also ein Frauenmörder.“ Daraufhin ging er ans aufgeklappte Zellenfenster, starrte hinaus und klammerte sich dabei mit beiden Händen an den Gitterstäben fest.
Schon einen Tag später wurde Eberhard Meier als nun endgültig bestätigter Totschläger aus der Revisionszelle verlegt.
„Du bleibst ja hier auf Station“, wurde er tröstend verabschiedet, als er mit seinem Sachenbündel in den Armen die Zelle verließ.
Kapitel 6
Nach verregneten Wochen und einigen folgenden feuchtheißen Tagen, die den Gefangenen in den Zellen die ohnehin schon knappe Luft zum Atmen nahmen, setzte Anfang Juni wieder Regen ein.
Für Fußballspiele hatten sich Sebastian wie auch Totila draußen nie interessiert.
Sie wussten nur, dass zu einer Mannschaft elf Spieler einschließlich Torhüter gehörten; das war’s im Grunde auch schon. Seit Tagen aber ging ein von den Kalfaktoren in Gang gehaltenes Raunen durch die Zellen: Die westdeutsche Mannschaft stehe im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Bern, gegen die Mannschaft der Volksrepublik Ungarn. Da wurde den beiden Freunden schon klar, dass es dort um mehr als nur ein Fußballspiel ging. Vor allem nahm die Mannschaft der kapitalistischen Bundesrepublik zum ersten Mal nach dem verlorenen Krieg wieder an einer Weltmeisterschaft teil und war, wider Erwarten so mancher Nation, bis ins Endspiel gelangt. Die Symbolik war nicht aus der Welt zu schaffen. Der entscheidende Tag rückte näher und das Raunen wurde lauter, denn es mischten sich nun auch die Schließer mit ein. Es wunderte niemanden, dass sie ausschließlich den Ungarn die Daumen drückten und sich von deren Sieg überzeugt gaben. Von einigen wenigen Häftlingen abgesehen, in aller Regel Spitzel oder solche die sich von laut vorgebrachten Äußerungen für Ungarn dummerweise etwas versprachen, standen die Gefangenen, einschließlich krimineller, soweit die sich äußerten, hinter der bundesdeutschen Elf. Deren Sieg wurde in den Zellen ersehnt und beschworen.
Fernsehen gab es zwar schon, wenn auch weniger in der DDR, aber dort behalf man sich statt dessen mehr mit Radioübertragungen, natürlich auch in den Wachstuben von Zuchthäusern und Gefängnissen.
Am Tage der Entscheidung sei es in Bern, wie von den Kalfaktoren auf den Fluren zu hören war, recht regnerisch und deshalb von Vorteil für die deutsche Mannschaft. So hieß es wenigstens. Weshalb das so sein sollte, konnte in der Zelle niemand sagen.Vom Spielverlauf drang dann auch kaum etwas zu den Gefangenen. Selbst die Kalfaktoren hatten nichts zu berichten, denn von den wenigen Schließern, die sich während des Spiels hin und wieder kurz auf den Gängen zeigten, war über dessen Verlauf im fernen Bern ganz offensichtlich nichts zu erfahren.Und keiner konnte deshalb auch wissen, wann dieses Spiel zu Ende sein würde. Bei einem Unentschieden gäbe es ja Verlängerungen und schließlich auch noch das Elf-Meter-Schießen … Sebastian, der zufällig am Fenster stand und daraus eben so zufällig hinunter auf den Hof blickte, sah dort einen Hofarbeiter neben einem Parterrefenster und einer Wassertonne an der Wand des Krankenreviers lehnen. Das war nichts von Bedeutung und Sebastian hätte sich vom Fenster auch bald wieder abgewandt, wenn er nicht im letzten Moment, gerade noch eben aus den Augenwinkeln, diesen Hofarbeiter gesehen hätte, wie der plötzlich die geballten Fäuste in den Himmel stieß und dann mit einem Satz in die volle Wassertonne sprang.
Diese Handlung ließ nur einen Schluss zu. Sebastian wandte sich in die Zelle um.
„Deutschland hat gewonnen“, sagte er. „Eben ist dort unten ein Hofarbeiter in eine volle Regenwassertonne gesprungen.“
Die andern drei stürzten ebenfalls ans Fenster, aber da stand der Hofarbeiter plitschnaß bereits wieder neben der Tonne
„Woher konnte der das wissen?“, fragte Totila.
