sagte sie: »Ich bin nun bereit, dir in die Schweiz zu folgen. Mein Gemahl, der Doge, ist sehr grob und gewalttätig gegen mich, ohne jedes Feingefühl. Er verwechselt Liebe mit Besitz. Einen dringenden Wunsch habe ich aber noch. Lass mich meine alleinstehende Mutter mitnehmen.«
»Selbstverständlich kann sie uns begleiten.« Das Blut des Wohlwollens durchströmte meine Adern. Mein ganzes Denken war, Sarina von diesem Tyrannen zu befreien. Dann sagte ich zu ihr: »Ich darf dir aber nicht verheimlichen, dass wir auf unserer Reise nach Falein auch auf Schmuggler, Wilderer oder Wegelagerer treffen könnten. Viele Menschen benutzen die Wege der Alpen von Nord nach Süd. Das macht das Reisen oft unangenehm und gefährlich. Bist du dir sicher, dass du das alles auf dich nehmen willst?« Sarina schaute mich aus ihren großen rehbraunen Augen an. »Ja, ich will alle Strapazen und Gefahren auf mich nehmen, mein Geliebter, um bei dir zu sein und mit dir zu leben.«
Fieberhaft bis ins letzte Detail, versuchte ich jetzt unsere Reise vorzubereiten. Über das Adriatische Meer vom Golf di Venezia nach Triest, Richtung Südtirol, schien mir eine gute Wegstrecke zu sein.
Das Adriatische Meer ist hier weniger stürmisch. Durch das Etschtal über den Karawanenweg zwischen Italien und der Schweiz, wollte ich unsere neue Heimat Falein ob Filisur erreichen. Dort, so hoffte ich, würden wir in Zukunft frei und geborgen sein.
Ohne bemerkt zu werden, konnte Sarina den Palast verlassen. Ihre Mutter trafen wir am Hafen, von wo wir mit einer Barke das Meer überquerten. Auf dem Festland ging es nur langsam vorwärts. Die Bergwege in der Schweiz sind steinig und mühevoll zu gehen, die Nächte im Freien kühl. Die Frauen trugen zum Glück warme Kleider wie die Bergbäuerinnen.
Lange Baumwollröcke und Kapuzenumhänge aus Wolle, dazu Bundschuhe mit dicken Gummisohlen.
Ich trug Beinlinge und über dem Hemd einen Baumwollgugel mit Kapuze aus Wollfilz, dazu lange Stiefel. Meine Last auf dem Rücken war ein dick geschnürtes Bündel mit Decken und Proviant. Diese Decken breitete ich, wenn nötig, bei Tag und Nacht für uns aus.
Oft saßen wir da wie staunende Kinder, begeistert von den gigantischen Bergen, von der außergewöhnlichen Alpenflora, von Gämsen, Murmeltieren, Adlern und vielen uns unbekannten Tieren. Die Bäume verwischten sich beim Eindunkeln zu bizarr-seltsamen Formen wie bei einer Theaterkulisse. Am Morgen weckte uns der Sonnenglast über den Bergen. Wir waren glücklich. Es gab nur noch einen engen Tobel zu durchwandern und wir waren am Ziel.
Im Palast hatte man inzwischen das Fehlen der Dogaressa bemerkt. Den Dogen überkam die Wut wie ein Feuer des Wahnsinns. Dass es diese Frau wagen konnte, ihm zu widerstehen, zu fliehen. Sofort eilte er zu ihrer engsten Vertrauten, ihrer Dienerin. Er presste den Fluchtweg regelrecht aus ihr heraus, indem er sie mit harten Strafen bedrohte. Seine Herrenmacht hatte er verloren, das durfte er nicht dulden! Sofort ließ er seinen treuen Palastwächter rufen, einen ausgezeichneten Soldaten. »Sie haben den Auftrag, mir unter allen Umständen, die Dogaressa zurückzubringen, und sei es mit Gewalt. Das ist ein Befehl!«
Tenore und die Frauen sahen das Ziel schon vor sich, als am Ende des Tobels breitbeinig ein Wächter stand, wie der Teufel aus dem Ort der Verdammnis.
Sarina kannte ihn. Schon oft hatte sie erlebt, wie skrupellos er war. Angst kroch in ihr hoch.
»Stehen bleiben, keinen Schritt weiter«, rief er laut! Jetzt wussten sie, dass sie in der Falle saßen.
»Gib mir Sarina her, der Doge verlangt, dass ich sie zurückbringe, oder ich schlage dir den Schädel ein«, rief er lautstark dem Tenore zu.
