze Welt war rabenschwarz. Ich hasse dieses Wetter! Damit fing doch auch mein ganzes Unglück an! Seitdem habe ich ein Sturm- und Regentrauma. Aber ich wusste mir zu helfen. Ich spazierte zu meiner Pflegemama an die Terrassentür und klopfte. An der Frau ist wirklich ein Reiher verloren gegangen! Sie verstand mich sofort und ich durfte in ein großes Holzhaus umziehen, in dem ich schon vorher einige Tage zubrachte. Kaum hatte ich’s mir da bequem gemacht, kam eine dieser schrecklichen Windböen und warf die Voliere um. Wäre ich nun noch drinnen gewesen … Nicht auszudenken! Am anderen Morgen hat meine Pflegemama gesagt, ich wäre ein kluger Vogel. Das weiß ich schon lange.
Vor einigen Tagen hatten Blaumeisenkinder bei meiner Pflegemama im Garten Flugunterricht. Die stellen sich vielleicht ungeschickt an! Na gut, bei mir klappt das auch noch nicht so ganz, aber ich arbeite daran.
Meine Pflegemama sagt, ich wäre jetzt schon vier Wochen bei Ihr. Leider habe ich total vergessen, für jeden hier verbrachten Tag einen Strich an die Wand in meiner Holzvilla zu malen. Aber ist auch egal. Papa und Mama haben sich nicht mehr blicken lassen und langsam weiß ich schon gar nicht mehr, wie sie aussehen.