Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland
das alte Regime unter dem Kurfürsten Erthal als Despotismus zu entlarven und die Grundsätze und Vorzüge der Demokratie zu erklären. Hinzu kamen symbolische Aktionen wie das Setzen eines Freiheitsbaumes am 3. November 1792, mit dem der Klub an die volkstümliche Festkultur, das Maibaumsetzen, anknüpfte, oder wie eben auch die Idee mit dem roten und dem schwarzen Buch. Böhmer hatte sie dem Klub vorgeschlagen: Custine habe die Mainzer ja aufgefordert, sich zu erklären, „ob sie lieber freie Menschen oder Sklaven sein“ wollten. Mit der Unterschriftenaktion wollte Böhmer die Entscheidung der Mainzer befördern, damit „der Bürger Custine weiß, wie er daran ist“.28
Abb. 11a u. b: Ausschnitte aus der Ankündigung des Jakobinerklubs in der Mainzer Nationalzeitung Nr. 176 vom 7. November 1792, ein rotes und ein schwarzes Buch zur Unterschrift auszulegen.
Die Erwartungen an die Aktionen waren hoch: Wenn das rote Buch mit Unterschriften voll sein würde, dann, so erhoffte man sich, könne man noch für 1792 vom ersten Jahre der Mainzer Republik reden.29 Immerhin trugen sich, glaubt man einem Briefzeugnis, 1.50030, nach einer anderen Quelle, einem für den Kurfürsten bestimmten Spitzelbericht,31 1.200 Bürger in das rote Buch ein: Das war ungefähr ein Viertel der stimmberechtigten Bürgerschaft.32 Darunter waren viele Zunftbürger, weil die Präambel des roten Buches bis auf Weiteres die Beibehaltung der Zunftverfassung garantierte. Mit diesem taktischen Zugeständnis hatten die Jakobiner die Bürger geködert. Das schwarze Buch blieb, wie zu erwarten, anscheinend leer33 bzw. fast leer: Nach der bereits erwähnten kurfürstlichen Quelle sollen sich zumindest vier, allerdings nicht mit Namen genannte Bürger getraut haben zu unterschreiben.34 Der moralische Druck war enorm: Insbesondere von den Mitgliedern der Verwaltung wurde das Bekenntnis zur französischen Verfassung erwartet, galt dieses doch gleichzeitig als Loyalitätsbeweis. Wer sich weigerte, wie das Mitglied der Allgemeinen Administration, der bereits erwähnte ehemalige kurfürstliche Hofrat Johann Georg Reuter, musste sich gefallen lassen, öffentlich als „Despotenknecht“ bloßgestellt zu werden.35 Reuter verteidigte jedoch seine Entscheidung in einer Druckschrift und stellte prinzipiell die Frage nach der verfassungsrechtlichen Stellung des Klubs: Das rote Buch sei nur „das Werk einer Privatgesellschaft“ und entbehre daher jeglicher offiziellen Sanktionierung.36
In der Tat stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei dem roten und schwarzen Buch um eine obrigkeitliche Veranstaltung handelte. Die Grenzen waren schon allein dadurch unscharf, dass einige führende Klubmitglieder von Custine in die neuen Zivilverwaltungen berufen worden waren und von daher auch amtliche Befugnisse besaßen. In seinen Statuten hatte der Club aber eigens festgeschrieben, dass er keine öffentliche Gewalt sein und nur eine beratschlagende Funktion haben sollte: Gänzlich vermeiden wollte man, so wörtlich, „das Ansehen eines Staats im Staate“.37 Bis zu welchem Maß der Klub auf das Handeln und Denken der Bürger Einfluss nehmen dürfe, war Mitte November ausdiskutiert worden: Dabei ging es um den Vorschlag der beiden „Hardliner“ Metternich und Wedekind, Spitzel einzusetzen, um mögliche, im Stillen geschmiedete Komplotte gegen die „guten Absichten“ des Klubs rechtzeitig zu entdecken. Doch die Klubmehrheit hatte diese Überwachungsmaßnahme als „Einführung einer Staatsinquisition“ abgelehnt; die Maßnahme würde den Klub den Bürgern nur „gehässig“ machen.38 Gegen Reuters Argument von der Privatgesellschaft konnte man daher nichts einwenden. Deswegen bat der Klub Anfang Dezember Custine um eine amtliche Autorisierung der mittlerweile ins Stocken geratenen Unterschriftenaktion: Custine verweigerte diese jedoch. Ohne seinen Segen war die Fortführung der Aktion sinnlos geworden, sodass das rote und das schwarze Buch im Lauf des Dezembers stillschweigend vom Klub eingezogen wurden. Dass beide Bücher verlorengegangen bzw. vernichtet worden sind, verwundert nicht: Denn weder der Klub noch diejenigen, die unterschrieben hatten, konnten an einer Überlieferung Interesse haben.
