Till Weber

Tokyo - eine Biografie


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Pseudonym Rakuō führte er geradezu ein zweites Leben als Autor zahlreicher gelehrter und anderer Texte, darunter auch eine Autobiographie und entschieden leichteres Material, dass er »zur eigenen Zerstreuung« geschrieben hatte. Viele dieser Texte verbrannte er selbst, weil sie seinem der Nachwelt zugedachten konservativen Image nicht entsprachen, aber seine Mitarbeiter kopierten einige Manuskripte rechtzeitig. 1784 hatte Matsudaira Sadanobu sogar eine satirische Schrift mit dem Titel Daimyō Katagi verfasst, in der die Fürsten des Landes – seine Standesgenossen! – geistreich auf die Schippe genommen wurden. In der schwungvoll und teils in der Mundart von Edo erzählten Geschichte verfällt ein Fürst zuerst den Kampfkünsten, dann der Literatur und schließlich dem Kabuki-Theater, was jedes Mal Mühe und Erschöpfung für seine gestressten Gefolgsleute bedeutet. Im zweiten Teil erscheint ihm dann ein konfuzianischer Weiser im Traum und weist dem Fürsten den rechten Weg (im Sinne des offiziellen Matsudaira Sadanobu).

      Pikanterweise gehörte dieser Band in die wenig respektable literarische Kategorie der gesaku, die von Sadanobu als Premierminister offiziell bekämpft worden war. Er konnte unbotmäßige Schriftsteller deshalb so zielgerichtet verfolgen, weil er selbst einer war und sich auskannte. Als Chef der Regierung tat er das, was er für seine politische Pflicht hielt. Nach dem Ausscheiden aus dem Amt ist von ihm überliefert, dass er sich privat um Wiedergutmachung bei den gemaßregelten Autoren bemühte.

       Von den Tokugawa-Shōgunen Ieyoshi bis Iemochi

      Vom 12. bis zum 14. (und vorletzten) Tokugawa-Shōgun setzte sich die Häufung von politischer und körperlicher Schwäche gepaart mit Dekadenzerscheinungen fort. Die Herrscher waren zunehmend abhängig von einer Reihe starker Männer, die für sie regierten und versuchten, Staat und Stadt in den unübersichtlicher werdenden ersten beiden Dritteln des 19. Jhs. im Sinne der Dynastie zu steuern.

      Tokugawa Ieyoshi (geb. 1793, Regierungszeit 1837 – 1853), Iesada (geb. 1824, Regierungszeit 1853 – 1858) und Iemochi (geb. 1844, Regierungszeit 1858 – 1866) mussten zunehmend mit ansehen, wie die Politik der Isolierung Japans von der Welt unhaltbar wurde. Durch Chinesen wie Holländer, durch deren übersetzte Bücher sowie durch das Königreich Ryūkyū (die heutige Präfektur Okinawa) gelangten beängstigende Nachrichten über den technischen Fortschritt westlicher Länder und ihr koloniales Ausgreifen in Asien an den Hof in Edo. Neue europäische Mächte setzten sich in Asien fest; besonders russische, amerikanische und britische Schiffe kamen Japan immer näher. Jahrzehntelang rangen verschiedene Denkrichtungen in Japan um die beste Politik: sollte Japan am Alten festhalten und sich verteidigen – notfalls bis zu einer totalen Niederlage – oder sollte es sich vorsichtig zum Westen hin öffnen und technisch modernisieren, aber mit dem Risiko unkalkulierbarer politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen? Das Letztgenannte war natürlich Anathema zum traditionellen Denken des Shōgunats.

      In der Hauptstadt Edo befand sich das Epizentrum des Konflikts auf zwei Ebenen. In der Burg rangen konkurrierende Fürstenfraktionen um Einfluss und keiner der Shōgune hatte mehr die Kraft alle zu einigen. In der Stadt und auf ihren Straßen gärte es zunehmend. Samurai vor allem aus Westjapan, aber auch aus Mito, einer Hauptlinie der Tokugawa, forderten den Kampf gegen den westlichen Einfluss und ließen immer öfter ihre Klingen sprechen – auf den Straßen von Edo waren täglich Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Schwerter tragende Samurai unterwegs. Die Obrigkeit versuchte in mehreren Anläufen unter anderem die Hauptstadt wieder stärker unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie abweichende Meinungen und die Bildung von politischen Gruppen verfolgte und gleichzeitig die Zuwanderung zu unterbinden suchte. Doch es nutzte nichts, das Klima beruhigte sich nicht und im Juli 1853 erschien der US-Kommodore Matthew C. Perry mit einer Flottille moderner dampfgetriebener Kriegsschiffe vor Uraga am Eingang der Bucht von Edo. Diese »Schwarzen Schiffe« (kurofune) lösten genauso einen Schock aus wie die Landung von 300 Soldaten. Die Schwäche des Shōgunats, das nominell über eine zehntausende zählende, aber hoffnungslos veraltete Armee gebot, wurde offensichtlich. Man sah sich 1854 gezwungen mit den Amerikanern, und bald darauf auch mit Russen, Engländern und Niederländern Verträge abzuschließen. Die ab 1858 folgende Serie der »Ungleichen Verträge« begünstigte die fremden Mächte einseitig, indem ihnen Häfen geöffnet, die Ansiedlung von Konsuln und anderen Staatsbürgern, allesamt mit exterritorialem Status (also ausgenommen vom japanischen Gesetz), sowie wirtschaftliche und finanzielle Privilegien eingeräumt wurden, die Japaner nicht erhielten.

