Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle


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direkt hatte erleben können wie es dem Fluglehrer in dessen letzten Minuten und Sekunden ergangen sein musste. Ganz allein, den Tod, das Ende direkt vor Augen: Die wenigen Schritte zur Guillotine und die Sekunden mit dem Hals in diesem Brett, die Kiste vor Augen in die sein abgetrennter Kopf fallen würde.

      Als Letztes vielleicht noch ein metallisches Klicken im Ohr, mit dem das Fallmesser über ihm ausgelöst worden war.

      „Ich hatte einen beschissenen Traum“, bemerkte er am Morgen, als alle sich in der einzigen Aluminiumschüssel, jeweils mit Wasser aus einer Emaillekanne, nacheinander Gesicht und Hände wuschen.

      „Ich sollte hingerichtet werden“, sagte er ganz beiläufig.

      An Träumen war man im Grunde immer ganz interessiert, wurde von vielen doch viel geträumt in diesen Zellen, am Anfang eines langen ungewissen Weges.

      Aber gleich von der eigenen Hinrichtung zu träumen? „Geht das nicht ’n bissel weit?“, fragte einer lachend.

      Es waren Schicksale, die man dort zusammengepfercht hatte. Zwölf, fünfzehn Jahre Zuchthaus, natürlich auch lebenslänglich, waren mehr ein Zeichen, ein Mal, hatte Sebastian inzwischen begriffen, auch eine Auszeichnung … Ganz anders aber die Todesstrafe, die Auslöschung. Dort galt dann gar nichts mehr.

      „Ich wusste im Traum auf einmal dass ich in Dresden war“, berichtete Sebastian, weil alle diese seltsame Geschichte hören wollten. „Ich musste gefesselt durch einen Kellergang und hinter mir ging einer. Plötzlich sah ich mich selbst dort gehen, als ob ich über mir schwebte und der hinter mir trug eine schwarze Kapuze, das konnte ich dann erkennen.“

      „Na, das sagt doch schon alles“, warf einer ein.

      „Aber ich wusste doch, dass ich nur zehn Jahre hatte. Ich sagte das auch, aber die Stimme, die von irgend woher kam, eine ganz gleichgültige Stimme sagte nur: Sie sind verurteilt. Und eine dunkle Tür, die aufging, der geflieste Raum dahinter und dann die Guillotine. Ich sah dort wieder mich selbst und wie ich aufs Fallbeil zugestoßen wurde. Ich wehrte mich. Nur zehn Jahre, sagte ich und sah schon das schräge Messer, das Brett mit dem Ausschnitt für den Hals und die Kiste für den abgeschlagenen Kopf. Dann kam so ein Kapuzenmann hinter der Guillotine vor, griff nach mir und zerrte mich zu dem Brett, auf das ich geschnallt werden sollte … Da wachte ich auf und dachte gleich an den Fluglehrer, den sie hier abgeholt haben … Ich weiß jetzt wie dem zumute gewesen sein muss.“

      „Diese Schweinehunde“, ereiferte sich ein ehemaliger Abteilungsleiter des Ministeriums für Verkehrswesen der DDR in Berlin, der auch zu 12 Jahren verurteilt worden war und keine Revision beantragt hatte. „Diese Bande ist ja nur eingesetzt und niemals gewählt worden. Das sind Okupanten“, fuhr er fort, „die sich anmaßen über Tod und Leben zu entscheiden.“

      „Wer will die daran hindern?“, fragte ein anderer, ein West-Berliner Journalist, der auf einem Hocker neben der Heizung saß und sich Sebastians Traum und die Empörung des Abteilungsleiters angehört hatte.

      „Vielleicht der Westen, der Ami …?“, fragte vorsichtig ein junger Bursche, der am 17.Juni mit bei den Aufständischen gewesen war, als Gefangene aus dem Roten Ochsen in Halle befreit worden waren.

      Der Journalist aus West-Berlin lachte. „Die werden sich hüten“, sagte er. „Und außerdem“, fuhr er fort, „genießen die Schweinehunde hier doch einen perfekten Schutz, nämlich die Furcht des Westens vor ’nem neuen Krieg. Dabei könnte sich heutzutage gerade der Iwan so einen Krieg am allerwenigsten leisten.“

      „Aber die Atombombe neutralisiert das zum Glück ja alles“, fügte dann ein anderer achselzuckend hinzu.

