Traudel Schmidt

Rette mich wer kann!


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fummelt auch keiner dran rum. Das wird schon wieder. Ein Reiher kennt keinen Schmerz. Meine Flügelfedern wachsen auch langsam wieder nach. Es braucht alles seine Zeit.

      Warum nur meint meine Pflegemama, ich wäre ein bisschen langsam? Insgesamt gesehen. Na, das liegt doch in meinen Genen! Wie das wohl aussähe, wenn ich wie ein Kolibri hin- und herschwirren würde! Meine richtige Mama hat immer gesagt, dass man sich immer langsam anpirschen muss, um dann stundenlang auf einem Fleck zu verharren. Und dann im richtigen Augenblick – zack! – zupacken. Prompt hat man den Fisch. Ich hab’s zwar noch nicht ausprobiert, aber das wird schon so richtig sein. Aber wie soll man das einem Menschen klar machen!

      Immerhin habe ich jetzt schon eine wichtige Aufgabe: Ich bin Wach- und Schließgesellschafter. Wenn meine Pflegemama nicht da ist, passe ich aufs Haus auf. Gaaaanz langsam und würdevoll schreite ich dann das Terrain ab und gucke, ob auch alle Fenster zu und die Türen geschlossen sind. Wenn nicht, kann ich’s auch nicht ändern. Wenn Fremde kommen, ziehe ich mich allerdings lieber in meine Holzvilla zurück. Wer weiß, was die im Schilde führen. Aber sonst bin ich ein guter Aufpasser. Meine Pflegemama hat bisher noch keinen Grund zum Klagen gehabt.

      Gelegentlich mault sie aber doch. Ich habe mir nämlich die Terrassentür als Schlafplatz ausgesucht. Der hat sich gut bewährt, als es so stürmte und ich Bescheid sagen musste, weil die Voliere wackelte und später umkippte. Jetzt möchte ich lieber gleich in der Nähe meiner Pflegemama sein, falls wieder ein Sturm kommt. Das kann man mir doch nicht verdenken!

      Weil sie mich aber so gut verpflegt, hinterlasse ich auch etliche reiherliche Stoffwechsel-Endprodukte. Habe ich doch bei Papa und Mama auch so gemacht! Deswegen so ein Trara zu machen! Verstehe ich nicht. Meine Pflegemama putzt meinen Schlafplatz immer wieder schön sauber. Dann macht es hinterher noch mal so viel Spaß, ihn mit weißen Klecksen zu verzieren! (Das darf sie aber nicht wissen. Sonst meint sie noch, ich will sie ärgern.)

      Jetzt habe ich sogar eine Freundin. Na ja, so richtig vielleicht nicht, aber wir können uns wenigstens miteinander unterhalten. So von Vogel zu Vogel. Else heißt sie, Else Elster. Seit Tagen hockte sie immer im Kirschbaum und hat mich mit schief gelegtem Kopf beobachtet.

      „Wie heißt du?”, krächzte sie plötzlich.

      „Emil Reiher!”, antwortete ich.

      Statt sich selbst vorzustellen, kriegte sie einen Lachanfall.

      „Reiher?”, kicherte sie immer und immer wieder. „Das sind doch diese Stinklangweiler, die stundenlang am Ufer vom Teich stehen, bis sie was zu fressen finden! So einer bist du?” Und wieder gackerte sie laut. Da hat’s mir aber gelangt!

      „Du hast ja keine Ahnung!”, fauchte ich sie an. „Das muss man machen, wenn man sich einen leckeren Fisch fangen will! Ich möchte nicht wissen, wie lange du dazu brauchen würdest! Du mit deinem kurzen Schnabel!”

      Jetzt hatte ich es ihr aber gegeben!

      Else kriegte schon wieder einen Lachkrampf. Sie erzählte mir, dass sie gar nicht fischt, sondern so ziemlich alles frisst, was ihr in die Quere kommt. Igitt!

      „Warum stolzierst du denn hier herum und fliegst nicht zum Teich?”, fragte sie neugierig. Da hatte sie natürlich meinem wunden Punkt erwischt. Als ich ihr aber von meinen Abenteuern mit den Menschen erzählte, wurde sogar sie recht schweigsam.

      „Da hast du ja schon allerlei erlebt, kleiner Kerl!”, meinte sie zum Schluss unserer Unterhaltung. Sie spreizte ihre Flügel und flog davon.

      Ich will auch fliegen können. Ob ich mal meine Pflegemama frage, wie ich das anstellen soll? Aber ich habe sie noch nie fliegen sehen. Menschen können das vielleicht überhaupt nicht. Aber ich will mich nicht noch mal vor Else blamieren. Heute Abend in der Dämmerung werde ich Fliegen üben, wenn’s keiner sieht.

