Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle


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Grüße von Bruder und Schwester, die ja seit eh und je bei der Mutter in West-Berlin lebten. Die Schwester stehe kurz vor ihrem Lehrerinnen-Examen, berichtete er. Der jüngere Bruder habe das Gymnasium abgebrochen und eine Elektrikerlehre begonnen. Er wolle danach einen Fachschulabschluss anstreben.

      Totila kannte das ja alles. Neu war lediglich, dass der Bruder mit Versetzung in die elfte Klasse nun tatsächlich als sogenannter Einjähriger, eine alte längst überholte Bezeichnung fand er, das Gymnasium verlassen hatte. „Das hat der ja immer vorgehabt“, reagierte er auf die Mitteilung des Vaters.

      „Ja natürlich“, antwortete der, „nur dass es jetzt entschieden ist, allerdings gegen den Willen seiner Mutter, die ihn lieber mit Abitur gesehen hätte“, fügte er lächelnd hinzu.

      „Ich hab ja auch kein Abi“, warf Totila grinsend ein. „Als Kugelkreuzbandit hat man darauf eben kein Anrecht im Arbeiter- und Bauernstaat …“ „Halten Sie sich an die Vorschriften, sonst brechen wir gleich ab!“, drohte der Uniformierte.

      „Tu ich ja“, entgegnete Totila. „Keine internen Angelegenheiten. Daran habe ich mich gehalten.Und Kugelkreuzbandit? Mit genau dieser Bezeichnung hatte man mich von der Oberschule verwiesen.“

      Der Unterleutnant am Tisch schüttelte energisch den Kopf. „Auch politische Gespräche sind hier nicht erlaubt, das wissen Sie doch!“

      Totila hob die Schultern. „Tja, dann ist ja alles Erlaubte schon gesagt. Worüber sollen wir nun noch reden?“, fragte er den Vater. „Gibt es für dich schon einen Nachfolger in Großräschen?“

      Pfarrer Kunzmann schüttelte den Kopf. „Das wird der Lehmann aus Mitte erst mal kommissarisch mit übernehmen.“

      „Bis die auf deine Stelle wieder einen strafversetzen, zum eigenen Schutz natürlich.“

      Der Pfarrer lachte kurz auf. „Das denke ich nicht“, sagte er, „Großräschen eignet sich jetzt nicht mehr dazu.“

      „Ein Agentennest“, sagte Totila augenzwinkernd.

      „Zum letzten Mal, keine politischen Gespräche!“, erfolgte prompt die Drohung des Unterleutnants am Tisch.

      Immerhin erstaunlich nachsichtig erschien es Totila.

      „So eine Sprecherlaubnis bringt es lediglich mit sich, dass man sich mal wieder sieht. Das ist dann aber auch schon alles“, erklärte Totila wieder in seiner Zelle.

      „Sprechen kann man über fast gar nichts, alles ist verboten. Was man auch sagt, entweder sind’s Anstaltsangelegenheiten oder politische Gespräche. Man kann eigentlich nur sagen: Mir geht es gut. Ich bin gesund und fragen: Wie geht’s der Oma, was macht die Schwester, lebt der Hund noch … Dazu reicht dann eine halbe Stunde alle Vierteljahre längst aus.“

      „Auch auf Sebastian wartete bald darauf seine Mutter, als er extra fein gemacht den ‚Sprecherraum‘ betrat.

      „Ein Besucheranzug“, sagte er zur Begrüßung grinsend mit der Hand an sich hinabweisend, bevor er sich an den Tisch setzte.

      Der Unterleutnant dort guckte bereits skeptisch.

      Das Gespräch zwischen Mutter und Sohn begann dann auch lapidar: Ja, er sei gesund. Es ginge ihm gut. Er bekäme auch Bücher auf die Zelle. Es war klar, dass die Mutter sich unter seiner Zelle natürlich nichts Zutreffendes vorstellen konnte. Doch dann erwähnte die Mutter Christa Richter, Sebastians junge Freundin aus Leipzig, und ob sie ihr von seinem Geschick schreiben solle. Sie habe es noch nicht getan, doch nun sei ein Brief von ihr eingetroffen mit der Frage, weshalb er so unendlich lange nichts habe von sich hören lassen.

      „Natürlich, schreib ihr was los ist“, sagte er. „Die weiß ja noch gar nichts.“

      „Wer weiß aber, wie sie das aufnehmen wird?“, fragte die Mutter und in ihrer Stimme schwang Besorgnis mit.

      „Weiß ich auch nicht“, erklärte Sebastian und hob unschlüssig die Schultern.

      „Ich hoffe“, sagte er, „ich hoffe sie wird’s verstehen.“

      Das erwies sich dann schon als eine wichtige Mitteilung bei diesem ‚Sprecher’.

