Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle


Скачать книгу

mehr als rar in der Weltgeschichte. Ich würde sagen, das gibt es nicht. Es sei denn, es ließe sich politisch ausschlachten und missbrauchen, aber mit Würdigung hätte das dann nichts mehr zu tun.“

      „Mag sein“, sagte Sebastian und nickte zustimmend. Dann lief er im Gang zwischen den Betten die wenigen Schritte ein paar Mal auf und ab und ließ sich dann auch auf den ihm zustehenden Hocker fallen.

      Alle saßen dann an diesem regentrüben Nachmittag auf ihren Schemeln am Tisch, gegen den Heizkörper oder einen Bettpfosten gelehnt, starrten bedrückt vor sich hin, das Kinn auf der Brust wie etwa der Ingenieur und schwiegen.

      Jeder mehr oder weniger angerührt vom Schicksal des eben aus der Zelle geholten Todeskandidaten: Dort wo Sie jetzt hinkommen, brauchen Sie keine Sachen mehr …

      Nach Dresden, ging es Sebastian durch den Kopf, zur Hinrichtungsstätte der Nazis. Was für eine Fahrt im Grotewohl-Express, in diesem engen Metallkasten.

      Alles was dann noch geschieht ist so ziemlich das Letzte im Leben … Vielleicht noch die kommende Nacht, vielleicht noch ein nächster Morgen … Dieses ganze selbstgerechte Verbrechergesindel, sagte er sich und hielt es auf seinem Hocker kaum noch aus. Immer wieder kochte Wut in ihm hoch. Ein, zwei Stunden Laufen, Bewegung, dann würde es ihm besser gehen, aber in der Enge dieser Zelle konnte er nur sitzen bleiben auf diesem Hocker oder sich mit drei, vier Schritten hin und her faktisch im Kreise drehen.Wenn überhaupt laufen, dann mussten es, die Hocker auf den Tisch gestapelt, alle tun. Doch nicht allen war offensichtlich nach diesem Schock zum Laufen zu Mute.

      Nach einer Weile gab der Neuzugang, ein wegen aufhetzerischer Reden nach Artikel 6 zu acht Jahren verurteilter junger Chemiker, zu bedenken, dass das mit dem Fluglehrer ganz sicher eine scheußliche Sache sei. „Aber ich habe“, fuhr er dann fort, „von noch Irrsinnigerem gehört. In Leipzig“, sagte er, „ich hatte dort an der Uni gerade mein Examen gemacht, so im Oktober fünfzig, als ein jüngerer Kommilitone verraten wurde: Herbert Belter. Ich kannte ihn nur vom Sehen.

      Der hatte Flugblätter aus dem Westen verteilt und wurde geschnappt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wahrscheinlich auch in Dresden, setzte er hinzu.

      Und das war längst nicht der einzige.“

      „Herbert Belter?“, sagte Totila und schüttelte den Kopf, „hab’ ich nie gehört.“

      „Davon hat bisher überhaupt niemand was gehört“, stimmte Sebastian seinem Freund zu. „Auch im Westen wird so was unter den Teppich gekehrt. Man will ganz offensichtlich eine Empörung der Bevölkerung vermeiden.“

      „Empörung?“ Totila schüttelte den Kopf. „Das glaubst doch nur du. Denen im Westen ist das alles viel zu weit weg. Und wenn die von solchen Geschichten hören sollten, dann ist das dort irgendwo bei den Russen passiert. Und vom Todeskadidaten hier, von seinem Schicksal, wird kaum jemand was erfahren.“

      „Ich denke, wenn einer so was tut“, warf Sebastian ein, „dann sollte er das nur, wenn er’s auch für sich selber tut.“

      „Das ist logisch“, bestätigte Totila diese Überlegung.

      „Aber Flugblätter, damit hatten wir ja nebenbei auch zu tun“, warf Sebastian nach einigem Schweigen ein. „Und wir sind, ich denke nachträglich kann man das durchaus so sagen, ganz glimpflich davon gekommen. Also ich meine, die Kirche hat uns allein schon mit dem Erscheinen ihrer führenden Vertreter bei der Gerichtsverhandlung geholfen.“

      „Das mit der Kirche ist wahrscheinlich richtig“, ließ der junge Chemiker sich hören. „Andererseits aber verstehen die Russen da keinen Spaß und die habt ihr ja, wie ich von euch hören konnte, hauptsächlich im Visier gehabt. Die DDR hat euch immerhin nicht ausgeliefert. Vielleicht hat euch auch das mit das Leben gerettet.“

      Totila nickte nachdenklich. „Ich denke das auch nur, weil ihnen die Kirche im Wege stand. Mit einem Todesurteil, muss ich allerdings zugeben, hatte ich nicht gerechnet.“

      „Ich eigentlich auch nicht wirklich …“, sagte Sebastian. „Fünfzehn Jahre, damit musste man schon rechnen. Und lebenslänglich?“ Er hob die Schultern, „Auch“, sagte er. „Aber Todesstrafe?“ Er schüttelte den Kopf.

