Grete Ruilre

Wiederbelebte Geschichten


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ihren Rollator. Glücklicherweise war es ein breites Exemplar.

      »Eine Möglichkeit haben wir, wie ich Sie zurückbringen kann. Sie setzen sich auf den Ruhesitz des Rollators und ich fahre sie langsam zurück zum Seniorenheim. Es ist zwar eine heikle Sache, denn die Füße müssen Sie dabei etwas anheben.«

      Ihr Gesicht bekam sofort einen hoffnungsvollen Ausdruck. »Ja, lassen Sie uns das ausprobieren«, meinte sie.

      Ich drehte den Rollator Richtung Seniorenheim und hob die müde Frau auf die Sitzbank. »Festhalten am Gestänge!«, befahl ich. Vorsichtig fuhren wir los. Zu meinem Erstaunen genoss sie die außergewöhnliche Rückfahrt. »Ach, ist das lustig«, rief sie immer wieder. »Es macht so viel Spaß!« Unbekümmert wie ein kleines Kind, thronte sie auf dem erhöhten Sitz. Das Müdesein schien spurlos verschwunden.

      Die drei roten Fahnen flatterten im Wind, als wir näherkamen. »Gleich sind wir da«, sagte ich. »Sehen Sie auch die drei roten Fahnen?«

      »Ja, aber sehr undeutlich, denn auf dem linken Auge bin ich fast blind. Ach, war das schön mit Ihnen! Heute haben wir gemeinsam den Rollator-Führerausweis bekommen, nicht wahr?«, strahlte sie. Wir sahen uns an und mussten so heftig lachen, dass uns die Tränen kamen. Beim Abschied versprach ich der alten Dame, sie auf alle Fälle wieder zu besuchen.

      Der Tagtraum

      Endlich saß er im Zug.

      Es war knapp. Die Räder fingen an zu rollen.

      Sein braunes Vuitton-Lederköfferchen stellte er neben sich auf den Sitz.

      Gerd war ein Mann in den besten Jahren, schlank und groß gewachsen, mit lebhaften braunen Augen und dunkelbraunen, buschigen Haaren. Er war sportlich-elegant gekleidet. Auffallend, seine geliebte rote Krawatte von Brioni auf dem weißen Hemd.

      »Ach, bin ich müde!«, dachte er. »Die letzten Tage im Büro waren stresserfüllt.«

      Die Sonne schien durch das Fenster ins Abteil. Kurzerhand zog er das Rollo herunter.

      »Schlafen, schlafen, nichts als schlafen, möchte ich.« Er schloss ein wenig die Lider, dachte an sie. Chantal – die Frau die er schon lange begehrte. Sie ist blond, hat ein schönes Dekolleté und ist sehr sexy. Im Halbschlaf hörte er sie flüstern: »Je t’aime, je t’aime!« Ja, alles was ich brauche ist Liebe.

      Seine Augen fielen ihm vollends zu. Er träumte, war im siebten Himmel. Sie war bei ihm, die Geliebte. Sie schmuste mit ihm, küsste ihn leidenschaftlich mit ihren vollen roten Lippen. Es wurde ihm so heiß, dass er den Schlipsknoten seiner roten Krawatte lockerte. Das war der Anlass für die Geliebte, ihm das Hemd zu öffnen. Sie ließ ihre zarten Finger über seinen Körper gleiten, presste sich eng an ihn. Ihre Wärme war sehr wohltuend. Wie zärtlich sie war und wie gut sie roch! »Pass auf, Gerd«, ging es ihm durch den Kopf, »sonst bist du nicht mehr Herr deiner Sinne.« Dieser liebliche Duft ist sehr erregend! Er spürte, wie sein Herz hämmerte.

      Sein Atem ging schneller. Er genoss die Liebkosungen, das Verlangen nach ihr wuchs. Seine Männlichkeit machte sich bemerkbar.

      Dann – ein Ruck! Im Halbschlaf dachte er: »Jetzt hat der Zug angehalten.«

      Die Abteiltür ging auf und wieder zu.

      Ein erneuter Ruck. Der Zug fuhr an.

      Durch einen harten Plumps auf seinen Schoss, wurde er schlagartig hellwach.

      Ein kleines Hutzelmännchen saß auf seinem Schoss. Verschämt und erschrocken murmelte es leise: »Entschuldigung!« Er richtete sich sofort auf, platzierte sich Gerd gegenüber und betrachtete ihn eingehend. Nach einer Weile sagte er: »Sie haben eine extravagante Krawatte an, mit einem außergewöhnlichen Rot.«

      Obwohl er mich auf unsanfte Art in die Realität zurückholte, konnte ich ihm absolut nicht böse sein.

