Physiklehrer Kadir Hodscha, der bei jeder Frage der Schüler die Augen ganz groß aufriss. Ali machte ihn nach, indem auch er die Augen ganz weit aufriss. Mehmet konnte sich nicht mehr einkriegen vor lauter Lachen. Sie verabschiedeten sich langsam. Trotz der späten Stunde pulsierte in den Straßen noch das volle Leben. Mehmet entschied sich, nach Hause zu laufen, und schob sich durch die Menschenmenge. Als er ankam, sah er Sahin Hodscha wie so oft in der Bibliothek in seinem Sessel schlafen, umringt von Büchern. Er ging zu ihm, deckte ihn zu und löschte die Kerzen in den Zimmern.
LIEBESGESCHICHTE AUF DEM MARKT TAKSIM
Sahin Hodscha und Mehmet fuhren mit der Kutsche nach Taksim, um eine der ältesten Bibliotheken der Welt aufzusuchen. Während der Fahrt auf einer sehr belebten Straße entdeckten sie nicht nur mannigfaltige Lebensmittel, die feilgeboten wurden, sondern auch äußerst elegant gekleidete Menschen. Wenn die Frauen außer Haus gingen, so trugen sie – ebenso wie die Männer – anstelle eines Mantels ein Bekleidungsstück, dessen Ärmel so lang waren, dass nur die Fingerspitzen hervorguckten. Auf der Straße wird eine Seite dieses Kleidungsstückes gehalten und – über das Vorderteil greifend – die andere Seite gehalten. Die Haare steckten unter einem weißen Tuch, das den Kopf und die Stirn verdecken sollte. Darüber lag ein weiterer Stoff, der die Nase bedeckte. Als Zeichen von Wohlstand trugen manche Damen einen Schirm als Schmuck. Die vornehmen Damen waren berühmt für ihre prachtvolle Erscheinung und ihren exquisiten Schmuck. An Gürteln, Kopfschmuck, Halsketten, Ohrgehängen, Armbändern und Fußreifen aus Gold und Silber glänzten Juwelen und Perlen. Der Gebrauch von Schminke war allgemein üblich. Ihren Teint hellten die Osmaninnen mit weißer Mandel- und Jasminpaste auf. Mit schwarzem Kohl betonten die Frauen Augen, Brauen und Wimpern, auch die Lippen schminkten sie mit roter Farbe. Außerdem parfümierten sie sich mit Duftessenzen aus Moschus, Aloe, Ambra, Sandelholz, Rose und Zimt. Älteren Frauen stand es frei, die Nase offen zu zeigen. Ganz so streng sah man dies allerdings nicht, solange man es nicht übertrieb und man sich nach den islamischen Regeln richtete. Istanbul galt als eine moderne und tolerante muslimische Stadt.
Sahin Hodscha und Mehmet suchten bereits zwei Stunden in der Bibliothek nach irgendwelchen alten Dokumenten der Familie Vlad II über die Gefangenschaft Draculas Vlad Tepes als Faustpfand beim Sultan. Sowie nach Aufzeichnungen aus dem Sultanat. Mehmet langweilte sich, deshalb schickte Sahin Hodscha ihn hinaus, um eine Kleinigkeit zu essen zu holen. Mehmet lief erleichtert auf die von Menschenmassen überfüllte Straße. An jeder Ecke gab es etwas zu entdecken: Schlangenbeschwörer und Gurus aus Indien, Artisten aus China, Bären und Jongleure aus Bulgarien, Hellseherinnen aus Rumänien, Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen aus dem Westen, Amerikaner mit Cowboyhüten. Mehmet staunte, wie rasant sich Istanbul veränderte. Er freute sich darüber, alles war so aufregend und neu. Inmitten der vielen Gestalten sah Mehmet plötzlich in die schönsten rehbraunen Augen, die er je gesehen hatte. Sie gehörten einer adligen Tochter eines Kalifen, die mit einigem Gefolge und Wachen durch die Stadt flanierte. Auch sie erblickte Mehmet, ging in seine Richtung und ließ ihr Tuch vor seine Füße fallen. Die Geste bedeutete, dass sie ihn treffen wollte, um ihr Gesicht zu zeigen – für Mehmet ein bedeutsamer Fingerzeig. Sie schritt in den Gülbahcesi, den Rosenpark, und Mehmet lief aufgeregt hinterher. Begegnungen solcher Art waren zwar gestattet, durften aber nicht zu offensichtlich ausfallen. Man unterhielt sich leise und benahm sich unauffällig. Die junge Dame wartete hinter einem ausladenden Baum auf einer Sitzbank. Sie schickte ihr Gefolge weg mit den Worten, dass sie gleich wiederkommen sollten.
»Mmmein Nammme ist Mmmmehmet«, stotterte er.
»Ich heiße Lale«, erwiderte das Mädchen lächelnd und nahm ihren Schleier ab, was eigentlich auf die Schnelle so nicht üblich war. Mehmet erstarrte vor ihrer Schönheit, für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Er war sprachlos, dementsprechend zurückhaltend.