      An seine junge Freundin Christa hatte er bei den ganzen neuen Eindrücken in der zurückliegenden Zeit nur selten denken können. Wie alt ist sie jetzt eigentlich, fragte er sich dort am Tisch … Sie müsste sechzehn werden. Ob sie noch weiter zur Schule geht?

      Des Weiteren erfuhr er von seiner Mutter noch, dass seine Großmutter eine Fleischvergiftung überstanden habe und es ihr bereits viel besser ginge. Und schließlich Eberhard, sein jüngerer Bruder: Der sei faul in der Schule „wie ihr alle“, betonte die Mutter, bringe aber gute Zensuren nach Hause.

      „Na, was willst du mehr“, sagte er und grinste dazu, „der kann sich diese Faulheit einfach leisten.“

      „So was mögen die in der Schule aber nicht.“

      „Ja natürlich, weil er noch immer die falschen Eltern hat. Etwas hat sich’s ja schon geändert … aber das würde jetzt hier zu weit führen“, sagte er, als er sah, dass der Zensor am Tisch bereits die Ohren spitzte.

      „Übrigens“, fuhr die Mutter fort, „der Langenbach ist nach Altdöbern versetzt worden und jetzt dort Rektor am Lehrerbildungsinstitut.“

      Langenbach, erinnerte Sebastian sich, Langenbach, der als Lehrer vor allen Schülern erklärt hatte, er, Sebastian Sebaldt, gehöre einer untergehenden Klasse an und der dann mit allen Mitteln versucht habe, schon seine Grundschulkarriere zu ruinieren. Langenbach, dieser einstige HJ-Fähnleinführer, Afrika-Korps-Kämpfer und spätere SED-Parteisekretär der Schule, den alle Kollegen fürchteten, war dann derjenige gewesen, der ihn mit seinem Hass endgültig politisch geweckt hatte: Heiligtümer des Stalinismus … Er hatte sich in sie vertieft und nur Ausgrenzung, Unterdrückung und Vernichtung gefunden, schlecht verpackt in sprachlichem Kitsch aus Wolkenkuckusckheim wie er das nannte. Wenn etwas untergeht, hatte er sich gesagt, dann dieser unbegrenzte Machtanspruch, an dem auch Hitler schon zu Recht gescheitert war.

      Doch jetzt saß er an diesem Tisch und seine Mutter litt darunter, ihn so sehen zu müssen in dieser gezeichneten Kluft. Seine Schwestern, erzählte sie noch, hätten beide nach der 8.Klasse eine Lehre als Schaufensterdekorateure begonnen.

      „So etwas ähnliches hatte ich mir schon gedacht“, sagte Sebastian.

      Und irgendwie war dann diese halbe Stunde auch verflogen. „Die Zeit ist um!“, verkündete der Zensor und erhob sich auffordernd. „Verabschieden Sie sich.“

      In den Augen seiner Mutter erblickte Sebastian Tränen und sie tat ihm sehr leid.

      „Mach dir keine Sorgen“, versuchte er zu trösten, „ich stehe das hier schon durch.“ Aber das waren eben auch nur Worte und er ahnte in seiner angespannten Lage den Schmerz der Mutter nicht wirklich. Er sah seine Situation wie unter einem Blitzlichtstrahl ohne Zeit, alles gleichermaßen vor Augen: Die stark beengten äußerst primitiven Verhältnisse, in denen er wohl Jahre würde verbringen müssen, wovon die Mutter zum Glück nichts wusste, wie etwa das mit dem Kübel für die Notdurft in den überbelegten Zellen, der für jeweils vier Menschen ausreichen musste und dass das nur möglich sein konnte, wenn alle diesen Kübel zu bestimmten Zeiten der Reihe nach hintereinander benutzten. Sonst ginge da nichts, denn geleert wurde dieser stets randvoll erst wieder am Abend.

      An heißen Sommertagen etwa war die schweiß- chlor- und uringesättigte Luft in den Zellen förmlich zu schneiden. Doch von all dem konnte seine Mutter nichts wissen, die ihren Sohn in einer „Löwengrube“, betrauerte, wie immer sie diese sich auch vorstellen mochte.

      Sagen konnte er ihr dazu nichts. Aber es sei schon gut, dachte er, dass die Familie draußen von den Verhältnissen hier drinnen nichts wusste; doch die Genossen Volksrichter und Staatsanwälte wussten recht gut Bescheid, über die mittelalterlichen Zustände in ihrem humanen Strafvollzug. Dann verließ Sebastian den ‚Sprecherraum‘, drehte sich an der Tür noch einmal um, sah seine Mutter mit Tränen in den Augen am Tisch sitzen und winkte ihr zu. „Grüß alle von