Der misslungene Versuch, mit dem roten Buch eine Art Volksabstimmung durchzuführen, markierte den Beginn einer Krise des Klubs, die Anfang Januar 1793 ihren Höhepunkt erreichen sollte. Davon zeugen noch herausgeschnittene Seiten in den beiden Klubprotokollen (Abb. 12). Die Beseitigung der Aufzeichnungen über die Sitzungen vom 10. und 11. Januar 1793 hat jedoch nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt: Briefe von zwei Jakobinern und einem interessierten Gast, die als Augenzeugen an den Sitzungen teilnahmen,39 liefern ausführliche Berichte zu dem, was uns durch den bewussten Tilgungsakt verlorengegangen ist.
Abb. 12: Die Reste von vier herausgeschnittenen Seiten aus einem der zwei Protokollbücher des Mainzer Jakobinerklubs mit den Einträgen zum 10./11. Januar 1793. Die Seitenzählung wurde dadurch nicht unterbrochen.
Was aber war so brisant an diesen Seiten gewesen? Dazu ist nochmals auf das vom Pariser Nationalkonvent beschlossene Gesetz vom 15. Dezember zurückzukommen, von dem schon weiter oben die Rede war und das in Mainz einen Politikwechsel eingeleitet hatte. Denn dieses Gesetz hatte nicht nur die Durchführung von Gemeinde- und Parlamentswahlen angeordnet, sondern auch das Militär vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Kriegslage ermächtigt, die Güter aller „Despoten“ zu konfiszieren und alle zur Verteidigung nötigen Gelder durch Steuern einzutreiben. Die zunehmende Ausbeutung durch das Militär brachte jedoch Verwaltung und Jakobiner in eine immer schwierigere Lage gegenüber den Bürgern, verstanden sie sich doch als Sachwalter des „allgemeinen Wohls“40, die die Bürger vor ungerechtfertigten Forderungen des Militärs zu schützen hatten. Außerdem musste sich der Klub angesichts des anhaltenden Widerstands der Mehrheit der Mainzer Bürger grundsätzlich fragen, warum die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit „so wenig Beifall“ fanden.41 Heftige Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Weg der Revolutionierung brachen nun auf. In der besagten Sitzung am 10. Januar holte Andreas Joseph Hofmann in einer Rede zu einem Rundumschlag gegen die Klubführung, die Besatzungsmacht und die Allgemeine Administration aus. Den Klub beschuldigte er, durch übelbeleumundete Mitglieder, aber auch durch seine übertriebene Polemik gegen Gegner für viele Mainzer untragbar geworden zu sein. Zur besonderen Zielscheibe wurde der Präsident der Administration, Dorsch, dem Hofmann fachliche Inkompetenz und Bereicherung im Amt vorwarf. Vor allem aber prangerte Hofmann die Kriegskommissare an: Die von ihnen erhobenen Kontributionen ließen den Verdacht aufkommen, es gehe den Franzosen nur darum, Mainz auszubeuten und dann zu verlassen.42
Die aufgestaute Unzufriedenheit gegen das Militär artikulierte auch Georg Forster in einem Rechenschaftsbericht, den er über die Amtsführung der Administration in diesen Tagen zu Papier brachte: Er verwahrte sich darin, „bloß Vollstrecker militairischer Befehle“ zu sein und „zum blinden Werkzeuge einer feindlichen Macht“ herabgewürdigt zu werden. Seine bittere Anklage gipfelte in dem Gesuch um Entlassung.43 Doch soweit kam es nicht. Offensichtlich hielt Forster seinen im Entwurf erhaltenen Rechenschaftsbericht zurück. Forster, Anfang des Jahres zum Präsidenten des Klubs gewählt, war es auch, der verhinderte, dass der Konflikt mit Hofmann auf die Spitze getrieben wurde. Am Ende der, sich auch auf den darauffolgenden Tag erstreckenden, erhitzt geführten Debatten schlug Forster als friedenstiftende Maßnahme vor, die entsprechenden Seiten aus dem Klubprotokoll herauszuschneiden und damit „alle unangenehme Erinnerung“ daran aus der Welt zu schaffen.44 Dieser Vorschlag wurde so von den Klubmitgliedern angenommen, mit dem Ergebnis, wie es sich uns heute präsentiert. Zumindest äußerlich wurde die wiederhergestellte Eintracht im Klub nur wenige Tage später, am 13. Januar, durch die neuerliche Errichtung eines Freiheitsbaumes in einem großen Fest demonstriert.
Von Stimmzetteln und Strichlisten: Wahlen und Eidzwang
In einer Klubistenakte im Staatsarchiv Würzburg45 haben sich von den ersten Wahlen im Heiligen Römischen Reich, die am Prinzip der Volkssouveränität orientiert und bei der alle Männer über 21 Jahre ohne Unterschied des Standes und der Religion stimmberechtigt waren, noch Stimmzettel und Strichlisten erhalten (Abb. 13a-d). Bei diesen Wahlen, die zwischen dem 24. und 26. Februar 1793 in Mainz und den anderen von den Franzosen besetzten linksrheinischen