Till Weber

Tokyo - eine Biografie


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vom Herzen Edos, der gewaltigen Burg. Die Spirale und das Kanalsystem konnten sich immer weiter nach außen entwickeln und die Stadt immer weiter wachsen lassen, selbst in die Bucht von Edo/Tōkyō hinein, wo Landauffüllungsprojekte bis heute immer wieder Neuland schaffen.

      Die Burg war das zentrale Element der Stadt, von der aus Shōgun Tokugawa Ieyasu und seine Nachfolger Stadt und Land beherrschten. Ieyasu hätte sich wohl auch für Kyōto als Amtssitz entscheiden können, hielt aber an seiner im Entstehen begriffenen eigenen Hauptstadt fest. Hier lag seine Burg, nicht der Kaiserpalast, im Mittelpunkt, alles richtete sich nach ihr und ihrem ranghöchsten Bewohner aus. Die Viertel der anderen Gruppen der Stadtbewohner lagen um die Burg herum angeordnet, wobei die vielen Kanäle und Gräben primär Teile des Sicherheitssystems der Burg, und erst in zweiter Linie Transportadern für die Wirtschaft waren. Wo ein Brückenbau die Sicherheit der Burg geschwächt hätte, unterblieb er und die Bürger mussten mit Fähren übersetzen. Die Betonung des herrschaftlichen Aspekts in der Stadttopographie entspricht dem patriarchalischen Staatsverständnis der Tokugawa. Die Trennung der sozialen Gruppen verdeutlicht die Ideologie, dass ein jeder an seinen Platz gehöre und soziale Mobilität nicht mehr erwünscht sei. Rangunterschiede zwischen den sozialen Gruppen wurden schon durch die Größe des zugewiesenen Platzes sichtbar: Insgesamt 70 % der zunehmend knapper werdenden Stadtfläche war Fürsten und anderen Samurai vorbehalten, 14 % verschiedenen Tempeln und Schreinen und nur 16 % den Bürgern.

      So wurden in den Jahren um 1600 bereits die Grundlagen der Stadttopographie gelegt, die Edo prägen sollte, bis es 1868 zu Tōkyō wurde und die Moderne Einzug zu halten begann.

      Als Tokugawa Ieyasu am 01. 06. 1616 im Alter von 73 Jahren starb, vermutlich entweder an Magenkrebs oder an den Spätfolgen einer 1615 vor Ōsaka erlittenen Wunde, hatte er alle seine Rivalen besiegt und überlebt. Bis zur Mitte des 19. Jhs. wagte es niemand die Tokugawa-Shōgune ernsthaft herauszufordern und keine Stadt Japans konnte mit der Hauptstadt Edo gleichziehen, obwohl sich viele Fürsten beim Ausbau ihrer Burgstädte in der Provinz am großen Vorbild Edo orientierten.

      Der Fürst (daimyō) Tōdō Takatora war genau wie Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu ein Produkt des wilden 16. Jhs. Obwohl nur der Sohn eines einfachen Fußsoldaten, arbeitete sich Takatora im Dienste von nicht weniger als zehn aufeinanderfolgenden Herren nach oben. Seine bewiesene Fähigkeit, zu erkennen, wer der Sieger sein würde, führte ihn vor Sekigahara 1600 in das Lager Tokugawa Ieyasus, der vor allem seine Talente als Festungsarchitekt schätzte. In der zweiten Hälfte des 16. Jhs. hatten Heeresvergrößerungen, Arkebusen und schließlich auch schwere Artillerie die herkömmlichen Anlagen aus Holz und Erde obsolet werden lassen. Man brauchte nun weit größere Festungen mit einem mehrere Kilometer langen äußeren Perimeter, um den inneren Kern der Burg außer Schussweite zu halten. Solche Bauten konnten nur in der Ebene entstehen, wo Wasserwege als Gräben umgeleitet werden konnten. Die Mauern wuchsen und wuchsen und wurden nun zunehmend mit großen Steinen eingekleidet. Viele dieser Mauern haben – auch in Tōkyō – Erdbeben und Luftangriffe bis heute überstanden. In Tōdō Takatoras eigener Burg Iga-Ueno waren die Mauern 28 Meter hoch; der Graben seiner Burg Tsu war 100 Meter breit. Takatora war ein Spezialist, der im Laufe seiner langen Karriere am Bau von rund 20 Festungen beteiligt war. Ieyasu und sein Sohn, der zweite Tokugawa-Shōgun Hidetada, vertrauten ihm nacheinander Edo, später die Tokugawa-Residenz Nijo in Kyōto und ab 1620 den Neubau von Ōsaka an.

      Tōdō Takatora kannte die bedeutendsten Steinmetze des Landes und verpflichtete sie; gleichfalls schickten die Fürsten des Landes Fachleute, Helfer, Geld und Baumaterialien, wozu sie als Lehnsleute des Shōgun verpflichtet waren. Alle diese Leute mussten untergebracht und versorgt werden, und die Stadt Edo wuchs weiter. Die Arbeiten waren gigantisch, selbst für einen Meister wie Takatora, denn der Untergrund bestand nicht aus Fels, sondern aus Marschland. Immer wieder fielen fertige Mauersegmente ein und begruben die Arbeiter unter sich. Schließlich kam Fürst Katō Kiyomasa, wie Takatora eine Art lebende Legende der vorangegangen Sengoku-Zeit, auf die rettende Idee: Er ließ Arbeiter große Mengen von Schilf auf dem sumpfigen Untergrund anpflanzen und lud dann immer wieder Kinder ein, auf dem Schilf zu spielen. Nach und nach wurde das Schilf lagenweise niedergetrampelt und bot einen besseren Baugrund für die Mauern. Eine bemerkenswert feinfühlig anmutende Lösung für einen alten Haudegen wie Katō Kiyomasa, der Dichtkunst als verweichlicht abtat und Aussprüche tätigte wie den folgenden: »Die Pflicht des Samurai ist einfach, das Schwert in die Hand zu nehmen und zu sterben«.

