der letzten Zeit, bis Kamil seinen Bruder abends fragte, ob er immer noch an diesen Dracula und an fliegende Menschen glaube und er Mehmet auch angesteckt habe. Sahin Hodscha blickte seinen Neffen beschwörend an, damit dieser unter keinen Umständen etwas preisgab. Der Junge ließ sich nichts anmerken, wünschte den beiden eine Gute Nacht und begab sich in sein Zimmer. Er legte sich hin, fand aber lange keinen Schlaf und grübelte, bis er schließlich einschlummerte. Die beiden Brüder unterhielten sich noch eine Weile, bevor sie auch zu Bett gingen.
Am nächsten Morgen stand eine Kutsche für Kamil Pascha bereit. Dieser verabschiedete sich von seinem Bruder und seinem Neffen mit den Worten, dass er in ein paar Wochen zurückkomme und für eine Weile bei ihnen wohnen werde. Der General, der nie geheiratet, sondern sein komplettes Leben dem Land, der Armee und dem Meer gewidmet hatte, stand kurz vor der Pensionierung und verfügte über genügend Zeit für einen weiteren Besuch. Der Abschied fiel sehr herzlich aus. Nachdem Sahin Hodscha und Mehmet in das Haus zurückgekehrt waren, klopfte es an der Tür. Der Postbote des Sultans brachte eine Einladung zur Vermählung des Prinzen Mustafa mit Aysenur, der ältesten Tochter des Kalifen aus Konya. Die Hochzeit sollte in zwei Tagen stattfinden. Solche Anlässe wurden im Land erst kurz zuvor bekannt gegeben, denn wenn man feierte und abgelenkt war, bot man Feinden ein Ziel, dann war man verwundbar. Im Inneren des Landes hatte der Sultan die meisten und gefährlichsten Feinde, die ihm gegenüber feindlich gesinnt waren. Aus aller Herren Länder waren bedeutsame Persönlichkeiten in den Palast des Sultans eingeladen worden. Natürlich wurden sie vor Wochen benachrichtigt mit Telegrammen oder auf die altbewährte Art – mit der Taubenpost: Scheichs aus dem arabischen Raum, Saudi-Arabien, Iran, Irak, Ägypten, Kaiser und Könige aus Deutschland, Ungarn, Österreich, Russland, Frankreich, Stammesführer aus Afrika, sogar der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und die First Lady reisten an.
DIE VERMÄHLUNG DES PRINZEN MUSTAFA MIT AYSENUR, DER TOCHTER DES GROßKALIFEN
24. März 1853. Inzwischen wusste jeder Bescheid, und alles, was Rang und Namen hatte, war selbstverständlich zur Hochzeit, die im großen Saal des Palastes gefeiert werden sollte, eingeladen worden. Der anderthalb Kilometer lange Weg zum Schlosstor war mit einem roten Teppich, auf dem sich Rosenblätter befanden, ausgelegt. Alle zwei Meter erhellten Feuerfackeln den Pfad und an den Seiten erfreuten Feuerspucker, Elefanten, Affen und Löwen die auflaufende Prominenz. Soldaten, die das Geschehen überwachten, waren ebenfalls postiert worden, da man Angst vor Anschlägen hatte. Die Gäste aus dem Ausland wurden mit Kutschen vom Hafen abgeholt und zum Palast gebracht. Der Sultan gab auch den ärmeren Bürgern etwas zu essen und zu trinken. Es herrschte Feierstimmung und überall winkten glückliche Menschen. Mehmet und Sahin Hodscha fuhren ebenfalls mit der Kutsche vor und zeigten ihre Einladung, denn ohne diese kam niemand hinein. Gleich, ob Kaiser oder König, jeder benötigte ein Einladungsschreiben. Als sie durch das Tor traten, kam Mehmet aus dem Staunen nicht mehr heraus. So etwas hatte er noch nie gesehen.
»Mach deinen Mund zu!«, flüsterte Sahin Hodscha ihm beschämt zu, aber Mehmet achtete nicht darauf, schließlich weilte er, ein junger Mann aus bescheidenen Verhältnissen, zwischen all diesen Blaublütigen. Als sie den Palast erreichten, erwartete sie ein Meer von Kronleuchtern in einem riesigen Tanzsaal. Überall standen Diener in grünen, einheitlichen Uniformen mit Tabletts, die die Gäste mit Getränken und Früchten bedienten. Mehmet hielt Ausschau nach Lale. Er wusste ja, dass sie auch auf der Hochzeit verweilte. Viele alte Freunde und Weggefährten von früher begrüßten Sahin Hodscha herzlich. Mehmet entfernte sich, um Lale zu suchen, da packte sein Onkel ihn am Arm.
»Bau bloß keinen Mist und erzähl niemandem etwas!«
»Klar, werde schon nichts machen«, sagte Mehmet genervt.