      „Die hatten schon genau so junge Kerle hingerichtet. Dann war euer ganzes Handeln aber ziemlich leichtsinnig“, sagte der Chemiker. „Der Fluglehrer“, fuhr er fort, „der wusste bestimmt was er wagte.“

      „Niemand wird’s ihm danken“, warf der Ingenieur dazwischen. „So geht’s nun mal in der Politik zu. Man hat euch ja im viel gelobten Westen auch nicht gesagt, dass auf euch auch die Guillotine oder der Genickschuß warten könnte. Das gab’s schon für weniger und für noch jüngere Grünschnäbel als euch.“

      Dass man dem Tod möglicherweise nicht so ganz ferne gestanden haben könnte, ließ jedenfalls Sebastian denn doch heimlich eine Gänsehaut über Rücken und Arme laufen. Was hattee dieser Sasse sich bei seinem Verrat eigentlich gedacht … Eine Karriere über die Leichen seiner Freunde?

       Kapitel 7

      Wochen waren vergangen. Sebastian und Totila waren eines Tages miteinander von der Revisionszelle in eine Zelle endgültig verurteilter Strafgefangener verlegt worden. Das war dann ganz ohne jedes Aufsehen geschehen.“

      „Der Schwindel ist aufgeflogen“, hatte Sebastian das lediglich kommentiert.

      „War doch längst zu erwarten. Die hatten nach Monaten bei Gericht nachgefragt und nun sind wir hier.“ Totila wies dazu mit großartiger Geste in die leere Zelle. „Bloß wir beide“, er drehte sich einmal um sich selbst, „und so großzügige Wohnverhältnisse.“

      „Schön wär’s. Mal seh’n was wir hier reinkriegen …“

      Und schon am nächsten Tag waren wieder zwei Neue mit ihren Bündeln in den Armen eingezogen.

      Bei dem häufigen Kommen und Gehen, diesem ständigen Wechsel in den Zellen, trafen zwar viele Menschen aufeinander, aber nur wenige lernten sich dabei wirklich kennen. Sebastian war klar geworden, dass er nach Jahren ein Panoptikum von Gesichtern und Gestalten würde aufrufen können, für die es in seiner Erinnerung aber keinen dauerhaften Ort geben dürfte. Man saß manchmal aber auch wochenlang mit älteren und jüngeren Männern Tag und Nacht ohne Abstand auf engstem Raum zusammen, also in überbelegten Zellen, in denen man Nahrung zusammen einnahm und zusammen auch wieder ausschied, in einem stets streng einzuhaltenden zeitlich geregelten Rhythmus.

      Und so drang schließlich wieder mal das dröhnende Geräusch abgestellter Metallkübel zuvor schon im Eingangsbereich des Zellenhauses und nun auf die Fliesen am Treppenabsatz der Station.

      „Schon wieder Mittag“, sagte einer.

      Danach folgte auch bald das Krachen der Schlösser den Gang entlang und das Schmettern der Riegel von Tür zu Tür.

      Zwei Kalfaktoren schoben einen verbeulten khakifarbenen KVP-Kübel auf einem flachen Karren über den Gang von einer Zelle zur nächsten. Dort standen dann alle Insassen zusammengedrängt mit ihren Aluminiumnäpfen vor der offenen Zellentür. Einer der Kalfaktoren schöpfte schließlich heiße wässrige Weißkohlsuppe in die hingehaltenen Schüsseln. Jeder stellte seinen Napf dann schleunigst auf dem Tisch ab, verzog das Gesicht und pustete auf die schmerzenden Fingerspitzen. Aber noch bevor alle mit Händeschwenken und Pusten fertig waren krachte auch schon die Türe wieder ins Schloss und Riegel klirrten davor.

      „Wenn der Fraß mal so gut wäre wie er immer heiß ist“, murrte einer.

      Ein anderer fauchte: „Heißes Wasser“, und rührte dazu mit dem Löffel im Napf herum.

      „Demnächst gibts heiße Luft“, schimpfte ein anderer.

      „Ein Pfund Knochen auf hundert Liter Wasser. Wenn das so weiter geht, wirste krank“, wandte er sich an Sebastian, der erst vor drei Tagen mit Totila neu in diese Zelle verlegt worden war, setzte sich auf einen Schemel, zog ein Hosenbein hoch und drückte mit dem Daumen auf die nackte