„Na wenn jemand in eine volle Wassertonne springt“, entgegnete Sebastian, „dann wird er’s gewusst haben. Ich denke, das wird ihm einer durch’s Parterrefenster im Revier geflüstert haben. Er stand ja dort neben dem letzten Fenster gegen die Wand gelehnt.“ „Ich meine auch“, meldete der Ingenieur sich, „wenn einer zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine Wassertonne springt, dann sagt das etwas über den Zeitpunkt aus. Und was ist im Moment für uns alle hier wichtig? Also wird es schon stimmen: Deutschland ist Fußballweltmeister. Ein für Nachkriegsdeutschland wichtiges Ereignis“, setzte er nachdenklich hinzu.
Auch Sebastian freute sich darüber. „Noch wissen wir’s nicht genau“, sagte er.
Aber weshalb ein Spiel, also ein Fußballspiel, so wichtig für Deutschland sein sollte, das konnte er sich nicht erklären.
Durch’s enge Fenster fiel der Blick Sebastians von seinem Hocker am Tisch aus in regenschwere tiefhängende Wolken. Davor hatte es wieder mal wenige feuchtheiße Tage mit Sonnenschein gegeben, sodass vor allem an den Abenden nebliger Dunst aufgestieg, um dann jeden Morgen als Hochnebeldecke grau und trist über dem Land zu liegen. Spät, meist erst gegen Mittag, gelang es der Sonne diese Nebeldecke aufzulösen. Dann hatte auch bald wie schon Wochen zuvor der Regen wieder eingesetzt. Durchs Fenster fiel nur wenig trübes Licht.
Es gab eine Gefangenenbibliothek und es gab Bücher, aber kein Verzeichnis über die Bestände. Und so wurden etwa alle drei Wochen bei der Vier-Mann-Belegung der Zelle wahllos vier Bücher von einem Wagen abgeladen, auf dem sonst Suppenkessel transportiert wurden, und in die Zelle gegeben. Wer kein Buch wollte, brauchte das bloß zu sagen.
Sebastian hatte eines dieser Bücher, einen sowjetischen Heldenroman, auf sein Bett geworfen. Im hinteren Teil der Zelle war es inzwischen zu dunkel geworden, um noch lesen zu können. Im Gang zwischen den Betten direkt unter dem Fenster saßen Totila und ein Neuzugang lesend über Bücher gebeugt. Dazu reichte das Licht gerade noch. Der Ingenieur hockte auf einem Schemel gegen den kalten Heizkörper gelehnt, schwieg und starrte abwesend auf die zerkratzte olivgrüne Ölfarbe der Wand. Keiner sprach ein Wort.
Es war ein Nachmittag, Anfang Juli 54, als das Krachen eines Schlosses ganz in der Nähe die Zelleninsassen aus ihrer Versunkenheit riß.
„Das ist ja genau gegenüber …“, sagte Totila und alle lauschten an der Tür und hörten dort die Stimme eines Schließers: „Lassen sie die Sachen ruhig liegen.“, und nach kurzer Pause: „Da wo Sie jetzt hinkommen brauchen Sie keine Sachen mehr.“
„Das ist doch der Anstaltsleiter“, flüsterte Totila.
Dann vernahmen sie Schritte mehrerer Personen und das Klirren von Metall auf Metall, schließlich wieder das Krachen eines Schlosses, das Schmettern des Riegels und das verlorene Poltern eines einzelnen Holzschuhpaares, Schritte die sich entfernten … Das Schließgeräusch und Klappern der Gittertür zur Treppe war noch zu hören und das Klacken der Holzsohlen auf den Granitstufen, dumpfer, und weiter und immer weiter weg …
Alle in der Zelle standen wie versteinert.
„Das war doch der Fluglehrer“, sagte Sebastian leise mit seltsam gepreßter Stimme.
„Pfui Deibel!“, empörte der Ingenieur sich. „Du hast Recht“, wandte er sich an Sebastian, „diese Stimme kenne ich. Das ist das Schwein, der Anstaltsleiter. Die Sprüche hätte er sich weiß Gott ersparen können.“
„Wo bringen die den hin? fragte Totila.
„Nach Dresden“, antwortete der Ingenieur. „Das habe ich vom Kalfaktor“, fügte er hinzu, als alle ihn fragend ansahen. „Da steht noch die Nazi-Guillotine, das ist bekannt.“
„Mann oh Mann! Der hatte Mut und wirklich was gewagt“, warf Sebastian ein und spürte dabei wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken bis in die Haarwurzeln kroch und Wut in ihm aufstieg. „Unter die Guillotine gehören ganz andere!“, stieß er hervor.
Totila und der Neuzugang stimmten ihm energisch nickend zu.
Dagegen bin ich ein winzig kleines Licht, ging es ihm durch den Kopf. Dieser Fluglehrer ist für die Freiheit, die Freiheit des einzelnen in der Demokratie, mit seinem Leben eingetreten. Vielleicht hört sich das kitschig an, sagte er sich, aber nur, weil mit diesen Begriffen überall Schindluder getrieben wird.
„Unter