      Colette

      Endlich konnte ich die langweiligen Bankgeschäfte hinter mir lassen: Ich war Leiterin einer Nobel-Boutique in Zürich geworden. Mode und Menschen liebe ich. Die Aufgaben waren vielseitig. Das Betreuen der Kunden, das Kassenwesen, das Dekorieren der Schaufenster, organisieren von Modeschauen und vieles mehr. Das sorgte für Abwechslung. Die war gut für mich. Die Zeit verging wie im Flug. Eines Tages stellte sich die Einkäuferin unserer verschiedenen Boutiquen vor: Eine äußerst attraktive, große brünette Dame, ungefähr vierzig Jahre alt. Sie war unterwegs nach Mailand, Florenz und Paris, um für die Boutiquen die ausgefallensten Modelle für die neue Saison einzukaufen. Designer wie Max Mara, Ungaro, Samt-Phil oder zeitloses Chanel waren immer gefragt. Die Kundinnen waren wählerisch.

      Persönlichkeiten aus Film und bekannte Damen der vornehmen Zürcher Gesellschaft kauften bei uns ein. Meine Arbeit war interessant. Unsere Chefin betonte immer wieder: »Sie müssen unsere Kundinnen kennen!« Das hieß: Öffnete eine die Ladentür, so musste immer ihr Name präsent sein.

      Colette, die Einkäuferin, traf ich hin und wieder im nahen Café. Sie erzählte mir von einer Fernsehserie. Ich muss gestehen, dass ich nur mit halbem Ohr zuhörte. Colette ließ diese Serie scheinbar nicht mehr los. Unaufhörlich kam sie darauf zu sprechen, vor allem auf die blonde Hauptdarstellerin, die sie besonders bewunderte, in ihrer Eleganz und Ausstrahlung. Colette war total entzückt von ihr. Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass sie begann, sich mit dieser Frau zu identifizieren. War mein Gedanke absurd? Sie war doch eine kluge Frau?

      Dann kam der entscheidende Tag! Die blonde Schauspielerin trug ein besonders schönes Spitzennegligé. In diesem herrlichen Outfit empfing sie ihre Besucher aus der Männerwelt. Jeder, der sie so sah, musste sie umwerfend schön finden. Nun begann bei Colette eine verrückte Suchjagd nach diesem transparenten »Hauskleid«. Zuerst fragte sie bei Beldona nach. Nacheinander folgten weitere Geschäfte für noble Unterwäsche. Aber das gesuchte Dessous konnte Colette nirgends finden. Jedes Mal kam sie desillusioniert und geknickt zurück. Inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, ob es tatsächlich der blonde Vamp war, mit dem sie sich identifizierte, oder war es nur deren zarte Bekleidung? Ich konnte in Erfahrung bringen, dass diese hübsche Frau von ihrem Ehemann geschieden wurde und andere Männer ihr blitzschnell den Rücken kehrten. Die Suche nach Zuneigung geht manchmal wundersame Wege. Oder wäre das Leben nicht glücklicher und sinnvoller, wenn die eigene Identität behalten würde?

      Der schwarze Punkt

      Meine Eltern hatten viel übrig für die »Schönen Künste«. Jahrelang erneuerten sie ihr Jahresabonnement für das Zürcher Opernhaus. Ich durfte sie als kleines Mädchen manchmal begleiten.

      Damals trugen die Damen noch lange Abendkleider, ausgefallenen Schmuck und feine Schuhe. Selbst die Herren kleideten sich elegant. Man wurde noch zu den samtig ausgepolsterten Logenplätzen hinbegleitet. Von hier aus bestaunte ich jedes Mal den funkelnden, von Ornamenten eingefassten Kronleuchter. Der Raum schien mir voller Geheimnisse.

      Die Handlungen begriff ich nicht immer, doch die Schauspieler und vor allem ihre Kostüme fand ich bezaubernd. Es war märchenhaft! Ein spezielles Ambiente.

      Was ich nie vergessen werde: Vater holte mir in der großen Pause am Theaterbüfett jedes Mal eine Portion Vanilleglace, übergossen mit heißen Himbeeren. Das war köstlich!

      Als ich erwachsen wurde und einen Beruf erlernen sollte, stand für mich fest: Ich werde Theaterschneiderin und Designerin.

      Meine Eltern waren nicht verwundert. Ausbildung und Beruf erfüllten mich, verliehen meiner Fantasie Flügel.