Der Stämmige versperrte ihm den Weg. Sarina zitterten die Knie. Der kalte Schweiß lief über ihr Gesicht. Ihre Mutter stand blass wie Wachs vor Schreck neben ihr. »Lauft weiter, lauft so schnell ihr könnt«, rief Tenore den Frauen zu. »Ich werde euch einholen.« Furchtlos trat er auf den muskulösen Klotz zu, schob ihn mit aller Kraft zur Seite und wollte den Frauen folgen, als ihn von hinten ein harter Schlag auf den Kopf niederstreckte. Der Soldat schlug mit einem vierkantigen Stein auf Tenores Hinterkopf. Mit einem lauten Knall fiel er zu Boden. Die Frauen hörten den Knall. Die Mutter rief: »Lass uns umkehren, wir müssen Tenore helfen!«
Als Sarina vor ihrem Liebsten stand, sah sie, dass Tenore tot war. Es war grauenhaft!
Blut quoll aus seinem Schädel und bedeckte die Erde, sie konnte es kaum auffangen. Ein quälender Schrei drang aus ihrem Mund. Noch nie hatte ihre Mutter Sarina so schreien hören. »Was haben sie getan! Was haben sie meinem Liebsten angetan«, rief sie immer wieder.
Der Schmerz durchbohrte sie wie ein glühendes Messer, das ihr in die Brust gestoßen wurde. Der Soldat lachte nur höhnisch. Er berührte den Toten voller Abscheu.
»Euch beide erwartet eine ganz spezielle Züchtigung des Dogen, wenn wir zurückkehren.« Wieder lachte er spöttisch. Da wussten die beiden Frauen, was sie tun wollten.
Sarina zeigte auf ihren Ringfinger und schaute dabei ihre Mutter an. Diese nickte. »Ich hätte dich so gerne glücklich gesehen, mein Kind, ich hätte sanfter geruht.«
»Wie gerne hätte ich mit Tenore gelebt, aber das Martyrium des Dogen ist schlimmer als der Tod.« Sarina öffnete den Ring, indem sie ein kleines Rädchen drehte. Innen wurde ein weißes Pulver sichtbar, Zyankali, ein stark giftiges Kaliumsalz der Blausäure. Bittermandelgeruch stieg in ihre Nasen.
Zusammen nahmen sie das weiße Pulver. Sie umschlossen sich fest mit den Armen und drückten sich zärtlich aneinander. Als der Soldat aufbrechen wollte, sah er, dass etwas mit den Frauen nicht stimmte. Beide hatten blaue Lippen, ihre Haut hatte sich bläulich verfärbt und die Fingernägel waren schwarz. Aber ihre Gesichter strahlten Ruhe und Frieden aus. Der Tod schickte seine Boten. Kaltblütig wie der Soldat war, ärgerte ihn nur, dass er für drei Menschen ein Grab schaufeln muss.
Ein Tag, flüchtig wie ein Tautropfen, kann alle schönen Zukunftspläne verändern oder zunichtemachen.
Kleines Alltagserlebnis
Mein Arbeitsplatz ist an der Uni Freiburg. Heute war wieder ein besonders anstrengender, turbulenter Tag. Ich beschloss deshalb, nach Feierabend noch ein Stück durch den Park zu spazieren. Das hilft mir meist, um Abstand zu gewinnen von den oft traurigen Patientenschicksalen.
Ein frisches Lüftchen wehte. Tief atmete ich ein und aus und fühlte mich gleich viel besser.
Ich liebe den Park mit seinen alten Bäumen und Sträuchern. Besonders hübsch ist es momentan: Es ist alles voll von Blumen und blühenden Pflanzen.
Spaziergänger sah ich keine. Nur eine ältere Frau ging etwa 100 Meter vor mir her, mit ihrem Rollator. Sie ging schleppend und gebückt. Kaum hatte ich sie überholt, rief sie laut. »Stopp, stopp!« Ich drehte mich um und fragte: »Meinen Sie mich?«
»Ja, ja«, sagte sie. »Sehen Sie die drei roten Fahnen?« Aufgeregt hob sie den rechten Arm und zeigte nach vorne.
»Nein, ich sehe keine drei roten Fahnen.«
»Doch, Sie müssen die drei roten Fahnen sehen.« Verneinend schüttelte ich den Kopf.
»Ich kann nicht mehr! Ich kann nur bis hierher und nicht weiter«, jammerte die betagte Frau. »Ich bin todmüde! Bitte helfen Sie mir!« Sie fing an zu schluchzen. Ich sah, dass die Frau in einem schlechten Zustand war. »Wo wohnen Sie denn?«, fragte ich sie.
»Im Seniorenheim.«
»Gut, ich habe mein Handy dabei und werde dort anrufen, dass man sie abholt.«
Nun vergoss die Frau noch mehr Tränen. »Nein«, sagte sie immer wieder, »dass dürfen Sie nicht tun, sonst darf ich nicht mehr ausfahren.«
»Wohnen vielleicht Kinder von Ihnen in der Nähe?«
»Nein, mein einziger Sohn lebt in Hamburg.«
Inzwischen wusste ich, wo die drei roten Fahnen wehten,