      Der Bauplan der Burg sah eine spiralförmige Anlage wie bei der Stadt selbst vor. Innen bzw. oben lag der Haupthof mit dem größtem Bergfried-Komplex (daitenshu mit mehreren Nebentürmen), der je in Japan geplant wurde. Der Plan war revolutionär. Der sechsstöckige Hauptturm sollte 44,3 Meter in der Höhe messen und auf einer 20 Meter hohen Basis aus Steinen ruhen. Diese Bergfriede waren die weithin sichtbaren Symbole der Macht ihrer Besitzer, vielleicht vergleichbar mit der Demonstration der göttlichen Macht durch hohe Kirchtürme im mittelalterlichen Europa. Gebaut wurde bis 1622 eine mehr den Friedenszeiten angepasste etwas kleinere Version des Hauptturms, die noch im 17. Jh. einem Feuer zum Opfer fiel, aber die Macht des Shōgun war auch so weithin sichtbar. Inzwischen überlegt man in Tōkyō, den hölzernen Hauptturm zur Olympiade 2020 originalgetreu wieder aufzubauen. Mehrere befestigte, größtenteils erhaltene Höfe, die jeweils die Größe einer eigenen Burganlage hatten, Palastbauten sowie Büros, Unterkünfte, Ställe und Magazine beherbergten, gruppierten sich um den eigentlichen Haupthof herum. Das Gelände war von 16 Kilometern Außenmauer umfasst und hatte 36 befestigte Tore an Kanälen und Gräben. Die Mehrzahl der bürgerlichen Bewohner von Edo konnte nicht hoffen, jemals in ihrem Leben in das Innere der Burg hineinzugelangen.

      Erst 1640 wurde unter dem dritten Shōgun Iemitsu, 50 Jahre nach Beginn, der Bau der Burg Edo abgeschlossen. Die meisten Planer und Handwerker der ersten Generation waren gar nicht mehr am Leben. So war Tōdō Takatora 1630 nach weiteren Bauprojekten als wohl dotierter Fürst von Tsu gestorben. Katō Kiyomasa war als Fürst von Kumamoto sogar noch wohlhabender gewesen, aber wie ein Vorbote der kommenden friedlicheren Zeiten war ihm ein Tod auf dem Schlachtfeld nicht vergönnt. Er starb 1611 etwas überraschend nach einer kurzen Krankheit.

      Auf Tokugawa Ieyasu folgte schon 1605 sein Sohn Hidetada im Amt des Shōgun, der 1621 von seinem Sohn Iemitsu abgelöst wurde. Als Tokugawa Yoshinobu 1867 zum Rücktritt gezwungen wurde, war er als fünfzehnter Tokugawa-Shōgun zugleich der letzte Shōgun überhaupt.

      Von Ieyasus Nachfolgern existieren zwar einige, aber oft nicht wirklich biographisch erhellende Zeugnisse. Sie lebten in der Burg Edo und standen an der Spitze aller Samurai und damit des ganzen Landes. Ihre Macht war im Prinzip so groß, dass europäische Besucher sie oft mit dem Kaiser in Kyōto verwechselten, dessen Bedeutung sich praktisch in seiner Funktion als Quelle der Legitimität erschöpfte. Buchstäblich zu Gesicht bekamen nur wenige einen Shōgun, weil fast alle Menschen sich tief vor ihm zu verneigen hatten und der Herrscher meistens hinter Vorhängen vor den Blicken der Besucher verborgen blieb. Die konfuzianisch geprägten Regeln des Tokugawa-Staats verboten es japanischen Autoren sich in irgendeiner Weise kritisch oder auch nur pointiert zu politischen Fragen oder gar der Person eines Shōgun zu äußern. Die offiziellen Chroniken, die Tokugawa jikki, enthalten natürlich entsprechend regierungsamtlich geprägtes Material. Glücklicherweise waren ausländische Besucher in ihren Briefen, Tagebüchern und gewichtigeren Werken freier in ihren Äußerungen. Nach Lage der Dinge kamen unter den Europäern seit der Mitte des 17. Jhs. nur Mitarbeiter der VOC, der Vereinigten Niederländischen Ostindien-Kompanie, im Rahmen regelmäßiger offizieller Besuchsreisen nach Edo, die der jeweilige Leiter der VOC-Faktorei von Nagasaki aus mit Begleitern durchführte.

      Zu den gebildetsten dieser Männer gehörte Isaac Titsingh (1745 – 1812; 1779 – 1784 in Japan), der nicht nur zweimal zum Hof nach Edo reiste, sondern dank guter japanischer Kontakte viel einheimisches Material sammeln konnte, aus dem er ein kolossal anmutendes Standardwerk über das damals im