      Damit war die Geschäftsgrundlage des Shōgunats entfallen, denn das Amt bedeutete eigentlich »Militärbefehlshaber zum Niederwerfen der Barbaren«, was zum Ärger vieler konservativ denkender Samurai und auch Bürgerlicher aber nicht einmal ernsthaft versucht wurde. So gingen diese in der Sonnō jōi-Bewegung zusammengeschlossenen »Patrioten« in Opposition zum Shōgunat und richteten ihre Hoffnungen auf den Kaiser. Der Name der Bewegung war zugleich ihr Programm – in Übersetzung: »Verehrt den Kaiser und vertreibt die Barbaren!«

      Das Shōgunat geriet so in die missliche Lage, ohnmächtig zwischen den Ansprüchen der mächtigen »Barbaren« und dem Ärger eines bedeutenden Teils der Bevölkerung zu stehen. In Edo selbst wirkte sich die durch den rasant wachsenden Außenhandel steigende Nachfrage nach vielen Gütern preistreibend aus. Einfache Stadtbewohner wie Samurai litten, aber nur den Fürsten wurde geholfen, indem man 1862 ein seit dem 17. Jh. ehern geltendes Prinzip aufgab, dass die ständige (und kostenintensive) Anwesenheit von Frauen und Kindern der Fürsten in Edo verlangte, deren Präsenz so die Loyalität ihrer Männer/Väter in den Provinzen garantierte. Der Massenexodus der Fürstenfamilien mit Zehntausenden von Gefolgsleuten aus Edo gab nicht nur den Gegnern des Shōgunats im Westen und Süden Japans freie Hand, sondern schwächte die Wirtschaft der Stadt nachhaltig. Hungrige Menschenaufläufe plünderten die Häuser reicher Händler aus. Weite Stadtviertel einschließlich Akasaka, Kanda, Azabu, Yotsuya, Shiba und Honjo gerieten phasenweise außer Kontrolle, die Regierung war blamiert.

       Ii Naosuke (1815 – 1860)

      Als die Sonnō jōi-Bewegung begann, Gewalt auszuüben, griff die Shōgunatsregierung ab 1858 hart durch. Verantwortlich für diese Repression war der letzte der starken Männer des Shōgunats, Fürst Ii Naosuke (1815 – 1860). Obwohl er nur der vierzehnte Sohn des Fürsten von Hikone war und schon länger in einem buddhistischen Kloster lebte, wurde er 1850 doch noch Nachfolger seines Vaters, nachdem alle älteren Brüder entweder gestorben oder zur Adoption in andere Familien gegeben worden waren. Das kulturell verfeinerte Leben der Klosterzeit prägte Naosuke nachhaltig; er war Meister der Teezeremonie und als Schriftsteller tätig. Ii Naosuke wurde aktiv in der nationalen Politik, die von starken Richtungskämpfen zwischen einzelnen Fürstenfraktionen und Cliquen selbst innerhalb der Familie Tokugawa geprägt wurde. 1858 wurde Ii Naosuke zum Tairō ernannt, eine nur selten besetzte Position, wodurch er der starke Mann in der Regierung war. Die Entscheidung, dass die Ungleichen Verträge mit den USA und anderen zu akzeptieren waren, nahm er auf sich, obwohl er sich zugleich auch von den pro-westlichen Reformern abgrenzte. Viele Gegner wurden aus ihren Ämtern gedrängt.

      Ii Naosukes Akzeptanz des Unpopulären, aber Unvermeidlichen machte ihn zur Zielscheibe der Gegner der Landesöffnung und des Shōgunats. Die Vergangenheit und die privaten Leidenschaften Ii Naosukes schienen allerdings so gar nicht zusammenzupassen mit dem Bild des harschen, verhassten Diktators. Wie bei Matsudaira Sadanobu beobachtet man große Abweichungen zwischen den kultivierten persönlichen Interessen Naosukes und dem geharnischten Auftreten als loyale Amtsperson der Tokugawa, was allerdings für Zeitgenossen wohl weniger verwunderlich war als für uns Heutige. Als Samurai und Vasall der Tokugawa sah er sich in der Pflicht, die Politik umzusetzen, die dem Haus des Shōguns langfristig am meisten zu nutzen schien. Wenn dazu die Billigung verhasster ungleicher Verträge und die Exekution unruhiger Elemente gehörte, so musste dies sein; anschließend konnte er sich wieder der Teezeremonie und anderen kulturellen Aktivitäten widmen.

      Wie sein illustrer Vorfahr Ii Naomasa, der im Jahre 1602 durch die Folgen einer im Kampf für seinen Herrn Tokugawa Ieyasu erlittenen Wunde sein Leben gelassen hatte, starb auch Ii Naosuke in Pflichterfüllung. Nach nur 20 Monaten seiner