In diesem Moment läutete der Wesir die Glocke und kündigte die Ankunft des Sultans an. Alle Augen waren auf den machtvollsten Mann des Landes gerichtet. Der Sultan trug den Staatspelz, genannt Kapaniça, ein weiter Mantel aus Gold- und Silberbrokat (Seraser). Er war mit einem schwarzen Fuchspelz ausgeschlagen, welcher entlang des Saumes und am Kragen eine breite Bordüre bildete. Edelsteinbesatz zierte die Verschlüsse des Staatsgewandes. Prinz Mustafa war in Weiß gekleidet und trug einen mit Edelsteinen geschmückten Gürtel. Seine Braut war in Rot gekleidet, das Kleid verziert mit Gold und Juwelen. Der Sultan setzte sich auf seinen Thron, direkt neben ihm das Paar. Die Familienangehörigen nahmen an einem riesengroßen Tisch Platz, darunter auch Lale, die jüngste Schwester der Braut. Die übrigen Gäste saßen unterteilt nach Rang und Höhe: Könige links vom Sultan, die Politiker rechts von ihm, es folgten vermögende Geschäftsleute, und auch Sahin Hodscha saß in unmittelbarer Nähe.
»Lasst die Feier beginnen!«, rief der Sultan erfreut und alle klatschten.
Nach dem Festmahl erblickte Lale Mehmet und war erstaunt, ihn hier anzutreffen. Mehmet nickte mit dem Kopf und gab ihr ein Zeichen Richtung Park, woraufhin sie bei ihren Eltern und dem Sultan um Entschuldigung bat, denn sie wolle ein wenig frische Luft schnappen. Der Palast verfügte über einen Garten, wie es ihn kein zweites Mal auf der Welt gab. Er beherbergte etwa zweitausendfünfhundert verschiedene natürlich vorkommende Pflanzenarten und stellte zusammen mit der Provinz und der Stadt Istanbul, deren Gesamtfläche nur rund fünftausend Quadratkilometer betrug, ganze europäische Länder, wie das Vereinigte Königreich, in den Schatten. Istanbul alleine beherbergte etwa ein Viertel von mehr als zehntausend dokumentierten Pflanzenarten, die in der Türkei vorkamen. Einige dieser Pflanzen waren endemisch, kamen also nur an diesem Ort vor. Die Hälfte dieser Blumenarten wuchsen in der Anlage dieses Palastes, den man das kleine Paradies, oder auch den Garten Eden nannte.
»Was machst du denn hier? Verfolgst du mich etwa?«, fragte Lale überrascht.
»Nein«, erwiderte Mehmet, »wir sind eingeladen. Wir arbeiten für den Sultan, eher gesagt mein Onkel.«
»Wieso hast du mir das nicht schon bei unserem ersten Treffen erzählt?«, fragte Lala. »Du steckst ja voller Überraschungen!«
»Wir hatten ja nicht viel Zeit zum Reden. Deine Aufpasserin saß mir im Nacken, und ich dachte, sie dreht mir gleich den Hals um. Sie ist zum Fürchten.« Mehmet witzelte und Lale lachte herzlich.
»Sie guckt jeden so streng an, der mir zu nahe kommt, sie will mich doch nur beschützen. Sie ist zugleich meine Ziehmutter, und ich liebe sie auch deswegen wie eine leibliche Mutter. Meine eigenen Eltern hatten kaum Zeit für mich. Mein Vater ist ein wichtiger Mann und ständig auf Reisen. Uns hat er nie mitgenommen, weil wir Mädchen waren, es gehörte sich nicht. Ich weiß, dass er sich immer einen Sohn gewünscht hat. Du weißt doch, wie das ist, der Familienname muss erhalten werden.«
Sie liefen eine Weile durch den nach Rosen und Lavendel duftenden Garten und sprachen noch über alles Mögliche. Plötzlich blieb Mehmet stehen, beugte sich vor und pflückte vorsichtig eine Blüte.
»Das ist eine Lale. Diese Blume trägt deinen Namen und sie ist wunderschön, genau wie du.«
Lale errötete nahm die Blume und bedankte sich schüchtern.
»Mir gefällt es hier. Es ist nicht so langweilig wie in Konya und erst die vielen Menschen aus unterschiedlichen Ländern! Es ist alles so aufregend! Du musst mir unbedingt ganz Istanbul zeigen«, sagte sie.
»Klar, das mache ich liebend gern. Ich werde dir die Schönheit und Pracht dieser Stadt zeigen.«
»Ich muss jetzt wieder hineingehen. Treffen wir uns übermorgen wie verabredet?«
»Natürlich!«, antwortete Mehmet voller Glückseligkeit.
Die Feier war auf dem Höhepunkt, die Leute tanzten, tranken und aßen. Der Sultan rief Mehmet und Sahin Hodscha zu sich an den Tisch und bestellte die beiden für den kommenden Tag gegen Mittag in die Sommerresidenz auf der Prinzeninsel. Mehmet und Lale konnten unterdessen die Augen nicht voneinander lassen. Sahin Hodscha und dem Sultan blieben deren verliebte Blicke nicht unverborgen. Der Sultan schmunzelte und Sahin Hodscha zwickte seinen Neffen am Arm.
»Bist du wahnsinnig? Willst du, dass unsere Köpfe rollen?«, flüsterte er und zog ihn beiseite, um ihm eine Standpauke zu halten. »Du darfst mit so einer Frau nichts anfangen, geschweige denn daran Denken. Wir