      Totila stand gegen das Fenster gelehnt und grinste. „Wir sind ja gerade als Kriegsverbrecher verurteilt worden“, erklärte er, „wegen der Beteiligung an der Vorbereitung eines amerikanischen Krieges, nach der so geläufigen Kontrollratsdirektive 38. Auch Ihre imperialistischen Freunde, die Amerikaner, haben Sie ja mit verurteilt: So interpretierte die Vorsitzende Richterin in höhnischem Tonfall ihr Urteil.“

      Der ehemalige Abteilungsleiter, der im engen Gang zwischen den Betten ein paar Mal wenige Schritte hin und wieder zurück gelaufen war, blieb stehen und winkte verächtlich ab: „Haltet den Dieb! Die probate Methode“, sagte er. „Wer wurde denn wirklich gefragt, ob er diese Regierung und den Kommunismus haben wollte …? Das wurde doch damals alles lanciert.“

      In den Mundwinkeln des West-Berliner Journalisten versteckte sich ein Lächeln.

      „Den Abteilungsleiterposten bei der Regierung“, sagte er dann etwas spitz, „den hast du aber angenommen.“

      „Irgendwie musste ich meine Familie doch durchbringen“, reagierte der Abteilungsleiter leicht amüsiert.

      „Das hätt’st du auch in einer nicht so exponierten Stellung tun können.“

      „Schon“, der Abteilungsleiter lachte kurz, „aber ich hätte dann längst nicht einen so guten Durchblick gehabt.“

      „Hm, ja … so kann man’s allerdings auch sehen“, stimmte der West-Berliner zu.

      Über die konkreten Umstände und Hintergründe ihrer Verurteilung schwiegen sich die meisten politischen Gefangenen aus. Bekanntlich war ja das Spitzelunwesen in dieser Cottbuser Anstalt durch einen zu 12 Jahren verurteilten ehemaligen Oberstleutnant der Staatssicherheit perfektioniert worden. Dabei ging es um nachträglich durch Spitzel ans Licht geholte Taten, aber auch um in den Zellen betriebene Volksverhetzung etc … Wer etwa als Politischer glaubte, in der abgeschirmten Enge einer Zelle befände er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit, irrte gewaltig. Nur in Einzelhaft konnte ein jeder zumindest straflos auf Staat und Partei schimpfen, ohne eines „Nachschlags“, gewärtig zu sein.

       Kapitel 8

      Und so war mit dem schleichenden Vergehen der Zeit auch wieder mal ein Tag der „Sprecherlaubnis“, für Totila und Sebastian herangerückt. Totila wurde als erster geholt und im Erdgeschoß in diese Zelle geführt, die er von einem ersten Besuch seines Vaters her schon kannte. Dort musste jeder Häftling seine abgewetzten Klamotten für den Besuch gegen eine nagelneue Gefangenenuniform tauschen. So „fein“, gemacht führte man ihn dann über den Hof, neben der Einfahrt ein paar Stufen hoch in den „Sprecherraum“.

      Totilas Vater, Pfarrer Kunzmann, wartete dort bereits an einem Tisch auf das Erscheinen des Sohnes. Allen Besuchern wurde vor dem Erscheinen des zu Besuchenden jedes Mal von neuem klar gemacht, dass über Anstaltsangelegenheiten nicht gesprochen werden dürfe und dass andernfalls die Sprecherlaubnis sofort abgebrochen werden müsste. Das Gleiche predigte man auch dem Gefangenen vor jedem Besuch von Angehörigen und dass politische Themen verboten seien. Etwas, das man aber in fast jedes Gespräch hineininterpretieren könnte, meinte Sebastian. Und überhaupt, das träfe auf jeden zu, der dort diese halbe Stunde Besuch empfing, die sich „Sprecherlaubnis“, nannte und den Besucher, jedoch mehr noch den Besuchten, eher sprachlos werden ließ.

      Totila betrat schließlich diesen ‚Sprecherraum‘, bemüht um ein fröhliches Lächeln, begrüßte den Vater und ließ sich auf einem Stuhl ihm gegenüber nieder.

      Rechts von ihm an der Stirnseite, saß mit gespitzten Ohren der Wachtmeister.

      Es waren nicht alle so, es gab wenige, denen das Ganze peinlich zu sein schien, die einen gelangweilten Gesichtsausdruck aufsetzten und zur Seite, zum Fenster hinaus blickten.

      Gespräche bei diesen Besuchen verliefen dann zumeist so, dass der Besucher oft angestrengt über ganz banale Familienangelegenheiten, Geschwister und Verwandte monologisierte, während der Besuchte, also der Gefangene, sich mehr oder weniger aufs bloße Zuhören beschränkte. Mit am Tisch saß ja schließlich immer ein Wachposten, sei es ein Unteroffizier, Feldwebel oder auch Leutnant der Volkspolizei, der aufmerksam jedes Wort mithörte.

      Und so teilte Pfarrer Kunzmann dort am Tisch seinem Sohn ganz offizeill mit, dass der ihn hier das letzte Mal als DDR-Bürger sähe und die Kirchenleitung ihn schon zum 1.September nach West-Berlin versetzen würde. Er hoffe ihn dann