      Ich habe festgestellt, dass beim Fliegen Start und Landung das Schwierigste zu sein scheint. Erst muss man die Flügel ausbreiten, damit man hoch kommt und hinterher braucht man sie wieder zum Abbremsen, damit man nicht auf die Erde plumpst. Am besten ist es, ich lande auf einem Baum. Aber dicke Zweige muss er haben, sonst biegen sie sich durch und ich rutsche ab und muss flattern, um das Gleichgewicht halten zu können. Schließlich bin ich inzwischen ein schwerer Junge. Aber wenn ich richtig fliegen kann, finde ich vielleicht Papa und Mama wieder. Oder Emilia. Ich suche sie einfach.

      Else hat gesehen, dass ich Fliegen geübt habe. Sie ist ein Stück mitgeflogen und hat mich hinterher gelobt. Das will was heißen! Wenn meine Pflegemama von der Arbeit kommt, stehe ich natürlich daheim an der Terrassentür. Sie muss ja nicht wissen, was ich vorhabe. Vielleicht ist sie dann traurig, weil ich weg will.

      Jeden Tag fliege ich ein Stückchen weiter. Heute sogar bis zum Kirschbaum im Feld und wieder zurück. Die Welt sieht toll von oben aus! Die Häuser sind ganz klein! Und die Menschen erst!

      Ich habe mir vorgenommen, morgen ganz weit zu fliegen. Else hat versprochen, mich ein Stück weit zu begleiten. Sie will mir die Richtung zeigen, damit ich Papa, Mama und Emilia wiederfinde. Ich mache mich einfach davon, wenn’s keiner merkt. Dann fällt der Abschied nicht so schwer. Vielleicht komme ich ja doch noch mal wieder.

      Nachsatz:

      Emil kam nicht zurück. Seine Pflegemama trauerte ihm ein paar Tage nach, war aber trotzdem glücklich, dass er ganz allein seinen Weg in die große weite Welt gefunden hatte.

      Ein Jahr später saß einer der sonst so scheuen Vögel stets in der Nähe der Häuser auf einem Dach und hielt Ausschau. Ob es Emil war? Wer weiß …

      IM WARTEZIMMER

      Schon beim Betreten des Raumes spüre ich die kritischen Blicke der lieben Mitwartenden. Sie durchbohren mich förmlich. Auf meinen halblauten Gruß hin erhebt sich allgemeines Gemurmel. Ich kann es sowohl als „Guten Tag“ aber auch als „Geh zum Teufel“ interpretieren.

      Ich angele nach einer gut gebrauchten Illustrierten vom Tisch, um mich möglichst unauffällig über deren Rand hinweg zu vergewissern, wie viele Leidensgenossen ich noch durchzulassen habe, ehe ich den Quell des Heils – das Sprechzimmer des Arztes – erreiche. Vorläufig haben nämlich die Götter das Warten vor das Ziel gesetzt. Und trotz Termin kommen seltsamerweise immer andere vor einem dran. Zwei Klassen-Medizin: Ich bin Zweitklässler.

      In der ergatterten Zeitung strahlen mir trotz eisiger Außentemperaturen süße Bikinimädchen entgegen. Ich forsche leicht irritiert nach dem Datum des Blättchens: Na klar! Vom letzten Sommer. Jaja, der Onkel Doktor kann sich auch nicht ständig neue Zeitungen leisten.

      Zwischenzeitlich zähle ich diskret die Vorzulassenden. Elf. Für jeden eine Viertelstunde sind hochgerechnet 11 Viertel, also rund drei Stunden plus/minus etwas. Bis dahin kann ich das Blättchen auswendig.

      Ich schaue mir die Mitwartenden genauer an. Da ist zunächst die Dame undefinierbaren Alters. Kluge Augen hinter getönter Brille. Lehrerin? Sie hat sich ihren eigenen Lesestoff mitgebracht. Intellektuellen, versteht sich. Recht hat sie.

      Daneben ein Herr, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ephraim Kishon hat. Ständig dreht er an seinem Ehering. Erklärlich, seine bessere Hälfte, die auf den nächsten anderthalb Plätzen thront, erdrückt den Ärmsten fast. Sie versucht, ihn über Diät-Rezepte aufzuklären, die sie gerade in einem der anderen zerfledderten Blättchen fand. Aber Männe mag keine Rezepte hören. Er starrt lieber auf seine Hände und dreht und dreht. Vielleicht ist er Dreher von Beruf?

      Als nächster ist wohl der Dürre mit den Spinnenfingern an der Reihe. Mutti hat ihn richtig herausgeputzt für den Onkel Doktor. Sie ist auch lieber gleich selbst mitgekommen. Irgendetwas scheint sie aber an seiner Garderobe übersehen zu haben: Auf seiner Hose befindet sich offensichtlich ein Staubkörnchen oder ein unsichtbares Fädchen. Es erregt den Unwillen des Trägers. Ständig ist er bemüht, etwas abzuklopfen oder abzuzupfen. Mutti versucht inzwischen nach Art der Weitsichtigen, Zeitung zu lesen, so weit ihre Arme reichen.

      Dann ist da noch der junge Fußball-Fan. Sein T-Shirt dokumentiert, zu welchem Club er sich hingezogen fühlt. Hin und wieder unternimmt er den Versuch, gewaltsam