Sie fand seine Schüchternheit liebenswert und fing ein Gespräch mit ihm an. Sie erzählte, dass sie die jüngste Tochter des Kalifen Murad aus Konya und die Nichte der Gemahlin des Sultans sei. Ihre älteste Schwester stehe vor der Heirat mit dem Prinzen und sie selbst werde fortan in Istanbul leben im Palast des Sultans. Mehmet beobachtete sie und hörte nur zu, so sehr war er angetan von ihrem Liebreiz. Sie bemerkte dies und lächelte ihn herzlich an. Als Mehmet etwas sagen wollte, riefen ihre Gefolgsleute Lale zu sich. Sie verabschiedete sich.
»Wann sehe ich dich wieder?«, fragte der frisch Verliebte.
»Nach der Hochzeit in fünf Tagen. Genau hier um die gleiche Zeit.«
»Ich werde da sein.« Mehmet war überglücklich vor Freude, und als er ihr das in Rosenöl getauchte Tuch zurückgeben wollte, sagte Lale: »Nein, behalte es, es ist ein Geschenk an dich, damit du mich nicht vergisst und immer an mich denkst.«
Mehmet stand noch verträumt eine Weile vor dem ausladenden Baum und nahm ein Zug des Duftes, der dem Tuch anhaftete. Er dachte in dem Moment, dass er mit Lale im Paradies sei.
Als Mehmet endlich mit dem Essen in der Bibliothek ankam, war Sahin Hodscha aufgebracht und sprach mit lauter Stimme: »Wo warst du so lange und warum grinst du so dämlich? Ich verhungere und wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, du Dummkopf! Was soll ich bloß mit dir machen?«
Mehmet erreichten die Worte seines Onkels nicht, er dachte nur an Lale. Es dämmerte bereits und er blickte in die Nacht zu den ersten Sternen, die sich zeigten. Nur war es diesmal anders, er empfand die Schönheit der Natur intensiver, die Sterne funkelten viel klarer, der Mond schien viel größer zu sein und die Meeresluft roch frischer als sonst. Vor allem aber spürte er ein seltsames, wohliges Kribbeln im Bauch. Sahin Hodscha grübelte währenddessen ununterbrochen. Nervosität und Angst standen ihm ins Gesicht geschrieben. Die beiden Männer verarbeiteten noch weiter bis zum Morgengrauen die Hölzer zu spitzen Pfählen.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür und Sahin Hodscha öffnete. Vor ihm stand Kamil Pascha, sein jüngerer Bruder. Dieser bekleidete das Amt des Obergenerals der osmanischen Marine. Er war Anfang Fünfzig, hatte ernste Gesichtszüge und trug einen dicken Schnurrbart. Er hatte für die damalige Zeit eine durchschnittliche Größe, war sehr stämmig und kräftig gebaut. Er war ein frommer, nationalistisch geprägter und mutiger Mann. Für ihn zählte zuerst der Glaube, dann kam die Armee und erst an dritter Stelle folgte die Familie, weswegen er nie eine eigene Familie gründen konnte. Es gab nur kurzweilige Beziehungen, aber nie etwas Ernstes. Er hatte in vielen Kriegen gekämpft, war in Izmir stationiert und galt als Respektsperson durch und durch. Weilte er in Istanbul, besuchte er so oft er konnte seinen Bruder und seinen Neffen. Als Familienmensch trat er komplett anders auf, dann gab er sich als Lebemann, der gerne lachte. Er hatte ein markantes sehr auffälliges, tiefes lautes Lachen. Mehmet liebte und bewunderte ihn und fühlte sich wohl in seiner Nähe. Kamil Pascha ging hoch in das Zimmer, öffnete langsam die Tür, rief seinen Neffen mit einem Weckschrei aus der Marine wach: »Steh auf und mach dich bereit, auf Deck zu gehen, Soldat!« Mehmet schreckte hoch mit aufgerissenen Augen und wusste nicht, wie ihm geschah. Langsam begriff er, dass sein Onkel vor ihm stand. Es kam ihm gelegen, einen dermaßen tapferen Mann an seiner Seite zu wissen, nach all dem, was in den letzten Tagen geschehen war. Mehmet umarmte seinen Onkel fest, wollte diesen wie ein kleiner verängstigter Junge nicht mehr loslassen. Kamil Pascha lachte und war überrascht, auf diese Art empfangen zu werden.
»Was ist los? Wie kommt es, dass du mich so umarmst, kleiner Neffe?«, fragte er Mehmet.
»Nichts Onkel, ich bin nur froh, dass du da bist.«
Gemeinsam gingen sie nach unten, wo Sahin Hodscha sie am gedeckten Frühstückstisch erwartete. Es gab gekochte Eier, frisch geschnittene Tomaten, Gurken aus der Region mit Schafskäse und türkischem Tee – ein landestypisches Frühstück. Mehmet holte noch etwas Holz vom Hof und Wasser aus dem Brunnen. Kamil Pascha setzte sich zu seinem Bruder und erklärte, dass er nur einen Tag bleiben könne. Er müsse am nächsten Morgen nach Ankara reisen, um an einer Sitzung der Kommandeure und Paschas teilzunehmen. Während des Frühstücks erzählte er von seinen Abenteuern zu Land und auf dem Wasser, auf welche Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben er traf aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Er reiste um die ganze Welt, kannte ferne Länder und hatte den Indischen Ozean, den Pazifik und den Atlantik befahren. Sie verbrachten den Tag mit Erzählungen